Franziska Thun-Hohenstein: ANDREJ TARKOVSKIJS »SOLARIS«. Ein Wiedersehen

I.

Ende 1972, vielleicht war es auch Anfang 1973, lief im Hauptgebäude der Moskauer Lomonossow-Universität eine Voraufführung von Andrej Tarkovskijs Spielfilm SolarisAuf einer Forschungsstation über dem riesigen Ozean des Planeten Solaris soll der Psychologe Chris Kelvin dabei helfen, seltsame Vorgänge aufzuklären. Die Wissenschaftler werden dort von menschlichen Wesen ›besucht‹, die Projektionen ihrer eigenen quälenden Erinnerungen sind. Ohne die Aussicht, das Rätsel des Ozeans je zu lösen und ins Vaterhaus auf der Erde zurückzukehren, bleibt Kelvin schließlich auf der Station.

Ich hatte das Glück, bei der einmaligen Filmvorführung dabei zu sein.[1] Aus der DDR kommend, war ich damals Studentin der russischen Sprache und Literatur an der Lomonossow-Universität und wohnte im Wohnheim in einem Seitenflügel des markanten Stalinhochhauses auf den Sperlingsbergen, die damals Leninberge hießen. Das genaue Datum vermag ich nicht mehr zu rekonstruieren. Der Kinoabend ist mir allerdings schon durch seine ungewöhnlichen äußeren Umstände in Erinnerung geblieben. An Eintrittskarten gelangten meine Freunde und ich nur, weil die russische Freundin eines DDR-Promotionsstipendiaten an der Kasse aushalf. Der Andrang unmittelbar vor der Aufführung war enorm. Im Innern, im Vestibül des Kulturhauses, das sich im Hauptgebäude befindet, versuchte berittene Miliz der von außen immer weiter nachdrängenden Massen Herr zu werden. Ihr Anblick erschreckte mich, obwohl kaum mehr als ein oder zwei Pferde in den Raum gepasst haben konnten. „Franziska Thun-Hohenstein: ANDREJ TARKOVSKIJS »SOLARIS«. Ein Wiedersehen“ weiterlesen

Matthias Schwartz: PROSA DER VERSTÖRUNG. Zum 100. Geburtstag von Stanisław Lem

I.

Als Stanisław Lem am 27. März 2006 im Alter von 85 Jahren in Krakau starb, schien sein Stern bereits im Sinken zu sein. Seine Bücher hatten Millionenauflagen erzielt und er war neben Ryszard Kapuściński der weltweit erfolgreichste polnische Autor, mit Übersetzungen in mehr als 40 Sprachen. Aber angesichts des Zusammenbruchs des Realsozialismus, einer krisenhaften neuen Weltordnung sowie der sich abzeichnenden Klimakatastrophe wirkten seine Spekulationen über die fantastischen Irrungen der Menschheit seltsam anachronistisch. Konnte er noch in den 1970er Jahren als erster Science-Fiction-Autor auf den Literaturnobelpreis hoffen, hatte der selbsterklärte Prophet der ›Phantomologie‹ in Zeiten der digitalen Revolution und virtuellen Realität einem Publikum, das in erster Linie mit der neoliberalen Sorge um das emanzipierte Selbst und der radikalen Infragestellung aller tradierten Identitäts- und Geschlechterordnungen beschäftigt war, anscheinend nichts mehr zu sagen. Der alte weiße Mann aus Polen hatte den Anschluss an die Gegenwart verloren. „Matthias Schwartz: PROSA DER VERSTÖRUNG. Zum 100. Geburtstag von Stanisław Lem“ weiterlesen