Benjamin Kohlmann/Ivana Perica: DER POLITISCHE GEBRAUCH UND NUTZEN VON LITERATUR

»Erst der neue Zweck macht die neue Kunst«, erklärte Bertolt Brecht in seinem kurzen Essay Über Stoffe und Formen von 1929.[1] Formuliert als Begründung für die Entwicklung seiner Lehrstücke um 1930, liefert Brechts Äußerung einen Zugang zu den Debatten über den politischen Nutzen von Literatur nicht nur in der Zwischenkriegszeit, sondern auch in unserer Gegenwart. Obwohl die Äußerung den Anschein eines unerschütterlichen künstlerischen Dogmas hat, verbleibt sie in einer ambivalenten Schwebe zwischen zwei scheinbar konträren Positionen in Bezug auf die eigentlichen Verpflichtungen engagierter Kunst. Einerseits scheint Brechts Satz auf dem absoluten Vorrang des politischen Engagements vor ästhetischen Belangen zu bestehen, indem er suggeriert, dass die inneren Funktionsweisen der Literatur notwendigerweise einem äußeren (d.h. politischen oder gesellschaftlichen) Zweck untergeordnet sind; andererseits behauptet er, dass Politik für den Künstler nur insofern von Wert ist, als sie eine radikale Umgestaltung der Muster und Formen der Kunst ermöglicht. Anders ausgedrückt: Künstlerische Innovationen scheinen ohne eine vorherige Verpflichtung auf (politische oder gesellschaftliche) Zwecke, die als außerhalb der Kunst liegend vorgestellt werden, undenkbar zu sein. Doch gleichzeitig muss, was die Arbeit des Schriftstellers betrifft, der Wert dieser ›vorherigen‹ Verpflichtungen an ihrem Vermögen gemessen werden, neue ästhetische Formen hervorzubringen. Brecht zufolge birgt die Frage nach den Verpflichtungen der Kunst eine unauflösbare Dialektik: Kunst und politischer Zweck sind einander nicht äußerlich, ihre Beziehung ist nicht durch Konflikt oder gegenseitigen Ausschluss gekennzeichnet, sondern vielmehr durch das Versprechen schöpferischer Reibung und gegenseitiger Bereicherung.

Dies entspricht nicht der Art und Weise, in der die Literaturwissenschaft traditionell über die Beziehung der Literatur zur Sphäre der Politik nachgedacht hat. Sie hat vielmehr dazu geneigt, den Versuch, Kunst als politische Arbeit zu begreifen, als Kategorienfehler zu betrachten – als eine von außen herangetragene Zumutung, die beiden schadet: der Kunst und der Politik. Um nur ein besonders prominentes Beispiel zu nennen: Der marxistische Literatur- und Kulturkritiker Fredric Jameson prägte die These, dass die Politik literarischer Werke auf der Ebene eines textuellen Unbewussten angesiedelt sei. Er plädierte dafür, Politik nicht im Sinne einer manifesten oder expliziten Zielsetzung zu denken, sondern argumentierte, dass die Politik ästhetischer Gegenstände am besten anhand der Beziehungen zwischen den verschiedenen formalen und Gattungsmerkmalen eines Textes beschrieben werden kann. Das politische Unbewusste zeigt sich ihm zufolge »not by abandoning the formal level for something extrinsic to it – such as some inertly social ›content‹ [or political ›purpose‹] – but rather immanently, by construing purely formal patterns as a symbolic enactment of the social within the formal and the aesthetic«.[2] Demnach wäre die Politik eng mit der Textur des literarischen Werks selbst verwoben. Indem die Literatur die Politik in die Form sublimiert, trägt sie sie als ihren immanenten oder intrinsischen Subtext in sich.

