Patrick Eiden-Offe: EDITIONSPHILOLOGIE ALS AKTIVISMUS: Der umkämpfte Hölderlin

In Erinnerung an Marianne Schuller

Am 6. August 1975 lädt der Verlag Roter Stern in Frankfurt am Main zu einer Presse­konferenz ins Hotel Frank­furter Hof. Hier präsentieren der Verleger KD Wolff, ehedem Bundesvorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, und der ehemalige Werbe­grafiker D. E. Sattler den Einleitungsband ihrer neuen Hölderlin-Ausgabe. Die zwan­zigbändige Edition soll in fünf Jahren ab­geschlossen sein; tatsächlich erscheint der letzte Band 2008. Aufsehen­erregend war die neue Ausgabe vor allem wegen ihrer Editionsprinzipien: Alle Handschriften werden im Faksimile wiedergegeben, eine »typographische Umschrift« bildet die Schrift­bildlichkeit der Handschriftenblätter ab, eine »Phasenanalyse« macht den zeitlichen Charakter des Entwurfsprozesses nach­vollziehbar. Aufsehenerregend war aber auch, dass die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe (FHA) von Anfang an unter einem politisch-aktivistischen Stern stand: »Roter Stern über Hölderlin« oder »Liest Marx jetzt Hölderlin?« lauteten einschlägige Überschriften in der Presse.

Vom Verlag hatte Sattler »einen allgemein zugaenglichen besseren text« gefordert, und eine Ausgabe, die die »trennung von wissenschaftlichen und populaeren ausgaben« aufhebt, um damit ein größeres Publikum zu erreichen. Die komplizierten Editionsprinzipien und die spektakuläre Druckgestaltung dienten dem aufklärerischen Ziel, den Leser:innen eine Ausgabe an die Hand zu geben, die es ihnen er­laubte, editorische Entscheidungen selbst zu überprüfen. Die FHA, so hieß es, »bleibt nicht bei der utopie des idealen lesers stehen, sondern unternimmt es, ihn zu bilden«.[1]

Dieser Anspruch schließt zwei Annahmen ein: Erstens Hölderlin geht alle an! und zweitens Es gibt Leute, die das verhindern wollen. Die erste Annahme speist sich aus den Debatten um einen »neuen Hölderlin«, die seit den 1960er Jahren geführt wurden. Gegen die restaurative Vereinnahmung des Autors etwa durch Martin Heidegger hatten schon Theodor W. Adorno und Peter Szondi Einspruch erhoben.[2] Pierre Bertaux hatte den »Jakobiner Hölderlin« entdeckt, der zugleich zur Ikone der Antipsychiatrie avancierte.[3] Dieser neue Hölderlin wurde nun von der FHA editorisch unterstützt.

Das führt zur zweiten Annahme: Die FHA wendet sich explizit gegen die große Stutt­garter Ausgabe (StA), die 1974 gerade ab­geschlossen worden war. Diese war 1943 von dem Tübinger Germanisten Friedrich Beißner begründet worden und galt im Fach als mustergültig. Die Herausgeber der FHA erhoben nun schwere Vorwürfe. In der StA fänden sich massenhaft »falsche[] Entzifferungen und Textzusammenstellungen«, die absichtlich vorgenommen und »ästhetisch motiviert« seien. Die ästhetische »Vorliebe fürs ›Vollendete‹« sei aber eigentlich politisch zu verstehen, als Votum für eine geschlossene Gemeinschaft, die sich im vollendeten Werk wiederfinden solle.[4] Hier schließt sich der Kreis: Denn Beißner war NSDAP- und SA-Mitglied und hatte 1943, parallel zum Start der StA, eine »Feldausgabe« Hölderlins besorgt. Der philologische Einsatz für den unverstellten Hölderlin wurde für die Frank­furter so zu einem buchstäblich antifaschistischen Kampf dafür,

»daß gepfleget werde /
Der veste Buchstab, und bestehendes gut / Gedeutet«.[5]

Das Hölderlin-Imperium schlägt umgehend zurück. Das ganze Unternehmen der FHA sei rein politisch motiviert und schon des­wegen wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen, der Herausgeber Sattler ein fach­fremder Autodidakt. Die Auseinander­setzung zog sich lange hin und ist mittler­weile Gegenstand einer »historischen Kontroversenforschung« geworden.[6] Das Ergebnis der Auseinandersetzung lässt sich mit dem Titel eines Büchleins aus dem Merve Verlag, ebenfalls aus dem Jahr 1975, zusammenfassen: Die Revolution ist vorbei, wir haben gesiegt. Die FHA löste eine editions­philologische Revolution aus, hinter die es kein Zurück gab. Sie etablierte einen neuen Standard, der nicht zuletzt in den großen Editionsprojekten zu Kleist und Kafka bekräftigt wurde, die in der Folge bei Roter Stern erscheinen sollten.

