Aurore Peyroles: KÜNSTLICHKEIT UND KUNSTERFAHRUNG

I.

In der Haupthalle des Pariser Musée d’Orsay schwebte 2021 ein riesiger Bildschirm, auf dem rätselhafte Bilder zu sehen waren: Eis­schollen, aus denen Feuersäulen aufsteigen, Mondlandschaften mit Pfützen in bizarren Farben, Geisterschiffe, die über Packeis gleiten, aber auch Blumen mit doppelten Stempeln, die wie geklont aussehen und eine Art postapokalyptisches Herbarium bilden. Im Kontext der Ausstellung Les ori­gines du monde. L’invention de la nature au XIXe siècle (Die Ur­sprünge der Welt. Die Erfindung der Natur im 19. Jahrhundert) er­öffnete Artificialis, eine eigens für das Museum entworfene Präsentation des Films von Laurent Grasso, neue Perspektiven auf unsere heutige Welt – eine Welt, in der die Idee einer eigenständigen Natur, wie sie im 19. Jahrhundert Konjunktur hatte, nicht mehr gültig ist, eine Welt, in der nichts mehr ursprünglich und in der es nicht nur sinnlos, sondern praktisch unmöglich geworden ist, das Natürliche vom Künstlichen zu trennen. „Aurore Peyroles: KÜNSTLICHKEIT UND KUNSTERFAHRUNG“ weiterlesen

Claude Haas: ZUR LAGE DER LITERATUR NACH DEM UNTERGANG IHRER KÜNSTLICHKEIT IN DER KÜNSTLICHKEIT

I.

Bekenntnisse zur Künstlichkeit waren in der Literatur der Moderne lange Zeit an der Tagesordnung. Wie in der bildenden Kunst sind es in der literarischen Tradition vor allem Natur und Wirklichkeit, gegen die Künstlichkeit in Stellung gebracht wird.[1] »In meinen Büchern ist alles künstlich«, befand einst der selbsterklärte Naturhasser Thomas Bernhard.[2] Der Betonmarxist Peter Hacks legte in seinen Überlegungen zum »Poetischen« die »Nichtidentität mit der Wirklichkeit« als »Merkmal jeglicher Kunst« fest, »auch der gegenständlichsten«.[3] In der bürgerlichen Kunst des 18. Jahrhunderts hatte man dies noch ganz anders gesehen. Dem Rousseauismus, der Empfind­samkeit und dem Sturm und Drang war Künstlichkeit ästhetisch und moralisch zuwider. Historisch betrachtet erweisen sich Künstlichkeit und Natürlichkeit als äußerst variable Zuschreibungen. Während Shakespeares Dramen Johann Gottfried Herder und dem jungen Goethe etwa als »Natur« galten,[4] wird ihre weltliterarische Geltung heute umgekehrt in ihrer Theatralität und Künstlichkeit erblickt. Auch weil es um Werturteile ging, waren die Debatten um Künstlichkeit in der Literatur lange Zeit von Animositäten und Polemik geprägt.

„Claude Haas: ZUR LAGE DER LITERATUR NACH DEM UNTERGANG IHRER KÜNSTLICHKEIT IN DER KÜNSTLICHKEIT“ weiterlesen

Georg Toepfer: KÜNSTLICHKEIT UND NATÜRLICHKEIT. Das Ende einer Entzweiung

I.

In Zeiten des Anthropozäns ist die Künstlichkeit überall. Ihr Gegenteil, die einstmals als Gegenwelt inszenierte Natürlichkeit, gibt es nicht mehr – weder materiell geschieden als ein menschenfreier Raum, noch ideell als eine Vorstellung frei von kulturellen Voraussetzungen und Sehnsüchten. Die gegenwärtige Anrufung und Beschwörung der Natur ist offenbar nur ein Ausdruck dieses Verlusts. Auch im Anderen der Natur finden wir doch vor allem uns selbst: »Das Draußen ist zu einem einzigen Drinnen geworden.«[1] Wenn unser Drinnen aber universal geworden ist, wir als Menschen in allem stecken, sind mit der Aufhebung der polaren Gegenüberstellung von Kunst und Natur auch diese Pole selbst verschwunden. „Georg Toepfer: KÜNSTLICHKEIT UND NATÜRLICHKEIT. Das Ende einer Entzweiung“ weiterlesen