Wenn wir verschüttete literaturgeschichtliche Genealogien wiederherstellen, um der theoretischen Untersuchung alternative Wege aufzuzeigen, orientieren wir uns an neueren Bemühungen, ausgewählte Episoden politisierten Schreibens nicht als literaturgeschichtliche Anomalien zu betrachten, sondern als Schlüsselmomente in der Konfiguration der Beziehung zwischen Literatur und Politik – als einflussreiche Epizentren interventionistischer Kunst, von denen aus Debatten über Literaturpolitik und Praktiken engagierten Schreibens in neue und global ausgedehnte Kontexte ausstrahlen können.[3] Die von uns vorgeschlagene Periodisierung verbindet experimentell drei Perioden intensiv politisierter und aktivistischer Kunst und Schriftstellerei: die Zwischenkriegszeit, die langen 1960er Jahre und die Gegenwart. Damit sollen alternative Traditionen sichtbar gemacht werden, die Raymond Williams zufolge oft an den Rändern des Jahrhunderts zurückgelassen wurden.[4] Diese Periodisierung verzichtet auch bewusst darauf, eine einzige oder eindeutige Geschichte politisierter Literatur nachzuzeichnen. Die Verknüpfung der Zwischenkriegszeit mit den langen 1960er Jahren und unserer Gegenwart macht jedoch sichtbar, was der Künstler und Kunsttheoretiker Gregory Sholette kürzlich als »fragmented and boisterous reservoir of past interventions« bezeichnet hat.[5] Sholette betont die unautorisierte und nicht formalisierte Qualität dieses Reservoirs. Er spricht auch von einem nichtkanonisierten »phantom archive of activist art, overflowing with interventions, experiments, repetitions, compromises, minor victories and outright failures«.[6] Und er vermutet, dass die Gründe für die Fragmentierung dieses verschütteten Archivs – und auch für einen großen Teil seiner Ungebärdigkeit – in der hochgradig partikularen Natur der aktivistischen Kunst liegen, d.h. in der Intensität, mit der sie auf die spezifischen Situationen und historischen Momente eingeht, in die sie zu intervenieren versucht.

Gerade in dem letztgenannten Sinne bietet Brechts Bemerkung einen wertvollen Einblick in die umfassendere Problematik, die uns beschäftigt. Denn sie scheint zwar eine allgemeine Wahrheit über die Beziehung zwischen Literatur und Politik zu verkünden, dürfte aber wohl besser als unmittelbare Reaktion auf die sich verdüsternde politische Atmosphäre der späteren Weimarer Republik zu verstehen sein – den Aufstieg des Faschismus, die ›Klasse-gegen-Klasse‹-Politik der Kommunistischen Partei (KP), das Verbot des Roten Frontkämpferbundes (der paramilitärischen Organisation der KP) durch die regierenden Sozialdemokraten und die anschließende Denunziation der Sozialdemokraten als Sozialfaschisten durch die KP. In den Augen Brechts und seiner Mitstreiter*innen erforderten diese Entwicklungen eine neue Art von interventionistischer, aktivistischer Kunst, die in der Lage wäre, die Massen zu erziehen – eine pädagogisch-künstlerische Waffe, die zu der neuen Phase des politischen Kampfes passte und die seine Lehrstücke liefern sollten.

Der Fall Brecht zeigt, dass bestimmte literarisch-politische Konstellationen nicht ohne Berücksichtigung ihrer unmittelbaren (historischen, geographischen, sozialen, politischen, aber auch ästhetischen) Kontexte zu verstehen sind. Ausgehend von der Einsicht, dass Kunst ohne ihre konstitutive Ausrichtung auf einen bestimmten Ort oder eine bestimmte historische Situation, in die sie zu intervenieren versucht, unverständlich bleibt, argumentieren wir, dass eine neuerliche wissenschaftliche Debatte über den politischen Gebrauch und Nutzen von Literatur nicht davon absehen kann, die Logik der Ortsbezogenheit offenzulegen, die Kunst kennzeichnet, die im weitesten Sinne politisch ›nützlich‹ sein will. Dies verlangt von der wissenschaftlichen Arbeit, sich intensiv mit spezifischen lokalen Situationen auseinanderzusetzen und Werke zu untersuchen, die in breitere historische Zusammenhänge intervenieren. Ein Beispiel: Während der kanonische Sartre’sche Begriff der littérature engagée eine dezisionistische Betonung impliziert – d.h. die Fähigkeit des Menschen, sich aus freien Stücken für diese oder jene Sache zu engagieren[7] –, vermittelt Antonin Artauds Konzept der culture orientée (entwickelt in seinen Messages révolutionnaires) eine unauslöschliche anthropologische Orientierung gegenüber der Welt, eine quasi physische Positionierung, die auch für alle Arten von literarisch-politischem Engagement grundlegend ist. In diesem letztgenannten Sinne kann die lokale Erkundung des politischen Nutzens von Literatur zu einem umfassenderen Verständnis ihres interventionistischen Potentials führen, nicht als historische Sackgasse oder Verirrung, sondern als grundlegende Modalität künstlerischer Produktion als solcher.