Wissenschaftshistorisch könnte man die Geschichte der FHA also als Lehrstück darüber lesen, wie ein wenigstens zum Teil von außerhalb der Wissenschaft kommender politisch-aktivistischer Impuls ein wissenschaftliches Feld aufmischt und neu sortiert, bis sich dort schließlich ein Paradigmenwechsel vollzieht. Eine solche Erfolgsgeschichte atmet indes wenig Hölderlin’schen Geist. Denn ihm waren immer auch die Verluste und die »Narben« wichtig, die der Gang der Geschichte schlägt.[7] Vielleicht müssen wir, gerade wenn es um den Zusammenhang von Aktivismus und Wissenschaft geht, auch danach fragen, was aus den initialen politischen Impulsen wird, wenn sich der »rationale Kern« der wissenschaftlichen Debatte herausschält und der Aktivismus überflüssig zu werden droht.

Zur politischen Dimension der FHA gehörte eine Provokation, die aufs eigene Lager zielte: Gekämpft wurde nicht nur gegen die Verfälschung Hölderlins, sondern auch gegen eine Linke, die diese nicht durchschaut und sich deshalb für Hölderlin gar nicht erst interessiert. Dieser Konflikt wird gleich im ersten Heft von Le pauvre Holterling offengelegt, einer Schriftenreihe, die die FHA als Organ einer wissenschaftlichen und politischen Selbstverständigung und Gegenöffentlichkeit von Anfang an begleitet hat. In einem »offenen Brief« mokieren sich hier »ehemalige Mitarbeiter« des Verlags über die FHA, die sie unter Verweis auf die portugiesische Revolution, die »Obdachlosen«, die »arbeitslosen Jugendlichen«, das »tapfer kämpfende Volk der Palästinenser« und schließlich »die Genossen im Knast« als politisch überflüssig verwerfen. Eigentlich gehe es wohl darum, als »linke[r] Verlag« in der Krise zu überleben, »indem man bürgerliche Dichter, die begriffs- und gefühlsduselig antikapitalistisch waren, verlegt und den Linken als links und revolutionär, den Bürgern als ›nichtradikale Neueinschätzung‹ (FAZ) verkauft«.[8]

Darauf antwortet im gleichen Heft der selbst »im Knast« einsitzende Schriftsteller Peter Paul Zahl. Der hält zunächst fest, dass er nicht »für revolutionäre Portugiesen, Obdachlose, Jugendliche und Palästinenser« sprechen könne, wohl aber vielleicht für die »Genossen im Knast« – und als ein solcher brauche er persönlich den unverfälschten Hölderlin unbedingt, um im Gefängnis zu überleben. Zahl mahnt einen kulturrevolutio­nären Kampf an, der sich nicht ausschließlich an »konkreten Tageszielen« orientieren dürfe, sondern auch eine »Rekonstruktion von Sinnlichkeit und Sprache, von Kommunikation« im Blick haben müsse – und dabei »kann Hölderlin uns helfen«.[9] Zahls Intervention verdeutlicht, dass die FHA auch zur kulturellen Aufklärung einer kulturbanau­sischen Linken beigetragen hat. Die ehemaligen Mitarbeiter aber haben vielleicht auch einen Punkt, wenn sie danach fragen, was von einer revolutionären Edition bleibt, wenn das übergreifende politische Projekt verloren geht.

