Nina Weller: WISSENSCHAFTSAKTIVISMUS UND OSTEUROPAFORSCHUNG IN ZEITEN DES KRIEGES

Mit Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine ist die Osteuropaforschung, die in der Öffentlichkeit jahrzehntelang eine eher marginale Rolle spielte, ins Rampenlicht gerückt. Osteuropawissenschaftler:innen analysieren das laufende Kriegsgeschehen, erläutern vorangegangene Entwicklungen, informieren über die russische Imperialgeschichte und das lange Ringen der Ukraine und anderer ehemaliger Sowjetrepubliken um Unabhängigkeit. Kurz: Sie vermitteln komplexes Wissen über Politik und Geschichte, Sprache und Kultur eines Raums, der von jahrhundertelangen Grenzverschiebungen, vielsprachigen und multireligiösen Bevölkerungen und generationsübergreifenden Gewalterfahrungen gekennzeichnet ist.

Aufgrund der medialen Berichterstattung infolge des Kriegs ist die Ukraine zwar keine Terra incognita mehr. Doch es bedarf weiterhin der Wissensvermittlung in die breitere Öffent­lichkeit, damit sie und andere ehemalige sow­jetische Länder als eigenständige Akteure und Subjekte der eigenen und europäischen Geschichte und nicht immer nur in Bezug auf Russland wahrgenommen werden. Bela­rus etwa steht weiterhin im Abseits der medialen Aufmerksamkeit, obwohl das belarussische Regime in den aktuellen Krieg verwickelt ist und seit den Protesten 2020 die Repressionen gegen politische Gegner und gegen die nach demokratischen Werten strebende Bevölkerung massiv verstärkt hat. Diese unzureichende Wahrnehmung Osteuropas hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die westliche Slawistik und Osteuropaforschung seit Langem über­wiegend auf Russland fokussiert waren.

Unter den Bedingungen des Kriegs hat sich der Arbeitsalltag der hier Forschenden, Lehrenden und Studierenden verändert: Ko­operationen mit russischen Universitäten mussten aufgekündigt werden, Partnerschaften mit wissenschaftlichen Institu­tionen in der Ukraine und anderen Nachbarländern wurden intensiviert. Es wurden neue Netzwerke aufgebaut und Scholars- und Artists-at-Risk-Programme eingerichtet – nicht nur für aus der Ukraine geflüchtete oder aus Russland und Belarus vertriebene, regimekritische Wissenschaftler:innen und Künstler:innen, sondern auch für diejenigen, die unter je unterschiedlichen Gefahren in ihren Heimatländern weiterarbeiten.[1]

Zugleich wurden die Bemühungen intensi­viert, sich selbstkritisch mit den Prämissen des Fachs auseinanderzusetzen und de­kolo­nisierende Perspektiven mit dem Ziel einer Transformation der Forschungs- und Studieninhalte umzusetzen. Dies ist nicht nur auf den Krieg zurückzuführen, sondern knüpft auch an die schon länger von innerhalb wie außerhalb der Wissenschaft angestrengten Bemühungen um mehr Diversität und Dekolonisierung an. Dazu gehört bei­spiels­weise die Forderung, die Stimmen von Expert:innen aus dem postsowjetischen Raum ohne paternalistische Impulse in hiesige Debatten einzubeziehen, ganz im Sinne von Wolf Lepenies: »Nicht forschen über, sondern forschen mit.« Dies würde auch dem sogenannten »Westsplaining« entgegenwirken, das auf der Vorstellung von Menschen aus dem Westen basiert, sie verstünden den Osten des Kontinents besser als dessen Bewohner:innen.[2]

Angesichts des Krieges agieren viele Fachvertreter:innen zunehmend sichtbar auch auf persönlicher Ebene: Sie zeigen sich solidarisch auf Demonstrationen, engagieren sich ehrenamtlich in der Geflüchtetenhilfe, intervenieren in öffentliche Debatten. Manche stellen zum Teil klare Forderungen an die Politik, indem sie beispielsweise für eine Ausweitung der Waffenlieferungen plädieren. Die Wissenschaft als unpolitischen Raum fernab des Weltgeschehens zu begreifen, ist kaum mehr möglich, wenn Desinformation und Fake News als hybride Waffen im Krieg eingesetzt werden. So wird die Diskussion über Für und Wider von Waffenlieferungen an die Ukraine oder den Umgang mit russischer Kultur und Literatur nicht nur in den Medien, sondern auch innerhalb der Fachcommunity oft zu einer Grundsatzfrage wissenschaftlicher Ethik und politischer Verantwortlichkeit erklärt. Für ein solches »Aktivwerden von Wissenschaftler:innen« in »gesellschaftspolitischer Absicht« wurde der positiv konnotierte Begriff des scientific political activism geprägt.[3] Ist aber schon von Aktivismus zu sprechen, wenn sich Osteuropawissenschaftler:innen mit ihrer fachlichen Expertise aktiv in öffentliche Debatten einbringen und auf Grund­lage ihrer Forschungen politische Vorschläge und Forderungen formulieren?