Neue Verpflichtungen: Literaturwissenschaft und der politische Nutzen von Literatur

Die Literaturwissenschaft interessiert sich seit Langem für die Politik des Schreibens. Vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit wurde dabei allerdings Werken zuteil, die explizit versuchen, in ihre jeweiligen historischen Produktions- oder Rezeptionskontexte einzugreifen –  als ob diese einen zu engen Fokus auf einen bestimmten, fremden ›Zweck‹ hätten, um künstlerisch von Bedeutung zu sein. Viele der Wissenschaftler*innen, die den politischen Nutzen von Literatur verteidigen, greifen auf bewährte Argumente aus dem 20. Jahrhundert zurück, in denen es um die Art und Weise geht, wie politische Verpflichtungen literarischer Texte in ihren formalen Merkmalen kodiert werden. Andere gehen davon aus, dass die Auseinandersetzung von Literatur mit der Politik am besten als eine Form der Metapolitik zu verstehen sei, d.h. dass literarische Werke insofern politisch sind, als sie die hegemonialen gesellschaftlichen Protokolle verfremden, Formen politischer Sichtbarkeit schaffen oder politische Unsichtbarkeit erzwingen.[8] Zwar haben einige Wissenschaftler*innen in jüngster Zeit damit begonnen, spezifischer über den ›Nutzen‹ nachzudenken, den Literatur in den verschiedensten Kontexten hat, doch operieren sie dabei in der Regel mit einem pragmatischen Verständnis des Konzepts ›Nutzen‹. Wissenschaftler*innen wie Rita Felski argumentieren, dass Literatur in dem Maße nützlich sei, wie sie ein individuelles (affektives oder intellektuelles) Bedürfnis befriedigt. Aus diesen Überlegungen sind zwar viele wichtige Arbeiten hervorgegangen, doch diese haben dazu geführt, dass die Frage nach dem explizit politischen Nutzen von Literatur in den Hintergrund gedrängt wurde. Durch die Ablehnung der Binarität zwischen der Skylla des politischen Funktionalismus und der Charybdis der Kunst um der Kunst willen[9] haben Wissenschaftler*innen in jüngerer Zeit die unterschiedlichen Zwecke aus den Augen verloren, denen literarische Texte im Kontext der zahllosen sozialen und politischen Bewegungen gedient haben, die sich ›da draußen‹ entwickeln.

Die Literaturtheorie hat ein umfangreiches kritisches Vokabular entwickelt, um die Frage des direkten Handelns oder der instrumentellen Nutzbarmachung aus der akademischen Beschäftigung mit Literatur zu verdrängen. So schreibt Gabriel Rockhill in einer bemerkenswerten neueren Studie, es sei »crucial to rethink the operative logic of political efficacy outside of the instrumentalist framework«; stattdessen müssten wir die Handlungsversuche der Literatur im Kontext einer komplexen »conjuncture of determinants with multiple tiers, types, and sites of agency« verstehen.[10] Dem zweiten Teil dieser Aussage stimmen wir vollkommen zu: Politisches Handeln ist immer komplex, und was es für einen Text bedeutet, ›zu intervenieren‹ und politisch aktiv zu werden, hängt von dem jeweiligen historischen Zeitpunkt und der jeweiligen Situation ab. Den ersten Teil dieser Aussage möchten wir jedoch noch etwas komplexer fassen, da wir der Meinung sind, dass die Literaturwissenschaft es versäumt hat, über die Anziehungskraft nachzudenken, die der instrumentalistische Rahmen auf Schriftsteller*innen ausübt, die versuchen, ihren Werken politische Wirksamkeit und Absicht zu verleihen. Mit den folgenden Fragen muss sich die zeitgenössische Literaturwissenschaft daher auseinandersetzen: Wie verhalten sich bestimmte literarische Werke zur machtvollen und attraktiven Vorstellung einer direkten instrumentellen Handlungsfähigkeit? Wie versuchen manche, diese umzusetzen, während andere sich bemühen, ihrer Anziehungskraft zu widerstehen?

Diese Fragen stehen durchaus im Widerspruch zu einigen der Leitideen, die die Literaturwissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts im Allgemeinen und die Weltliteraturforschung im Besonderen geprägt haben. Die Idee der Weltliteratur – von der ersten Formulierung des Konzepts durch Johann Wolfgang von Goethe bis hin zu ihren verschiedenen Nachleben, z.B. in den nach wie vor sehr einflussreichen Arbeiten von Pascale Casanova, Gayatri Chakravorty Spivak oder David Damrosch – hat allzu oft dazu gedient, die komplexe lokale Verstrickung der Literatur in die praktische Politik in den Hintergrund zu drängen oder ganz zu verneinen. In diesem Zusammenhang haben Teile der Forschung die Möglichkeit einer »ästhetischen Bildung im Zeitalter der Globalisierung« – d.h. die Erweiterung der ethischen Vorstellungskraft der (›westlichen‹) Leser*innen – in den Vordergrund gestellt, was auf Kosten einer detaillierteren Betrachtung der Art und Weise ging, wie sich radikale Politik in einer Vielzahl historischer Situationen und geographischer Gegebenheiten abspielt.[11]