In der politischen Ernüchterung und Depression, die nach 1975 bald eintrat, kehrte sich der polemisch-aktivistische Impuls der FHA gewissermaßen nach innen. Im Verbund von Verlag und Herausgebern kommt es nun zu Friktionen, die mitunter beklemmende Züge annehmen. Die Herausgeber etwa werfen dem Verlag vor, auf seinen Rechten zu beharren und so die Verbreitung des »echten« Hölderlin zu verhindern. Und Sattler, der als überzeugter Antiakademiker die FHA immer auch als Einspruch gegen eine »szientifisch verkürzte« Literaturwissenschaft verstanden hat, kann es nur als Verrat werten, wenn einzelne seiner Mitherausgeber mit ihrer editorischen Kompetenz bald akademische Karriere machen.[10] Vom einst kämpferischen Kollektiv bleiben schließlich nur verfeindete Einzelne übrig, die sich verraten fühlen.

Wenn wir heute über Wissenschaft und Aktivismus debattieren, dann geht es schnell um die Gefahren des Aktivismus für die Wissenschaft. Die Geschichte der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe lehrt hier Gelassen­heit: Mitunter speisen sich die großen wissen­schaftlichen Innovationen genau aus den aktivistischen Impulsen, die den Zeitgenoss:innen völlig überspannt oder sogar verrückt erscheinen. Die Geschichte der FHA lehrt aber auch, nach den Kosten solcher Erfolge für die Aktivist:innen und ihr politisches Anliegen zu fragen. Denn unter dem Zwang des wissenschaftlichen Fortschritts werden diejenigen, die sich nicht anpassen wollen oder können, schnell zu den »Untergetretenen« und »Irregeführten«, von denen die Geschichte voll ist und denen wir – den letzten Sätzen von Sattlers Nachwort zum letzten Band der FHA folgend – beizustehen haben:

»Zornlos, kraft tieferer Einsicht.«[11]

 

Der Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe arbeitet am ZfL auf einer Heisenberg-Stelle der DFG mit dem Projekt Georg Lukács: eine intellektuelle Biographie. Außerdem leitet er das Projekt Kartographie des politischen Romans in Europa. Sein Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2023/24, »Aktivismus und Wissenschaft«.

 

[1] D. E. Sattler: »Persönlicher Bericht. VII« auf der persönlichen Homepage hoelderlin.de unter »d e sattler – entwuerfe editionen«.

[2] Vgl. Theodor W. Adorno: »Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins« [1963], in: ders.: Noten zur Literatur, Frankfurt a.M. 1981, S. 447–491; Peter Szondi: »Hölderlin-Studien« [1967], in: ders.: Schriften I, Berlin 2011, S. 261–366.

[3] Pierre Bertaux: Hölderlin und die Französische Revolution, Frankfurt a.M. 1969, und ders.: Friedrich Hölderlin. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 1978.

[4] Michel Leiner/D. E. Sattler/KD Wolff: »Vorwort«, in: Frankfurter Hölderlin-Ausgabe, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1975, S. 10–19, hier S. 17.

[5] So heißt es im Schluss von Hölderlins Patmos.

[6] Vgl. Gideon Stiening: »Editionsphilologie und ›Politik‹. Die Kontroverse um die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe«, in: Ralf Klausnitzer/Carlos Spoerhase (Hg.): Kontroversen in der Literaturtheorie / Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern u.a. 2007, S. 265–298.

[7] »ein Ärgerniß aber ist Tempel und Bild, // Narben gleichbar zu Ephesus. Auch Geistiges leidet« – so die späte, selbst tief vernarbte Überarbeitung von Brod und Wein.

[8] Sechs Mitarbeiter und ehemalige Mitarbeiter: »Liebe Mitarbeiter des Verlags Roter Stern! Offener Brief«, in: Le pauvre Holterling. Blätter zur Frankfurter Hölderlin-Ausgabe 1, 1976, S. 22.

[9] Peter Paul Zahl: »An ehemalige Mitarbeiter des Verlags Roter Stern. Offener Brief«, in: Le pauvre Holterling (Anm. 8), S. 23–25, hier S. 23f.

[10] Leiner/Sattler/Wolff: »Vorwort« (Anm. 4), S. 17.

[11] D. E. Sattler: »Zur Edition«, in: Frankfurter Hölderlin-Ausgabe, Bd. 20, Frankfurt a.M. 2008, S. 8.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Patrick Eiden-Offe: Editionsphilologie als Aktivismus: Der umkämpfte Hölderlin, in: ZfL Blog, 5.12.2023, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/12/05/patrick-eiden-offe-editionsphilologie-als-aktivismus-der-umkaempfte-hoelderlin/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20231205-01

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