Die Pandemie hat uns einen neuen Zeitgenossen beschert – den ›Corona-Leugner‹. Wo etwas geleugnet wird, gibt es eine Wahrheit, die verdeckt, verfälscht oder verneint wird. Schon beim Begriff ›Klimawandel-Leugner‹ drängte sich die Einsicht auf, dass uns eine gemeinsame Welt abhanden gekommen ist, in der man auf der Grundlage allseits anerkannter Fakten verschiedene Meinungen haben und unterschiedliche Ansichten vertreten kann. Die Rede von Corona- und Klimawandel-Leugnern verweist auf die Existenz von Gegenwelten. Das Spektrum reicht von tendenziell paranoischer Wissenschaftsskepsis bis hin zur Negation anerkannter Tatsachen. Wie der Holocaust-Leugner, der den Völkermord der Nationalsozialisten an den Juden in geschichtsrevisionistischer Absicht abstreitet, ruft der Begriff des Corona-Leugners nicht zuletzt auch moralische Entrüstung hervor. Sie macht sich breit, wenn man aus den Medien erfährt, dass die ›Corona-Leugner‹ bereits Ansätze zu einer ›Parallelgesellschaft‹ ausgebildet und Infrastrukturen des Alltags ohne G-Regeln mit eigenen Job- und Partnervermittlungen geschaffen hätten. Als Parallelgesellschaft, die sich von der Mehrheitsgesellschaft abschottet, erscheint die Gegenwelt bedrohlich, weil dort Normen unterlaufen oder sogar ›Recht und Ordnung‹ außer Kraft gesetzt werden. Von den Ein- und Ausschlussmechanismen, die diese Begriffe nicht nur beschreiben, sondern ihrerseits auch verstärken können, profitieren besonders diejenigen, in deren Interesse eine gesellschaftliche Polarisierung liegt.
Als eine populistische Politik, zu deren Mitteln die unverhohlene Täuschung zählt, mit dem Brexit und der Trump-Wahl in westlichen Demokratien historische Wendepunkte herbeiführte, fanden sich plötzlich nicht nur dystopische Romane wie George Orwells 1984 oder Margaret Atwoods The Handmaid’s Tale international auf den Bestsellerlisten wieder. Auch Hannah Arendts Analyse totalitärer Herrschaft hat seither Konjunktur. Während ideologisch abgeriegelte Diktaturen und Unrechtsstaaten unerwünschte Fakten und Meinungen einfach unterdrücken, verdankt sich die Nivellierung der Unterschiede zwischen mehr und weniger plausiblen Meinungen in ›postfaktischen Demokratien‹ auch der freien Zirkulation oft kurzlebiger Inhalte. Dabei können Fakt und Fiktion gerade unter den neuen medialen Bedingungen gleichsam hybridisiert werden: durch Auslassungen oder durch die Anordnung von Informationen und Behauptungen nach narrativen Mustern, die Glaubwürdigkeit erzeugen sollen.
Von der Gegenwelt im Sinne eines utopischen Gegenbilds und politischen Gegenentwurfs ist heute selten die Rede, also davon, dass die Dinge nicht nur anders, sondern auch besser sein könnten. Als Karl Mannheim 1929 Ideologie und Utopie in seinem gleichnamigen Buch nebeneinander stellte, wollte er darauf hinweisen, dass sowohl die Ideologie wie auch der utopische Gegenentwurf das Gegebene transzendieren und darum inkongruent mit der Wirklichkeit sind. Um Ideologie und Utopie zumindest im Rückblick auseinanderzudividieren, unterschied Mannheim zwischen einer die Wirklichkeit verschleiernden und einer die Wirklichkeit verändernden Funktion. Einerseits erscheint der gegenwärtige Mangel an utopischen Gegenwelten somit als ein implizites Einverständnis mit dem Status quo. Andererseits können heutige Verschwörungserzählungen, diese Ausgeburten einer häufig aus alten Ressentiments gespeisten Fantasie, als kompensatorische Reaktionen auf den Verlust gruppenspezifischer Privilegien gelesen werden.
Medien, die sich als ›Alternative‹ zu der von ihnen sogenannten ›Lügenpresse‹ inszenieren, haben sich die Rhetorik der Entlarvung längst zu eigen gemacht. In der lautstarken Opposition gegen die vermeintlich ideologische Verblendung der gesellschaftlichen Mehrheit liegt die Möglichkeit, sich in der Rolle des ›Andersdenkenden‹ zu behaupten. Befreiungsgesten lassen sich dann besonders gut inszenieren, wenn der öffentliche Diskurs, wie im Fall von Coronapandemie und Klimakrise, als Verbotsdiskurs denunziert werden kann. Eine Diskussion, etwa über verschiedene Freiheitsbegriffe, ist unter diesen Umständen nicht mehr möglich.
Gegenwelten destabilisieren und stabilisieren ihr Gegenüber zugleich. Angesichts der Unterminierung und Zerschlagung institutioneller Strukturen während der Trump-Präsidentschaft stellt sich die Frage, wie andere Formen (selbst-)kritischer Gegenentwürfe aussehen könnten. Dass utopisches Denken nicht notwendig auf eine strikte Absetzung von der Wirklichkeit angewiesen ist, hat jüngst Kim Stanley Robinsons Roman The Ministry for the Future (2020) unter Beweis gestellt. Dort gelingt die Abwendung einer globalen Klimakatastrophe mithilfe einer im Multilateralismus verankerten UN-Institution, die zugleich mit einer eigenen Geheimorganisation im Ministerium entgegen ihren bürokratischen Prinzipien operiert. Die Abschaffung des neoliberalen Kapitalismus gelingt bei Robinson sowohl in Zusammenarbeit mit dem globalen Bankensystem wie gegen dieses. Was aber heißt es, wenn die Abwendung des worst case scenario heutzutage schon das Zeug zur (literarischen) Utopie hat, wie Robinson freimütig anerkennt? Wenn eine abfallende statistische Kurve von Infektionszahlen oder CO2-Werten zum Inbegriff von Hoffnung wird?
Das ZfL wird sich in den nächsten drei Semestern mit historischen und zeitgenössischen Gegenwelten befassen, mit ihrer Konstitution in medialen Zusammenhängen und ihren literarischen bzw. künstlerischen Darstellungsformen sowie ihren Funktionen als Wunschbilder, Projektionsräume und Gegenentwürfe.
Die Germanistin Eva Axer ist aktuell stellvertretende Direktorin des ZfL und verfolgt das Forschungsprojekt »Erzählstrategien der Zeitraffung im 20. und 21. Jahrhundert«. Ihr Beitrag wurde erstmals als Editorial des Faltblatts »Jahresthema 2022/23, Gegenwelten« veröffentlicht.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Axer: ZfL-Jahresthema 2022/23 – Gegenwelten, in: ZfL BLOG, 26.4.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/04/26/eva-axer-zfl-jahresthema-2022-23-gegenwelten/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220426-01