Diese ›Säuberung‹ des aktivistischen, explizit politischen Wirkens von Literatur hat im Übrigen auch in selbsterklärt linken Theoriekreisen stattgefunden, vor allem in der festgefahrenen Konfrontation zwischen Formalismus und Marxismus bzw. zwischen Avantgarde und Realismus, für die Theoriegrößen wie Theodor W. Adorno und Georg Lukács stehen. Mit der Kanonisierung dieser Konfrontation erstarrten die Pole, und in der Folge vergaß man, wie problematisch und historisch kontingent diese Binaritäten von Anfang an gewesen waren. Wie Joe Cleary feststellte, wurden Modernismus und Realismus ab den 1930er Jahren als verdinglichte Kategorien und als unhinterfragbare Bezeichnungen für die moderne ›Weltliteratur‹ zugleich produziert: Während die Sowjetunion den Realismus für sich beanspruchte, nahm New York sich (mit großzügiger Unterstützung aus Washington) des Modernismus an.[12] Wenn wir Clearys Weltsystem-Perspektive erweitern, wird deutlich, wie das Vorgehen, einen formal innovativen, aber weitgehend selbstbezogenen Modernismus gegen einen künstlerisch rückwärtsgewandten, aber gesellschaftlich aktiven Realismus auszuspielen, in wichtigen linken Beiträgen zur Debatte über Literatur und Politik implizit bestätigt wird. Hierfür gilt Aesthetics and Politics, die wegweisende Anthologie von 1977, die Schlüsseltexte zur Realismus-Modernismus-Debatte der 1930er Jahre (unter anderem von Ernst Bloch, Adorno und Lukács) versammelt, als Paradebeispiel. Der Band ist zwar das Standardwerk für mehrere Generationen von Literaturwissenschaftler*innen zu diesem Thema, hat aber unser Verständnis der literaturhistorischen Landkarte, die wir hier wiederherstellen wollen, dramatisch verengt. Es ist ein unbeabsichtigter Effekt der Sedimentierung und Kanonisierung solcher theoretischer Konstrukte, dass sie dazu neigen, bestimmte Gegensätze zu enthistorisieren und sie als natürlich oder als ontologisch gegeben und nicht als gesellschaftlich produziert darzustellen. Infolgedessen hat die strenge Dichotomisierung der künstlerischen Debatten, die die Jahre des Kalten Krieges kennzeichnete, viele Wissenschaftler*innen dazu verleitet, irreführende oder verkürzte Ansichten über den politischen Nutzen von Literatur zu übernehmen. Obwohl wir die zentralen Konzepte Realismus und Modernismus hier keiner systematischen oder umfassenden Revision unterziehen wollen und können, schlagen wir eine alternative Konfiguration der Beziehung zwischen ihnen vor: Einerseits erscheint der literarische Realismus nicht als eine einzelne Form, sondern definiert sich vielmehr durch das, was er in der Welt zu leisten vermag;[13] andererseits wurden formale Experimente, wie sie oft mit der Moderne in Verbindung gebracht werden, selbst allzu oft im Dienste des ›realistischen‹ Projekts zur Kartierung und Befragung gesellschaftlicher Totalität benutzt.

