Elke Schmitter: LET’S CALL IT NACHBARSCHAFT

Neujahrsempfang, Eberhard-Lämmert-Saal, Begrüßung durch Eva Geulen, Vorstandsvorsitzende der GWZ

Im Sommer 2023 zogen das ZfL, das ZAS und die gemeinsame Verwaltung der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin aus der Schützenstraße in Berlin-Mitte nach Wilmersdorf. In dem an der Pariser Str. 1, Ecke Meierottostr. 8  neu errichteten Gebäude ACHTUNDEINS von Eike Becker_Architekten bespielen die Zentren nun insgesamt drei Etagen. Im Erdgeschoss befinden sich, von außen einsehbar, die Forschungsbibliotheken von ZfL und ZAS sowie der Eberhard-Lämmert-Saal. Während des Neujahrsempfangs, mit dem sich ZfL, ZAS und die GWZ am 11. Januar 2024 der unmittelbaren Nachbarschaft vorstellten, entstand die Idee zu dieser Glosse.

Die Redaktion

Der Zettel war klein, das Fenster war groß, dahinter der Bücher viele: So ein freundliches Rätsel am Rande der lauten Straße. Immer gerät man, war’s eben noch schön, an so eine Brache in dieser Stadt, die dem Fußgänger sagt: Hier bist du nicht bedacht. Hier waltet die Schneise, die dich vom anderen Ufer über sechs bis acht Spuren trennt, hier hat ein komatöser Nachkriegspolitiker mal auf den Planungstisch gehauen und einen Platz ausgerufen (der aus einer Kreuzung und einer Unbehaustheit besteht), und immer sind die Ampeln so geschaltet, dass die Kleinen und die Gebrechlichen auf dem Mittelstreifen noch mal daran erinnert werden, dass sie zu klein und zu gebrechlich sind für die Geschäftigen, die Motorisierten, die Durch- und Draufgänger des Verkehrs, die hier nichts suchen und erst recht nichts finden.

Neujahrsempfang, Blick von außen durch das Fenster in den Eberhard-Lämmert-Saal

Doch dann findet so ein Zettel dich und sagt: Wir ziehen hierher und freuen uns schon. Sind, leider schade, kein öffentlicher Ort, aber sprechen doch eine Art Willkommen aus; keine Aufenthaltsgarantie, doch eine Geste, die sagt: Es ist uns nicht egal, wo wir sind, und wir würden auch gerne bleiben.

Und drei Tage später klopfte ich an die Scheibe und ließ mir artig erklären, was für eine Bibliothek das ist (ohne schnippischen Verweis auf die Website, wo ja alles Nötige steht), und noch am Abend schrieb ich eine Mail, ob ich möglicherweise – als Autorin ohne wissenschaftlichen Auftrag – hin und wieder kommen könnte, um ein bisschen zu suchen, zu finden, zu lesen, für einen Roman mit Fußnoten, der gerade entsteht … Und bekam eine freundliche Antwort. Und wiederum zwei Tage später, im tristen Novembergrau, akkreditierte ich mich, ganz offiziell und zugleich angenehm formarm, und mein Blick schnürte einmal die kleinen und großen Gänge entlang, und ich dachte: Hier ist gut sein.

Und schon am übernächsten Tage war es so weit, ein kleiner, urbaner Schicksalsschlag: das Schlüsselmäppchen aus der Tasche gerutscht, darin frisches Geld, die EC-Karte; was einen so zur Bürgerin macht. Und wenn man zu denen gehört, die auf Handtaschen gern verzichten, auf Rucksäcke sowieso, und gern so durch die Straßen flanieren, als wären sie da zu Hause – dann ist das eben der triviale worst case. Dann läuft man noch ein bisschen die Wege ab, und bevor einem klar wird, dass man, natürlich, im Café Manzini oder im Café Piter auf das gewohnte Gesicht Kredit bekäme, um die Zeit zu überbrücken, bis die Mitbewohnerin kommt (und dem Novemberregen so zu entgehen): ist man schon so weit demoralisiert, dass man sich nicht mehr kreditwürdig fühlt.

Aaaber: Da gibt es ja diesen Ort … Und da durfte ich ja auch offiziell hin.

Und da war ich dann auch willkommen.

Legte den schnell dampfenden Mantel ab, ging ein paar Schritte hin und her, vor den Gängen und zwischen den Gängen, nahm die Ruhe auf, die aus den Gesichtern sprach und von den Buchrücken geradezu übersprang. Geriet durch glückliche Fügung in gerade jene Regalreihe, in der das Archiv für Begriffsgeschichte in allen Jahrgängen still und doch selbstbewusst prangt, und damit in aufs Angenehmste nerdig-konzentrierte Aufsätze des Bandes Trost (65,1; hrsg. von Carsten Dutt, Hubertus Busche und Michael Erler), in dem durch die Autoren Gerhard Schreiber und Martin Laube die Erwägungen von Kierkegaard und Blumenberg, von Rodin wie Koselleck miteinander zum Sprechen kamen. Interessant für mich als Ungläubige: Dass Kierkegaard den Trost des Christentums eben nicht als Wohltat versteht, die man spendet (für beispielsweise eine wie mich), dass er eben kein Ersatz sei »für den Verlust zeitlicher Freude, sondern selbst Freude ist, und zwar die der Ewigkeit«. Eine ultimative Hoffnung, für die es keine Begründung gibt, nur einen Entschluss, eine Art performative Selbstschleuderung ins Transzendente. Und dann, überraschend zornig oder auch bitter, vielleicht Adorno-geschult, ein Zitat des Theologen Henning Luther (sic!) von 1998: 

»Trost wird da zur Lüge, wo Sinn suggeriert wird und jeder Anflug eines Verdachts der Unsinnigkeit und Sinnlosigkeit unserer Lebensverhältnisse tabuisiert und verdrängt wird.«

Neujahrsempfang, Keynote Lecture Michael Mönninger, »Der Neubau ACHTUNDEINS und seine Nachbarschaft«

All das interessant für den Kopf, während der Körper, auch als atmosphärisches Wesen gedacht, den tatsächlichen Trost des Obdachs genoss, das ich hier gefunden hatte. Und der mich natürlich bindet, weshalb ich ein glücklicher Gast dieses Hauses zu nennen bin. Erst recht nach der splendiden nachbarschaftlichen Öffnung und Feier am 11. Januar 24, bei der Michael Mönninger historisch-kritischen Aufschluss gab über den Kontext dieser neuen Immobilie, ihre berlintypische Verwobenheit in architektonische wie menschliche Bill wie Unbill; Fuge, Fügung, alles dabei. Als würde die Stadt, dürstend nach Schönheit und städtebaulichem Verstand, abwechselnd aus Lethe und Mnemosyne trinken. Im Unterschied zu den Eröffnungspartygästen, die ganz anderes zu sich nahmen. Aber mit garantiertem Mnemosyne-Effekt!

Elke Schmitter ist Journalistin und Schriftstellerin und wohnt in der Nachbarschaft des ZfL.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Elke Schmitter: Let’s Call It Nachbarschaft, in: ZfL Blog, 8.2.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/12/05/patrick-eiden-offe-editionsphilologie-als-aktivismus-der-umkaempfte-hoelderlin/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240208-01