Henning Trüper: AKTIVISMUS UND KULTURGESCHICHTE DES MORALISCHEN

›Aktivismus‹ wird heute kontextabhängig in vielen Bedeutungen verwendet: als deskrip­tive Bestimmung, positiver Identifikationsbegriff, Begriff der polemischen Abwertung oder Zielscheibe jargonkritischen Spotts.[1] Im Kern des Begriffs behauptet sich aber stets die individuelle Partizipation am kollektiven gesellschaftlichen Handeln, ins­beson­dere an der Politik. Meist wird als Aktivismus die emphatische Teilnahme an sozialen Bewegungen emanzipatorischer Art bezeichnet. Es geht dabei häufig um marginalisierte Gruppen und Anliegen. For­derungen nach Ermächtigung und Gleichberechtigung sowie die Herausstellung besonderer Schutzbedürftigkeit stehen im Zentrum. Auch im aktivistischen Umgang mit dem Klimawandel bleibt der Grundgedanke des Schutzes – nun nicht mehr nur menschlicher Akteure, sondern einer ihrer Rechte beraubten Natur – erkennbar.

Bedeutungskonstituierende Kriterien für ›Aktivismus‹ wären demnach erstens politische Partizipation jenseits einer bloß passiven, handlungsfernen Zustimmung oder Ablehnung sowie zweitens das Vorhandensein eines kollektiven Handlungsmusters, das im Hinblick auf Rechte und deren Beschränkungen lesbar ist. Der Begriff setzt drittens ein Grundverständnis von Asymmetrien innerhalb der politischen Partizipation voraus. Damit fallen aus dem gewöhnlichen Verständnis von Aktivismus solche Formen von politischen Bewegungen heraus, in denen es nur um Pseudomarginalisierungen und den Schutz bestehender Privilegien geht. Wenn man etwa auf die Frage antworten will, ob Aktivismus zum Beispiel von (neo-)faschistischen Bewegungen ausgeübt werden könne, lässt sich darauf verweisen, dass dort die elementaren Merkmale Ermächtigung, Gleichberechtigung, Schutzbedürftigkeit nicht oder nur in verzerrter Form auftreten, insofern es vornehmlich um Bemächtigung, Entrechtung und Schädigung anderer geht.

Allerdings erlegen diese drei Kriterien den historischen Konstellationen eine allzu große Einfachheit auf. Schon bei der Arbeiterbewegung, in deren Umfeld der im Umfeld des Expressionismus entstandene Aktivismusbegriff nach dem Ersten Weltkrieg erst­mals politisch Fuß fasste,[2] handelte es sich keineswegs um eine Bewegung am untersten Ende sozialer Hierarchien, wie etwa die relative Nachrangigkeit der Anliegen der Frauenbewegung in den Ideengebäude der sozialistischen Parteien belegt. Zudem haben politische Bewegungen der Moderne stets ein Problem der Repräsentation. »Frei­schwebende« (Karl Mannheim), nicht vorrangig durch ihre Gruppenzugehörigkeit gekennzeichnete Intellektuelle sollen für andere sprechen oder eine intellektuelle ›Führung‹ der ›Massen‹ anstreben. Stellvertreter- und Fürsprecherschaft, einschließlich der Asymmetrien, die eine solche Position mit sich bringt, sind also ein viertes Merkmal des Aktivismusbegriffs.

Die Frage nach der Teilhabe am politischen Gemeinwesen ist kein ausschließlich mo­dernes Phänomen. Es gibt eine bedeutende frühneuzeitliche Tradition des heute so ge­nannten republikanischen politischen Denkens, für das die Frage nach der Par­ti­zipation immer auch eine Frage der Aus­schluss­kriterien war. Zu den Voraussetzungen legi­timer Teilhabe gehörte die persönliche Tugend, eine erworbene Disposition zum Gutsein. Dieses Gutsein betraf ursprünglich die natürliche Bestimmung des Menschen als eines zoon politikon (Aristoteles): der Mensch, der dieser Bestimmung am nächsten kam, partizipierte am Gemeinwesen. Die militärische Tugend, die aus der Übung im Krieg herstammt, gehörte ebenso zu diesem Gutsein wie diejenige Tugend, die aus dem Besitz, dessen Führung und Erhaltung herrührt. Diese – keineswegs geschlechtsneutralen – Tugenden sind genuin sozial und folglich nur innerhalb der Gemeinschaft erlernbar. Und weil die Tugend der politischen Natur des Menschen entspringt und Tugend das Wesen des Moralischen ausmacht, hat in dieser Tradition das Politische Vorrang vor dem Moralischen.[3]