Vor diesem Hintergrund schlagen wir vor, die Diskussion über das politische und aktivistische Potential der Literatur neu zu eröffnen, indem wir sowohl einzelne literarische Werke betrachten als auch breitere theoretische Debatten über die Fähigkeit der Literatur, in die gesellschaftliche Realität einzugreifen, wieder aufnehmen. Wir sehen unseren Vorschlag von einer wachsenden Zahl wissenschaftlicher Arbeiten bestätigt, die sich mit dem langen kulturellen (Nach-)Leben und den globalen Verflechtungen der Literaturproduktion in der transnationalen Welt der Komintern sowie in den kolonialen Peripherien in Vergangenheit und Gegenwart befassen.[14] So haben wir große Sympathie für die jüngsten Bemühungen der Autor*innen des von Amelia Glaser und Steven Lee herausgegebenen Sammelbandes Comintern Aesthetics, »[to] unearth a lost genealogy for present-day activism, demonstrating ways of connecting the local and the global, the personal-as-political and world revolution«.[15] Ähnlich inspirierend sind Forschungsarbeiten zu antikolonialer Literatur, darunter z.B. jene von J. Daniel Elam, der versucht, den Geist eines egalitären Internationalismus wiederzubeleben,[16] und Sonali Perera, die in ihrer Untersuchung eines literarischen Internationalismus der Arbeiterliteratur feststellt, dass die Schriften der Arbeiterklasse aus verschiedenen Teilen der Welt mehr Gemeinsamkeiten aufweisen, als zumeist angenommen wird.[17] Offenbar haben wir es heute mit einer Art nichtformalisierter Internationale engagierter Schriftsteller*innen zu tun, deren Werke zu einem gemeinsamen Projekt des politischen Wandels und der Erneuerung beitragen. In den Händen dieser Schriftsteller*innen erscheint Literatur nicht in erster Linie als Ware, die mit anderen Waren um die begrenzte Aufmerksamkeit potentieller Konsument*innen konkurriert – wie es beispielsweise in Casanovas Modell des weltliterarischen Systems der Fall ist –, sondern als ein Medium der Weltgestaltung, das sich für größere politische Projekte gemeinschaftlicher Weltgestaltung öffnet.

Diese Projekte sind literarisch, wissenschaftlich und politisch. Sie können sich auf wichtige neue Studien stützen, die die Aufmerksamkeit auf interventionistische Künste lenken, die in den Räumen zwischen den ›westlichen‹ Literaturen und den Literaturen des antikolonialen Widerstands auf der ganzen Welt entstehen. Uns ist klar, dass die Literatur des Globalen Südens oftmals direkte Allianzen mit politischen Bewegungen gesucht hat (und immer noch sucht) – und dass solche Allianzen für jede Darstellung des politisierten Schreibens im Kontext der Globalisierungsprozesse des 20. und 21. Jahrhunderts zentral sind.[18] Wie wir bereits festgestellt haben, sollte diese horizontale Ausdehnung über verschiedene geographische Räume und Schauplätze hinweg stets durch die Hervorhebung von Affinitäten ergänzt werden, die sich diachron, d.h. über mehrere markante historische Momente hinweg manifestieren (wofür das oben erwähnte revolutionäre Schreiben der Zwischenkriegszeit und die engagierte Literatur der langen 1960er Jahre nur die prominentesten Beispiele sind). Anstatt jedoch anzunehmen, dass sich diese lokalen Affinitäten und diachronen Korrespondenzen zu ununterbrochenen historischen Kontinuitäten oder einheitlichen Teleologien verfestigen, möchten wir sie im Sinne einer Konstellation oder Montage begreifen: Mit Blick darauf, wie linke Filmemacher wie Chris Marker auf die Montage zurückgegriffen haben, um die (Dis-)Kontinuität revolutionärer Traditionen zu vermitteln, sollten die einzelnen literaturwissenschaftlichen Bereiche jene lokalen Ausprägungen aktivistischer Kunst untersuchen, die in der Lage sind, über die Zeit hinweg miteinander zu sprechen.[19] Die literarisch-aktivistischen Konstellationen, die ein solches wissenschaftliches Vorgehen aufzudecken vermag, sollten sich einer Verfestigung zu starren Genealogien widersetzen. Nur dann bleiben sie offen und formbar und bieten neue Anknüpfungspunkte für zukünftige politische Zwecke.

Eingreifendes Denken: Literatur und Politik jenseits linker Melancholie

Diese neuen kritischen Interventionen lassen sich, so unsere These, entlang dreier miteinander verbundener Achsen organisieren: Erstens könnte eine erneuerte Aufmerksamkeit für besonders intensive Momente radikaler literarischer Produktion Öffnungen für neue, zukunftsorientierte Genealogien aktivistischer Literatur schaffen. Diese pluralen Geschichten, wie wir sie uns vorstellen, widerstehen der Tendenz, die Rückbesinnung auf revolutionäre Vergangenheiten mit der nostalgisch-retrospektiven (und politisch ohnmächtigen) Form ›linker Melancholie‹ zu verbinden.[20] Wenn man die Diskussion über solche radikalen Momente bis in die Gegenwart verlängert, sollte man nachverfolgen, wie die vitalen literarischen und theoretischen Interventionen, die zwischen den beiden Weltkriegen formuliert wurden, im Lichte neuer und aufkommender politischer Forderungen (einschließlich feministischer und antikolonialer Kämpfe) in den langen 1960er Jahren wie auch in unserem eigenen historischen Moment neu artikuliert wurden. Die politische Wirksamkeit der Literatur ist sicherlich auch heute noch eine offene Frage – was nicht zuletzt mit der anhaltend unsicheren Position der politisierten Literatur zwischen ihren großen, revolutionären Horizonten und ihrer Verpflichtung zur Konstituierung einer marginalisierten oder untergründigen »Gegenöffentlichkeit« zusammenhängt.[21] Die kritische Analyse der Jetztzeit lässt sich dadurch stärken, dass zeitgenössische Interventionen in einen Dialog mit früheren historischen Momenten gebracht werden, in denen Literatur und Politik einander entscheidend beeinflussten. In diesem Zusammenhang kommt der Theorieproduktion selbst eine radikale Rolle zu, indem sie die Rolle dessen übernimmt, was Brecht einst als »eingreifendes Denken« bezeichnete (eine Formulierung, die er mit leuchtendem Rot in sein Notizbuch von 1931–1932 eintrug).[22]

