Benjamin Kohlmann/Ivana Perica: DER POLITISCHE GEBRAUCH UND NUTZEN VON LITERATUR

»Erst der neue Zweck macht die neue Kunst«, erklärte Bertolt Brecht in seinem kurzen Essay Über Stoffe und Formen von 1929.[1] Formuliert als Begründung für die Entwicklung seiner Lehrstücke um 1930, liefert Brechts Äußerung einen Zugang zu den Debatten über den politischen Nutzen von Literatur nicht nur in der Zwischenkriegszeit, sondern auch in unserer Gegenwart. Obwohl die Äußerung den Anschein eines unerschütterlichen künstlerischen Dogmas hat, verbleibt sie in einer ambivalenten Schwebe zwischen zwei scheinbar konträren Positionen in Bezug auf die eigentlichen Verpflichtungen engagierter Kunst. Einerseits scheint Brechts Satz auf dem absoluten Vorrang des politischen Engagements vor ästhetischen Belangen zu bestehen, indem er suggeriert, dass die inneren Funktionsweisen der Literatur notwendigerweise einem äußeren (d.h. politischen oder gesellschaftlichen) Zweck untergeordnet sind; andererseits behauptet er, dass Politik für den Künstler nur insofern von Wert ist, als sie eine radikale Umgestaltung der Muster und Formen der Kunst ermöglicht. Anders ausgedrückt: Künstlerische Innovationen scheinen ohne eine vorherige Verpflichtung auf (politische oder gesellschaftliche) Zwecke, die als außerhalb der Kunst liegend vorgestellt werden, undenkbar zu sein. Doch gleichzeitig muss, was die Arbeit des Schriftstellers betrifft, der Wert dieser ›vorherigen‹ Verpflichtungen an ihrem Vermögen gemessen werden, neue ästhetische Formen hervorzubringen. Brecht zufolge birgt die Frage nach den Verpflichtungen der Kunst eine unauflösbare Dialektik: Kunst und politischer Zweck sind einander nicht äußerlich, ihre Beziehung ist nicht durch Konflikt oder gegenseitigen Ausschluss gekennzeichnet, sondern vielmehr durch das Versprechen schöpferischer Reibung und gegenseitiger Bereicherung. „Benjamin Kohlmann/Ivana Perica: DER POLITISCHE GEBRAUCH UND NUTZEN VON LITERATUR“ weiterlesen

Hanna Hamel: LIZENZ ZUR LÜGE IM ANGESICHT DES NAHEN TODES. High­smith und Houellebecq über Literatur

Auf meinem Schreibtisch liegen zwei Romane. Beide sind recht umfangreich, und die Lektüreerfahrungen ähneln sich. Nach der Hälfte stellt sich ein Gefühl von Enge ein; die Lust, die Bücher zu Ende zu lesen, nimmt ab. Aber obwohl das Erzählte zeitweise in verfestigten Bahnen zu laufen scheint, die ausweglosen Abläufe und möglichen Szenarien in der Lektüre fast absehbar sind, bleibt die Neugier – denn das kann es nicht gewesen sein, nicht bei dieser Autorin, nicht bei diesem Autor. Ab einem gewissen Moment, eher im letzten Drittel der Texte, bricht die enge Alltäglichkeit des erzählten Lebens angesichts unerwarteter Geschehnisse dann auch tatsächlich zusammen. Spätestens mit den abschließenden Seiten müssen das gesamte Erzählgeschehen und seine zentralen Figuren neu bewertet werden. Bei den zwei Büchern handelt es sich um Patricia Highsmiths Ediths Tagebuch (engl. Edith’s Diary, 1977) und Michel Houellebecqs gerade erschienenes Vernichten (frz. Anéantir, 2022).[1] „Hanna Hamel: LIZENZ ZUR LÜGE IM ANGESICHT DES NAHEN TODES. High­smith und Houellebecq über Literatur“ weiterlesen

Sarah Pourciau: THE EMPTY CANVAS: Daniel Kehlmann’s “Tyll” and the Origins of Modernity

At the exact midpoint, to the page, of Daniel Kehlmann’s 2017 novel Tyll, there appears, for the first time, the figure of an empty canvas, which will come to govern the remainder of the work. The canvas is a gift bestowed by the eponymous fool-artist, Tyll Ulenspiegel—whom Kehlmann has transplanted from the 14th to the 17th century, from Germany’s medieval literary tradition to the baroque—upon his recently-acquired patron, the exiled Elizabeth Stuart of England, “Winter Queen” of Bohemia, wife of the “Winter King” Friedrich V of the Palatinate. Friedrich’s decision to proclaim himself King of Bohemia, a title he held for only a year (hence the derisive nickname “Winter King”), marked the beginning of the Thirty Years War that tore up much of Europe between 1618 and 1648; it is against this backdrop of historical chaos that Kehlmann narrates Tyll’s trajectory, in a series of isolated, chronologically disordered episodes. „Sarah Pourciau: THE EMPTY CANVAS: Daniel Kehlmann’s “Tyll” and the Origins of Modernity“ weiterlesen