Einige Beiträge zum aktuellen ZfL-Jahresthema erinnerten zuletzt an dieser Stelle daran, dass das Begriffspaar »Aktivismus und Wissenschaft« von einem alten Spannungsverhältnis geprägt ist, welches sich gegenwärtig wieder bemerkbar macht. Eva Geulen etwa verweist auf den etliche Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert kennzeichnenden Gegensatz zwischen einer sich weltfremd im Elfenbeinturm ereignenden vita contemplativa und einer sich engagiert-praktisch gestaltenden vita activa. Zur Veranschaulichung nennt sie eine »Kontroverse zwischen Herbert Marcuse und Jürgen Habermas aus den späten 1960er Jahren«, in der Aspekte des Verhältnisses von Theorie und Praxis verhandelt wurden. In der Folge wird die Frage aufgeworfen, ob denn die Polarität von »›Elfenbeinturm‹ vs. Engagement« unter heutigen Bedingungen so noch bestehe oder ob wir es nicht eher »mit einer bisher unbekannten Konvergenz eines Aktivismus ›von oben‹ und ›von unten‹ zu tun« haben.
Tatsächlich sehen sich Forschende heutzutage immer öfter dazu genötigt, den unmittelbar praktischen Mehrwert ihrer Arbeit im Namen eines vermeintlichen Aktivismus zu Markte zu tragen, nicht zuletzt, um den Empfang etwaiger Fördergelder zu rechtfertigen. So könnte man auch fragen, was denn die erwähnte Konvergenz für die vielleicht bekannteste Formulierung des Spannungsverhältnisses von Aktivismus und Wissenschaft bedeutet, nämlich für die Marx’sche Forderung, die Philosophie (und damit stellvertretend die Geisteswissenschaft) habe die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie auch zu verändern.[1] Jedenfalls hätte der berühmte letzte Abschnitt aus den Thesen über Feuerbach im gegenwärtigen universitären Rahmen eine ganz andere Resonanz als noch bei Habermas und Marcuse. Die Konvergenz von Aktivismen von oben und unten müsste dann auch heißen: die Aufhebung eines kritisch-transformativen Imperativs. Im Zeitalter des Impact-Faktors wäre Wissenschaft dann nicht mehr kritisches Medium transformativer Praxis, sondern nur noch affirmativer Leistungsträger; und Aktivismus wäre kein direkter Eingriff mehr in bestehende Ungerechtigkeiten, sondern ein Aspekt korrekter Abrechnungsmethodik. Aus Negation müsste sich folglich Affirmation ergeben (Adorno ahnte dies schon früh); das kritisch-polemische Moment des Aktivismus »von unten« ginge verloren.
Nun lässt sich gewiss nicht leugnen, dass den Aktionen von Gruppen wie der Letzten Generation oder Extinction Rebellion Polemik innewohnt (ikonoklastische Angriffe auf bekannte Kulturgüter oder die Stillstellung großstädtischen Pendlerverkehrs seien hier angeführt). Obwohl sie von wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgehen (zum Beispiel den Berechnungen der katastrophalen Auswirkungen der Erderwärmung), stehen diese Gruppen – wohl auch aus strategischem Kalkül – in keinem klaren Verhältnis zu dem, was gemeinhin Wissenschaft genannt wird. So drängt sich die Frage auf, worin eigentlich der kritische Zug im Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus liegt, wenn die institutionelle Konvergenz der Aktivismen von oben und unten zur Affirmation tendiert?
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Möglicherweise ist es lohnenswert, Geulens Verfahren des Rückgriffs aufzunehmen und sich auf ein weiteres streitbares Beispiel aus der frühesten Geschichte des Aktivismusbegriffs zu besinnen, von dem zuweilen behauptet wird, es handele sich um die früheste Okkurenz dieses Wortes überhaupt.[2] Die Rede ist vom sogenannten »literarischen Aktivismus«,[3] auf den auch Henning Trüper in seinem Blogbeitrag zum ZfL-Jahresthema anspielt, wenn er vom »Umfeld des Expressionismus« spricht, in dem der »Aktivismusbegriff nach dem Ersten Weltkrieg erstmals politisch Fuß fasste«. Was hat es hiermit auf sich?