In der Moderne ändert sich das Verhältnis von Politischem und Moralischem. Die ältere Tugendethik verschwindet oder wird in eng umgrenzte Bereiche zurückgedrängt. Stattdessen entstehen Moraltheorien und moralische Praktiken, in denen die moralischen Subjekte als fundamental gleich angesehen werden und die konkrete Hand­lung zum Hauptgegenstand des mora­lischen Urteils erhoben wird. Parallel dazu entwickelt sich im 18. Jahrhundert eine neue kulturelle Form der moralischen Partizipation in Form des humanitären Engagements, das sich über den sozialen und politischen Nahbereich hinaus auf die Abstellung eines »entfernten Leidens« richtet.[4] Dabei geht es also nicht mehr um eine zur Teilhabe im eigenen Gemeinwesen berechtigende Tugendhaftigkeit, sondern um ein Rettungshandeln, das sich auf einen konkreten, aber institutio­nell adressierbaren Notstand richtet. Das humanitäre Engagement begründet zwar noch eine Tugend, nämlich den retterlichen Heroismus, doch diese Tugend stiftet keine politische Person mehr, sondern bleibt auf einen engen Wirkungskreis beschränkt. Mit der Vervielfachung von Situationstypen des fernen Leidens entstehen Aktivismen (und Heroismen) in unüberschaubarer Zahl, die sich mit den politischen Formen von Aktivismus verschränken. Aktivismus stützt sich dabei auf die gute Tat als wichtigstes Paradigma moralischer Beurteilung.

Wenn heute irgendeinem Aktivismus, wie es oft in polemischer Absicht geschieht, Moralismus unterstellt wird, ist damit auch diese historische Dimension angesprochen und zugleich eine spezifisch moderne Prägung benannt, die neben der vormodernen besteht. Denn der Aktivismus – im Franzö­sischen heißen Aktivist:innen militant-e-s – trägt nach wie vor mehr oder weniger verkappte Züge jener vormodernen Denkfigur der kämpferischen Tugend, die die politische Partizipation ermöglicht und die einen Freiheitsbegriff voraussetzt, der Freiheit als Befähigung zum partizipatorischen Handeln versteht. In der Moderne dominiert hingegen ein anderes Freiheitsverständnis: Rechte konstituieren eine allgemeine, gleiche Frei­heit von bestimmten Beschränkungen.[5] Das oftmals elitäre Selbstverständnis aktivistischer Avantgarden deutet aber an, dass die ermächtigende und privilegierende Tugend keineswegs völlig aus dem politischen Denken verschwunden ist. Im Aktivismus ist die ›alte‹ Freiheit enthalten, die gegenüber anderen Mitmenschen ein Privileg vorzüglicher Teilhabe am politischen Handeln begründet. Das wirft die wichtige Frage nach dem Fortbestand älterer politischer Sprachen innerhalb derjenigen der Moderne auf – und nach anachronistischen Spannungen, die das heutige Denken mitprägen.