Zu beobachten ist, dass sich in jüngster Zeit eine prinzipielle Gegenüberstellung von Wissenschaft und Aktivismus Bahn gebrochen hat, die man so eigentlich längst überwunden glaubte. In der Regel wird Aktivismus als direktes Handeln verstanden, das ein klar definiertes, meistens politisches Ziel hat; demgegenüber sei Wissenschaft einem politisch unabhängigen, objektiven Erkenntnisinteresse und kritischer Distanz zum Forschungsgegenstand verpflichtet. Liegt aber dieser Annahme eines unversöhnlichen Gegensatzes von Wissenschaft und Aktivismus nicht eine Verwechs­lung von partizipativem Engagement mit un­reflektiert-impulsivem Aktionismus oder mit ideologischer Voreingenommenheit zugrunde? ›Aktivismus zu betreiben‹ gerät zum Vorwurf und wird gerade von jenen vorgebracht, die eine auf Objektivität ver­pflichtete ›neutrale‹ Wissenschaft von einem auf moralischen Werteurteilen und Emotionalität beruhenden Aktivismus unterscheiden zu können glauben. So diskreditierte beispielsweise der Politologe Gerhard Mangott den Wissenschaftsaktivismus einiger politisch besonders engagierter Osteuropawissenschaftler:innen am 11.7.2022 auf Twitter als »Auszug aus der Wissenschaft« . Die Osteuropahistorikerin Franziska Davies konterte am Tag darauf:

»Gerade dadurch, dass diese Wissenschaftler:innen ihre eigenen Überzeugungen und Wertesysteme kommunizieren, machen sie diese transparent und reflektieren ihre eigene Zeit- und Standortgebundenheit.«[4]

In der Tat ist nicht ausgemacht, ob Wissenschaft überhaupt werturteilsfrei sein kann.[5] Liegen ihr nicht immer schon normative Positionierungen zugrunde? Wäre dabei nicht auch zu bedenken, dass staatlich finanzierte Forschung und Lehre im Namen eines politisch legitimierten Auftrags handelt? Ist politische Zurückhaltung nicht ihrerseits darin normativ, dass sie diejenigen Wissenschaftler:innen zurechtweist, die Wissensproduktion auch als demokratisch notwendiges gesellschaftliches Engagement verstehen? Der Philosoph Karl Popper beschreibt die Haltung des Aktivisten als »die Neigung zur Aktivität und die Abneigung gegen jede Haltung des passiven Hinnehmens«.[6] In dieser Perspek­ti­ve sind in der Tat alle Wissenschaftler:innen aktivistisch, die in Reaktion auf poli­tische Ereignisse qua ihrer Expertise etwas zur Veränderung konkreter politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse oder zur Auf­merksamkeitsverschiebung in der Ein­ordnung des Weltgeschehens beitragen möchten. Allerdings haben wir es wohl kaum mit Komplexitätsreduktion zugunsten von Emotionalisierung zu tun, wie der Vor­wurf oftmals lautet.[7] Vielmehr zielt ihr Aktivismus umgekehrt darauf, den im Fall des öst­lichen Europa enormen Aufklärungs­bedarf zur komplexen Verflechtungsgeschichte, zu Kulturen und Sprachen der Region zu decken. Sie wirken dabei nicht mehr nur als Expert:innen, die im Hintergrund politische Entscheidungsträger:innen beraten oder sachliche Einschätzungen von Geschehnissen liefern, sondern greifen nun häufiger unmittelbar und kritisch in öffent­liche Debatten ein. So auch, wenn sie anprangern, dass in der Russlandpolitik der letzten Jahre viele folgenschwere Entscheidungen getroffen wurden, bei denen auf eine wissenschaftliche Beratung verzichtet wurde.

Auch in anderen politischen Kontexten – der Entwicklungen im Iran, in der Türkei oder in den USA beispielsweise oder in den Debatten über die Klimakrise und Einwanderungspolitik – tritt die Notwendigkeit des Engagements seitens der Wissenschaft deutlich hervor. Denn über historische, kulturelle, politische Hintergründe zu informieren und differenziertes Wissen verständlich, aber nicht simplifizierend in die breitere Öffentlichkeit zu vermitteln, schafft Orientierungsangebote jenseits bloßer ›Meinungsmache‹. Wissenschaft gerät in schwierige Fahrwasser, wenn sie unter dem Druck erregter Debatten hinter ihre eigenen Standards zurückfällt, aber auch dann, wenn sie das Gebot der Objektivität als Positionierungsverbot missversteht.

Die Slawistin und Komparatistin Nina Weller arbeitet im ZfL-Projekt »Anpassung und Radikalisierung. Dynamiken der Populärkultur(en) im östlichen Europa vor dem Krieg«. Ihr Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2023/24, »Aktivismus und Wissenschaft«.

[1] Wie z.B. die Initiative The University of New Europe (UNE) oder das Science at Risk Emergency Office vom Akademischen Netzwerk Osteuropa (akno e. V.).

[2] Aleksandra Konarzewska/Schamma Schahadat/Nina Weller (Hg.): »Alles ist teurer als ukrainisches Leben«. Texte über Westsplaining und den Krieg, Berlin 2023.

[3] Pascal Germann/Lukas Held/Monika Wulz: »Scientific Political Activism – eine Annäherung an das Verhältnis von Wissenschaft und politischem Engagement seit den 1960er Jahren«, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 30.4 (2022), S. 435–444, hier S. 436.

[4] Nachzulesen auch auf Threadreader.

[5] Zur Geschichte der Debatte um Werturteilsfreiheit in der Wissenschaft vgl. auch Leonhard Dobusch: »Objektivität in Anführungszeichen. Über Wissenschaft und Aktivismus«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 26/27 (2022).

[6] Karl Popper: Das Elend des Historizismus (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften, Bd. 3), Tübingen 81974, S. 7.

[7] Vgl. Alexander Libman: »Osteuropaforschung im Rampenlicht: Ein Drahtseilakt zwischen Wissenschaft und Aktivismus«, in: Russland-Analysen 438 (26.6.2023), S. 4–6.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Nina Weller: Wissenschaftsaktivismus und Osteuropaforschung in Zeiten des Krieges, in: ZfL Blog, 30.11.2023, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/11/30/nina-weller-wissenschaftsaktivismus-und-osteuropaforschung-in-zeiten-des-krieges/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20231130-01