Tatsächlich ist es so, dass Kurt Hiller (1885–1972) – deutsch-jüdischer Publizist, expressionistischer Impresario und pazifistischer Aktivist – diese Wortprägung für sich beansprucht. So soll bei einem Treffen seines Berliner Kreises anno 1914 »Literarischer Aktivismus« als Name der von ihm gegründeten, »ethisch-politischen« Bewegung beschlossen worden sein.[4] Die Organe dieses Aktivismus waren vorrangig Periodika, allen voran die ab 1916 von Hiller und seinem Kreis herausgegebene Zeitschrift Das Ziel: Aufrufe zu tätigem Geist, in deren Namen sich bereits eine gewisse Vorstellung von Aktivität ankündigt (der Untertitel änderte sich im Laufe der Jahre mehrmals, etwa 1919–20, als die Zeitschrift in Das Ziel: Jahrbücher für geistige Politik umbenannt wurde). 1924 wurde sie jedenfalls endgültig von der Zensur verboten. In der Zwischenzeit trat Hiller unter anderem zusammen mit Magnus Hirschfeld aktiv für Schwulenrechte ein und agitierte als Teil des »Rates geistiger Arbeiter« im Kontext der Münchener Räterepublik gegen den Kapitalismus; bis zu seinem Tod im Jahre 1972 mischte er die publizistische Landschaft Deutschlands weiter auf.[5]
Mit seiner Zeitschrift aber ging es dem jungen Hiller vornehmlich um eins: um die Literatur als politisches Werkzeug im Dienste radikaler gesellschaftlicher Veränderung. Schon aus diesem Grund empfiehlt sich für die Literaturwissenschaft die Auseinandersetzung mit seinen Positionen. In seinem die erste Ausgabe beschließenden Beitrag Philosophie des Ziels[6] schreibt Hiller im charakteristisch hochtrabendem Duktus des abtrünnigen Expressionisten (der stets angriffslustige Hiller zerstritt sich alsbald mit vielen expressionistischen Wegbegleitern): »Ziel« sei »die Weltverbesserung« (34), die von der Ablehnung des Weltkriegs und des Zustands allgemeiner geistiger Verkümmerung auszugehen habe (41). Dieses Ziel sei durch »Erziehung […] der Jugend, des Volkes« zur »Aktivität« zu erreichen (35), vor allem durch die Herausbildung eines »tätige[n] Geistes« (42), welcher wiederum an anderer Stelle mit »Verantwortung« (38) gleichgesetzt wird. Voraussetzung derartiger Tätigkeit sei eine spezifische Gemeinschaftsform, zu deren Formierung Hiller explizit aufruft: ein »Bund« der Geistigen (42), der »in lauter kleine Einzelbünde« (50) zu unterteilen wäre. Nicht umsonst spricht Hiller anderenorts von seiner »Reverenz« für den für seine Generation wohl bedeutendsten politisch-literarischen Aktivisten, Gustav Landauer, trotz aller Abneigung gegenüber dessen Anarchismus.[7] Das Modell des Bundes – das Wort lässt Freiwilligkeit und Konkordanz vermuten – versteht der Marx-Kritiker Hiller allerdings gar nicht demokratisch, sondern ausgesprochen elitär. So schreibt er etwa: »Es bleibt ein Irrtum, die Pyramide der menschlichen Gesellschaft […] von der Basis her bearbeiten zu wollen«, wo doch die »kräftigere Methode« die »von oben« sei (44). Hiller beruft sich auf eine prophetische Form von Führerschaft, eine quasiplatonische »Monarchie – des Besten« (53), in der vor allem »der Literat von morgen« zum »große[n] Verantwortliche[n]« stilisiert wird, dessen »Intellekt […] die Tat nicht mehr hemmt« (48).
Obschon die Platon-Analogie spätestens mit dem Auftritt des Literaten endet, nimmt Hiller hier sein späteres Lob dessen, was er Logokratie nennt, vorweg. Das brachte ihm schließlich die durchaus berechtigte Kritik seines ehemals ebenso jugendbewegten Zeitgenossen Walter Benjamin ein.[8] Es folgen in der Philosophie des Ziels einige aktivistische Gedanken zur Rolle der Wissenschaft und zum Begriffspaar »Geist und Praxis« (46). So sei die Wissenschaft im Zuge der modernen Arbeitsteilung »zerfallen in nützliche […] und überflüssige« Wissenschaft, wobei angeblich nur letztere in irgendeiner residualen Verbindung zum Geist zu stehen vermag. An die Stelle der arbeitsteiligen Pseudowissenschaft müsse laut Hiller eine andere treten, nämlich eine aktivistische, die den historisch gewachsenen Gegensatz von Geist und Praxis aufzuheben verstünde. So behauptet er apodiktisch: »Geist und Praxis – das war ehemals eine Antithese; heute bezeichnen diese Worte korrelative Abhängigkeit« (47), wenn auch nur im Horizont des Ziels: »Der Geist setzt die Ziele, die Praxis verwirklicht sie« (47) – man müsse nur wollen. Ob dies wirklich so einfach geht, darf man bezweifeln. Die eigentlichen Ziele des Ziels folgen am Ende des Textes. Unter anderem beinhalten sie die »Abschaffung der Todesstrafe« und des »Krieges«, die »Umgestaltung der höheren Erziehung«, die »Gewährung eines Existenzminimums«, und eben die »Einführung der Monarchie – des Besten« (51–53). Manchem davon kann man vielleicht heute noch etwas abgewinnen; anderen Forderungen bestimmt nicht, wie etwa jener nach »Rationalisierung der Kindererzeugung nach eugenischen Gesichtspunkten« (53), die Hillers elitären Bund-Gedanken zur Gänze disqualifiziert.