Zweitens möchten wir hervorheben, dass bei der Erforschung des politischen Gebrauchs und Nutzens von Literatur die globale Übertragbarkeit der Praktiken und Debatten berücksichtigt werden muss, die sich ja in einem breiten Spektrum von geographischen Kontexten und historischen Situationen entwickelt haben. So blieben die Konfigurationen des Verhältnisses zwischen Literatur und Politik im Europa der Zwischenkriegszeit auf die besonderen Artikulationen dieses Verhältnisses in anderen, weit entfernten (›peripheren‹) geographischen Kontexten abgestimmt und umgekehrt. Die Literaturwissenschaftlerin Snehal Shingavi schreibt dazu: »[A]esthetic and political notions put forward through various organs of the Communist Party were translated, reinterpreted, reimagined, and refigured«.[23] Dieser kritische Blick auf kulturelle Übersetzungs- und Umgestaltungsprozesse zeigt, dass wir besser daran täten, uns mit genauer bestimmten Formen des Politischen zu befassen, anstatt den Begriff des Politischen als unspezifisches Label zu verwenden. In den Worten von Sholette ist jede aktivistische Kunst, ob sie nun einen Gefängnisausbruch, eine Revolution oder lediglich die Neukonzeptionierung bestehender Institutionen in Betracht zieht, »haunted by the elusive dream of historical agency and its unceasing hunger for total emancipation«.[24]

Drittens: Zeitgenössische Untersuchungen zum politischen Aktivismus in der Literatur führen zu neuen Konzeptualisierungen des ›Nutzens‹ der Literatur für Literaturgeschichte und Literaturtheorie. In der Tat ist die Beschäftigung mit der Frage nach dem offenkundig politischen Nutzen von Literatur eine sowohl notwendige als auch dringende Aufgabe. Mit dem Fokus auf Politik als bewusstes Engagement und prinzipiengeleitetes Handeln müssen Untersuchungen über die modische (und politisch schwache) Behauptung der literarischen ›Affordanzen‹ der Form hinausgehen, indem sie untersuchen, wie literarische Werke als Momente der aktivistischen Intervention eingesetzt werden.[25] Dies bedeutet nicht, literarische Handlungsfähigkeit auf naive Weise als unvermittelt anzunehmen – im Gegenteil, es gilt, darauf zu bestehen, dass selbst das flachste und flüchtigste Pamphlet (um W. H. Audens berühmten Satz von 1937 zu adaptieren)[26] eine hochgradig vermittelte Form politischen Engagements ist. Um dieser Erkenntnis Rechnung zu tragen, ist stets ein breites Spektrum an literarischen Gattungen, Textformen und künstlerischen Darstellungen zu berücksichtigen. Gleichzeitig sollte man eine entscheidende Akzentverschiebung wagen: weg von der Auffassung, dass die Frage des ›Nutzens‹ in erster Linie von den Eigenschaften des Objekts (literarische Formen, ästhetische Strukturen usw.) abhängt, und hin zu der Ansicht, dass Künstler*innen aktiv auf bestimmte Formen zugreifen (make use), um bestimmte Ziele zu erreichen. Der Kunsttheoretiker Stephen Wright hat unlängst festgestellt, dass die ›Nutzbarmachung‹ künstlerischer Formen ein aktives ›Umrüsten‹ und ›Umfunktionieren‹ dieser Formen selbst beinhaltet.[27] Der Versuch, Literatur zu einem Mittel des gesellschaftlichen und politischen Wandels zu machen, bedeutet nicht, auf Fragen der spezifisch ästhetischen Vermittlung gänzlich zu verzichten. Vielmehr, und das wusste schon Brecht, bringt diese aktivistische Umgestaltung von Formen unser Annahme ins Wanken, dass die Arbeit der ästhetischen Vermittlung das Einzige ist, worauf wir achten sollten, insbesondere wenn sie im modernistischen Gewand der künstlerischen ›Komplexität‹ oder ›Schwierigkeit‹ des ästhetischen Anspruchs daherkommt.