Hier kann ein Ansatzpunkt gefunden werden, um das Verhältnis von Aktivismus und Wissenschaft genauer zu fassen. Es ist nämlich auffällig, dass einige der gesellschaftlichen Gruppen, mit denen sich die Rede vom Aktivismus am häufigsten verbindet, an solche institutionellen Zusammenhänge geknüpft sind, in denen man Überreste der vormodernen, ständischen Gesellschaftsordnung entdecken kann: die Universitätsangehörigen, die Akademiker:innen, die Künstler:innen (von denen viele in irgendeiner Form an Akademien gebunden sind). Der Umstand, dass es in diesen Gruppen Ehrverbrechen gibt – man sieht es zum Beispiel deutlich am wissenschaftlichen Plagiat –, die in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen, zumal juristischen, kaum Relevanz besitzen, ist ein Symptom. Es zeigt an, dass sich bis heute eine Verbindung zwischen Stand und Tugend hält, die wir nur zumeist ignorieren. Und wenn etwa von der Pflicht von Wissenschaftler:innen zum Aktivismus die Rede ist, geht es durchaus noch um einen Typus ständischer Erwartung. Der Stand muss als solcher seine Berechtigung in der sozialen Ordnung erweisen, indem er seine Aufgabe und Bestimmung bestmöglich realisiert. Die Wissenschaft soll nicht einfach aus staatsbürgerlicher Perspektive partizipieren, sondern von ihr wird erwartet, im Funktions­gefüge des staatlichen Baus, der sie finan­ziert, eine wichtige partizipatorische Aufgabe zu erfüllen. Auch privat finanzierte Universitäten wie die bekannten nordamerikanischen, die allesamt auf Steuerprivilegien der Gemeinnützigkeit aufbauen, gehören in dieses staatlich-ständische Funktionsgefüge. Ohne den Staat gibt es in der Moderne keine Wissenschaft.

Deshalb ist es weder überraschend noch neu, dass an staatliche Funktionsträger:innen staatliche Erwartungen gerichtet werden. Das von mancher Aktivismuskritik vorgebrachte Argument, dass Wissenschaft als Beruf und Politik als Beruf so strikt zu trennen seien, wie es die beiden berühmten Vorträge Max Webers zu diesen Themen nahezulegen scheinen,[6] trägt also nicht besonders weit. Vielmehr ist die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus stets zugleich eine nach der Bedeutung von Staatlichkeit für die Wissenschaft. Einerseits geht es dabei um das Fortwirken des älteren politischen Denkens in der Moderne. Andererseits aber treffen sich Aktivismus und Wissenschaft in ihrer gemeinsamen, spezifisch modernen Gegenwarts- und Zukunftsorientierung. So entstehen analoge anachronistische Spannungen. Wissenschaft und Aktivismus sind sich insofern nahe, als für beide das forschende und reflexive Nachdenken über diese Spannungen und ihre theoretischen und praktischen Konsequenzen nötig ist. Wissenschaft setzt zuletzt, trotz aller Neigung zum Staatsdienst, dennoch eine Selbstbehauptung gegen gewisse Ansprüche der Nützlichkeit für das Staatswesen voraus. Auch der Aktivismus behauptet sich in einem experimentellen Austesten der Wirksamkeit bekannter und der Entwicklung neuer Handlungsformate, da sich die staatlichen Institutionen beständig auf Protestformen einstellen und sie zu beherrschen lernen.

Der Historiker Henning Trüper leitet am ZfL das ERC-Projekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800«. Sein Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2023/24, »Aktivismus und Wissenschaft«.

[1] Dirk Braunstein/Christoph Hesse: Schiffbruch beim Spagat: Wirres aus Geist und Gesellschaft 1, Freiburg/Wien 2022, S. 17f.

[2] Vgl. Wolfgang Rothe: Der Aktivismus 1915–1920, München 1969, S. 721; Helmut Mörchen: Schriftsteller in der Massengesellschaft: Zur politischen Essayistik und Publizistik Heinrich und Thomas Manns, Kurt Tucholskys und Ernst Jüngers während der Zwanziger Jahre, Stuttgart 1973, S. 7–12; Knut Cordsen: Die Weltverbesserer: Wie viel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft? Berlin 2022, S. 23–46.

[3] Vgl. etwa John G. A. Pocock: The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition [1975], Princeton 22016.

[4] Vgl. Luc Boltanski: La souffrance à distance: Morale humanitaire, médias, politique, Paris 1993.

[5] Die Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit nach Isaiah Berlin: »Two Concepts of Liberty«, in: ders.: Four Essays on Liberty, Oxford 1969, S. 118–172.

[6] Max Weber: Wissenschaft als Beruf [1917/19], und ders.: Politik als Beruf [1919], in: Max Weber Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 17, hg. von Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schluchter, in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod, Tübingen 1992.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Henning Trüper: Aktivismus und Kulturgeschichte des Moralischen, in: ZfL Blog, 21.11.2023, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/11/21/henning-trueper-aktivismus-und-kulturgeschichte-des-moralischen/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20231121-01

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