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Wozu nun dieser historische Exkurs, wo doch Hillers Programm eines literarischen Aktivismus unter heutigen Gesichtspunkten – sachte formuliert – problematisch erscheinen muss (das war es wohl schon immer)?
Einen Grund liefert eine Randbemerkung Hillers, in der es um die Charakterisierung des von ihm geforderten aktivistischen Bundes als »offensiv« geht. Dieser Bund zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er sich polemisch von dem absetzt, was er seinem Selbstverständnis nach nicht zu sein hat. So teilt Hiller zum Beispiel in dem »Durchstoß zum Aktivismus« betitelten Abschnitt seiner Autobiographie aufs Schärfste gegen Hegel aus, der als ein »zum Riesen aufgeblasener Denkknirps und Pfuscher« verunglimpft wird; »wann«, wird hier etwa gefragt, »steigt aus dem Wellenschaum« des überflüssigen Hegel-Erbes endlich »die Aphrodite einer Doktorarbeit, die Opus für Opus […] das Fäkalische der Hegelprodukte nachweist?«[9] Derartige Stellen gibt es bei Hiller viele. Offensiver, polemischer, zugespitzter geht es kaum.
Nun berufen sich die prominenten Aktivismen von heute wohl aus guten Gründen nicht auf Hiller (ohnehin kann man das Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus schwerlich mit Verweis auf Genealogien dieser Art bestimmen). Gleichwohl ist das marginale historische Interesse der Literaturwissenschaft an Hillers Person doch auch dies: wissenschaftlich; und als wissenschaftliches – zumal als literaturwissenschaftliches – darf es vielleicht den bescheidenen Anspruch erheben, Hillers Aktivismus doch zumindest diesen polemischen (sprich: offensiven) Zug abzugewinnen, just jenen also, der im heutigen, zum Affirmativen tendierenden Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus allzu oft fehlt.
Der Komparatist Sebastian Truskolaski ist Lecturer (Assistant Professor) in German Cultural Studies an der University of Manchester; am ZfL bearbeitet er als Forschungsstipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung sein Projekt »Gesten von Gemeinschaft: Hölderlin bei Benjamin, Landauer und Rosenzweig«.
[1] Vgl. Karl Marx: »Ad Feuerbach«, in: Karl Marx / Friedrich Engels Gesamtausgabe, Bd. 3, hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung, Berlin 1998, S. 21.
[2] Vgl. Matthias Heine: »Aktivisten aller Länder, vereinigt euch!«, in: Die Welt, 26.2.2014.
[3] Juliane Habereder: Kurt Hiller und der literarische Aktivismus, Frankfurt am Main 1981.
[4] Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit, Hamburg 1969, S. 98. Vgl. Daniel Münzer: Kurt Hiller: Der Intellektuelle als Außenseiter, Göttingen 2015.
[5] Vgl. Wolfgang Rothe: »Einleitung«, in: Der Aktivismus, 1915–1920, hg. von Wolfgang Rothe, München 1969, S. 7–21.
[6] Kurt Hiller: »Philosophie des Ziels«, in: Der Aktivismus, 1915–1920 (Anm. 5), S. 29–54. Alle Nachweise erfolgen direkt im Text.
[7] Hiller: Leben gegen die Zeit (Anm. 4), S. 138.
[8] Vgl. Walter Benjamin: »Zur Kritik der Gewalt«, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. 2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1977, S. 179. Vgl. auch Lisa Marie-Anderson: »Translator’s Preface: Kurt Hiller, Anti-Cain: A Postscript to Rudolf Leonhard’s Our Final Battle Against Weapons«, in: Walter Benjamin: Toward the Critique of Violence: A Critical Edition, hg. von Peter Fenves und Julia Ng, Stanford 2021, S. 179–185.
[9] Hiller: Leben gegen die Zeit (Anm. 4), S. 99–100.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Sebastian Truskolaski: Aktivismus, offensiv und polemisch: Randbemerkung zur Frühgeschichte eines Begriffs, in: ZfL Blog, 7.3.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/03/07/sebastian-truskolaski-aktivismus-offensiv-und-polemisch-randbemerkung-zur-fruehgeschichte-eines-begriffs/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240307-01