Wie wir bereits festgestellt haben, wurde die Forderung, dass Literatur politisch aktiv sein solle, stets von situativen und konjunkturellen Zwängen vorangetrieben. Zweifellos ist der ›kapitalistische Realismus‹ (Mark Fishers Begriff für die zeitgenössische Schließung revolutionärer Horizonte) ein solcher Zwang, und trotz einer Vielzahl miteinander verbundener Krisen – Wirtschafts-, Klima-, Hunger-, Migrations- und Kriegskrisen – erweist er sich immer noch als kraftvoll genug, um jede Form des Handelns zu blockieren, die in der Lage sein könnte, seinen global herrschenden Status quo grundlegend infrage zu stellen.[28] Wie die Mitglieder des Endnotes Collective kürzlich festgestellt haben, produziert unsere gegenwärtige historische Situation »revolutionaries without revolution, as millions descend onto the streets and are transformed by their collective outpouring of rage and disgust, but without (yet) any coherent notion of transcending capitalism«.[29] Manche meinen, dass wir uns nicht die Mühe machen sollten, in der Literatur nach Lösungen für diese zutiefst politischen Probleme zu suchen. Aktivistische Literatur und Kunst stellen jedoch nicht bloß ein totes oder verknöchertes Archiv dar – sie liefern vielmehr die notwendigen Werkzeuge, um radikale politische Impulse zu bewahren und in neuen Konstellationen erneut aufzugreifen. Insofern stellen sie ein Reservoir zukunftsorientierter Denk-, Fühl- und Lebensweisen dar, das wir heute dringender denn je benötigen.

Übersetzung: Dirk Naguschewski

Die Literaturwissenschaftlerin Ivana Perica arbeit am ZfL in dem Projekt »Kartographie des politischen Romans in Europa«. Benjamin Kohlmann ist Heisenberg-Professor für Anglistik / British Studies an der Universität Regensburg.

[1] Bertolt Brecht: »Über Stoffe und Formen«, in: ders.: Schriften I (Werke, Bd. 21), Frankfurt a.M. 1992, S. 302–304, hier S. 303f. – Dieser Beitrag ist die gekürzte und angepasste Übersetzung der Einleitung des von den Autoren herausgegebenen Bandes The Political Uses of Literature. Global Perspectives and Theoretical Approaches, 1920–2020 (New York: Bloomsbury Academic 2024). Der Abdruck der Übersetzung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Bloomsbury Academic.

[2] Fredric Jameson: The Political Unconscious: Narrative as a Socially Symbolic Act, Ithaca 1981, S. 63.

[3] Zu Theorien über die »langen 1930er Jahre« und ihr Erbe politisierter Kunst vgl. Leo Mellor/Glyn Salton-Cox: »Introduction: The Long 1930s«, in: Critical Quarterly 57.3 (2015), S. 1–9; und Benjamin Kohlmann/Matthew Taunton: «Introduction«, in: dies. (Hg.): A History of 1930s British Literature, Cambridge 2019, S. 1–13.

[4] Raymond Williams: »When Was Modernism?«, in: The Politics of Modernism: Against the New Conformists, London 2006, S. 131–135, hier S. 135.

[5] Gregory Sholette: The Art of Activism and the Activism of Art, London 2022, S. 18.

[6] Ebd.

[7] Vgl. Jean-Paul Sartre: »What is Literature?«, in: ders.: What Is Literature? And Other Essays, Cambridge, MA 1988, S. 21–245.

[8] Eine einflussreiche Version hiervon liefert Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, übers. von Maria Muhle, Sabet Buchmann und Jürgen Link, Berlin 2006.

[9] Rita Felski: The Uses of Literature, Oxford 2008, S. 9.

[10] Gabriel Rockhill: Radical History and the Politics of Art, New York 2014, S. 53f.

[11] Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: An Aesthetic Education in the Era of Globalization, Cambridge, MA 2013.

[12] Joe Cleary: »Realism after Modernism and the Literary World System«, in: Modern Language Quarterly 73.3 (2012), S. 255–268, hier S. 262f.

[13] Steven S. Lee: »Introduction: Comintern Aesthetics–Space, Form, History«, in: Amelia M. Glaser/Steven Lee (Hg.): Comintern Aesthetics, Toronto 2020, S. 3–29, hier S. 17.

[14] Zur verlorenen Welt der Komintern vgl. z.B. Michael Denning: Culture in the Age of Three Worlds, London 2004; Katerina Clark: Moscow, the Fourth Rome: Stalinism, Cosmopolitanism, and the Evolution of Soviet Culture, 1931–1941, Cambridge, MA 2011; und Glaser/Lee: Comintern Aesthetics (Anm. 13). Zur komplexen Stellung antikolonialer Kämpfe innerhalb internationalistischer politischer Projekte siehe z.B. Sonali Perera: No Country: Working-Class Writing in the Age of Globalization, New York 2014; Rossen Djagalov: From Internationalism to Postcolonialism: Literature and Cinema between the Second and the Third World, Montreal 2020; und J. Daniel Elam: World Literature for the Wretched of the Earth: Anticolonial Aesthetics, Postcolonial Politics, New York 2020.

[15] Lee: »Introduction« (Anm. 13), S. 14.

[16] Elam: World Literature (Anm. 14), S. xiii.

[17] Perera: No Country (Anm. 14), S. 5.

[18] Vgl. zum lateinamerikanischen Kontext Sophie Esch: Modernity at Gunpoint: Firearms, Politics, and Culture in Mexico and Central America, Pittsburgh 2018; zum künstlerischen Aktivismus im Mittleren Osten Ryan Watson: Radical Documentary and Global Crises: Militant Evidence in the Digital Age, Bloomington 2021; und zum afrikanischen Kontext Alexander Fyfe/Madhu Krishnan (Hg.: African Literatures as World Literature, London 2022.

[19] Markers eindrucksvoller Film Le Fond de l’air est rouge (1977) verbindet Artikulationen des revolutionären Impulses im 20. Jahrhundert, indem er Szenen aus verschiedenen radikalen Momenten wie der Revolution von 1917 und den antikolonialen Protesten der 1960er und 70er Jahre miteinander zusammenschneidet.

[20] Der Begriff der linken Melancholie geht auf Walter Benjamin zurück. Vgl. Walter Benjamin: »Linke Melancholie. Zu Erich Kästners neuem Gedichtbuch« (1931), in: ders: Gesammelte Schriften III, hg. von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt 1972, S. 279–283. Eine neuere vergleichbare Darstellung liefert Enzo Traverso: Left-Wing Melancholia: Marxism, History, and Memory, New York 2016.

[21] Oskar Negt/Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung: zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 1972.

[22] Bertolt Brecht: »Eingreifendes Denken«, in: ders: Schriften I (Werke, Bd. 21), Frankfurt a.M. 1992, S. 524f. Im Gegensatz dazu haben neuere Darstellungen des Aufstiegs der Literaturtheorie und der Institutionalisierung der Ideologiekritik betont, dass sich die Kritik als intellektueller Ersatz für ›echte‹ revolutionäre Aktivitäten entwickelte: Nach dieser Lesart stellte die Theorie eine kompensatorische Antwort auf das Scheitern der linken politischen Revolutionen im Westen in den 1920er und 30er Jahren dar, vgl. etwa Joseph North: Literary Criticism: A Concise Political History, Cambridge, MA 2017.

[23] Snehal Shingavi: »India–England–Russia: The Comintern Translated«, in: Glaser/Lee: Comintern Aesthetics (Anm. 13), S. 109–132, hier S. 109.

[24] Sholette: The Art of Activism (Anm. 5), S. 151.

[25] Zum Konzept der Affordanzen, das seine Wurzeln in der Designtheorie hat, vgl. Caroline Levine: Forms: Whole, Rhythm, Hierarchy, Network, Princeton, NJ 2015.

[26] Audens Worte »To-day the expending of powers/ On the flat ephemeral pamphlet« stammen aus seinem Bürgerkriegsgedicht Spain 1937, in: The English Auden: Poems, Essays and Dramatic Writing, 1927–1939, hg. von Edward Mendelson, London 1986, S. 210–212, hier S. 212.

[27] Vgl. Stephen Wright: Toward a Lexicon of Usership, 2013.

[28] Zum kapitalistischen Realismus vgl. Mark Fisher: Capitalist Realism: Is There No Alternative?, London 2009.

[29] Endnotes Collective: »Onward Barbarians, in: Endnotes 2020.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Benjamin Kohlmann/Ivana Perica: Der politische Gebrauch und Nutzen von Literatur, in: ZfL Blog, 21.2.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/02/21/benjamin-kohlmann-ivana-perica-der-politische-gebrauch-und-nutzen-von-literatur/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240221-01

Print Friendly, PDF & Email