Februar ist Black History Month[1] und damit der ideale Zeitpunkt, eine Blogserie über Berliner Orte zu beginnen, die wir – Gianna Zocco und Sandra Folie – im Zuge unseres neuen Forschungsprojekts »Schwarze Narrative transkultureller Aneignung« besuchen: Museen, Theater, Verlage, Archive usw., die für eine afroeuropäisch fokussierte Literatur- und Kulturforschung relevant sind und mit denen wir ins Gespräch kommen wollen.[2] Die erste Exkursion führte mich zur Ausstellung BERLIN GLOBAL im Humboldt Forum, die zu zeigen versucht, »wie die Stadt und ihre Menschen mit der Welt verbunden sind«[3]. Sie beruft sich dabei auf eine vielstimmige, partizipative Konzeption und Umsetzung und beschäftigt sich intensiv mit dem Thema des Kolonialismus und seinen Nachwirkungen.
Unter dem Titel »Sichtbar werden« führten eine externe afrodeutsche Expertin und eine Museumsvermittlerin im Gespräch – miteinander, aber auch mit der Gruppe – durch die Spuren Schwarzer[4] Geschichte(n) in der Ausstellung.[5] Welche Aspekte Schwarzer Geschichte(n) müssen aber in einer solchen Ausstellung erst im Rahmen einer speziellen Führung »sichtbar werden«, fragte ich mich vorab. Und würde sich die Führung mit ihrem Anspruch der Sichtbarmachung als ein Akt des narrating back und damit der partiellen oder temporären Aneignung eines (zu) weiß kodierten Raumes wie des Humboldt Forums[6] begreifen lassen?
Die Expertin, die den thematischen Fokus setzte, war Tanja-Bianca Schmidt, freie Kuratorin und Kunsthistorikerin an der TU Dresden mit den Schwerpunkten Black Identity, rassismuskritische Kunstgeschichte, Ästhetik der Migration und Postkoloniale Theorie. Zusätzlich zu ihrer beruflichen Expertise brachte sie ihre persönlichen Erfahrungen als Schwarze Deutsche mit ein. Sophie Eliot, die als Outreach-Spezialistin für das Stadtmuseum Berlin tätig ist und sich in der diskriminierungskritischen und -sensiblen Museumsarbeit verortet, war ihre Gesprächspartnerin.[7]
Prolog: Wer denkt hier die Welt?
Im ersten Raum der Ausstellung ist ein 360-Grad-Wandbild des Künstlerduos How & Nosm zu sehen (Abb. 1).[8] Bei meinem ersten, schon länger zurückliegenden Ausstellungsbesuch hatte ich dieses Bild mit dem Titel Weltdenken nicht besonders eingehend betrachtet. Einzig an die Porträts von Alexander und Wilhelm von Humboldt darin konnte ich mich gut erinnern – zum einen aufgrund ihrer prominenten Positionierung, zum anderen auch, da sich ihre fotorealistischen Abbildungen vom restlichen Street-Art-Stil (schwarze Outlines, häufig ohne Füllung) absetzen. Doch was zeigt das raumgreifende Wandbild abseits der Namensgeber des umstrittenen Berliner Schlosses? Welche Geschichte wird erzählt? Die Führung beginnt mit Fragen und dem Auftrag, das Wandbild erst einmal zu betrachten.
Die Gruppe trägt zusammen, dass eine Geschichte der Ausbeutung, Zerstörung und Gewalt abgebildet ist, des Versklavungshandels und des deutschen Kolonialismus. Die Eingangswand zeigt den brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1620–1688), einen der Bauherren des Berliner Schlosses und Gründer der ersten deutschen Kolonie in Afrika, »Groß-Friedrichsburg« im heutigen Ghana. Auf seine aktive Rolle im transatlantischen Versklavungshandel weisen das Dreieckssymbol, die in Ketten gelegten People of Color und das Schiff hin. Auf der gegenüberliegenden Wand sind die Benin-Bronzen, Bismarck und die Afrika-Konferenz 1884/85 zu erkennen. Nach einer Sammlung erster Eindrücke wird es still. Schmidt fragt nach dem Mann, der übergroß in einer breiten Grätsche dargestellt ist, in einer Hand die Welt, in der anderen eine Karte von Afrika. Die Abbildung beruht auf der populären Karikatur des von Kapstadt bis nach Kairo grätschenden Rhodes Colossus (Abb. 2). Doch was macht Cecil Rhodes im deutschen Kolonialismus? Die Zusatzmaterialien zum Wandbild beantworten die Frage damit, dass das Bild nicht einzig den deutschen, sondern den europäischen Kolonialismus zeige.[9] Das große Schiff neben Friedrich Wilhelm stehe für die Eroberung Amerikas und der britische Kolonialpolitiker Cecil Rhodes versinnbildliche den kolonialen Größenwahn. So betrachtet, wirkt der deutsche Kolonialismus be(un)ruhigend klein.
Schmidt und Eliot machen auf eine markante Frauenfigur inmitten all der weißen Eroberer und namenlos bleibenden Schwarzen Eroberten aufmerksam. Es handelt sich um den Gedenkkopf einer Königinmutter (Iyoba) aus Benin – erkennbar an der Form ihrer Krone. Amt und Titel der Königinmutter, die eine wichtige politische Position einnahm, wurden im frühen 16. Jahrhundert eingeführt (Abb. 3). Das Ethnologische Museum besitzt eine ganze Reihe solcher Objekte, die im Zusammenhang mit der britischen Eroberung von Benin »vermutlich geplündert« und dem Museum irgendwann »geschenkt« oder »verkauft« wurden.[10] Die Abbildung eines Königinmutter-Gedenkkopfes in den Zusatzmaterialien illustriert zwar einen kurzen Informationstext über »geraubte Kunst«, dieser handelt allerdings nur von den Benin-Bronzen im Allgemeinen und enthält keinerlei Informationen über die Königinmutter oder die dahinterstehende Tradition.[11]
Die erste Station der Führung regt dazu an, über Sichtbarkeit, Kontextualisierung und Publikumsansprache nachzudenken. Der Einführungsraum ist zweifelsohne ein prominenter Ort, um den deutschen Kolonialismus zu thematisieren, aber wird das raumgreifende Wandbild ob seiner Unübersichtlichkeit nicht leicht übersehen bzw. als bloßes Ornament wahrgenommen? Und genügt es, diese Art von »Weltdenken« zu zeigen bzw. darauf zu vertrauen, dass Besucher:innen die digital bereitgestellten Zusatzmaterialien konsultieren? Was oder wen finden sie dort (nicht)? Das Wandbild soll »atmosphärisch« in der Ausstellung willkommen heißen,[12] doch wer heißt in dieser weiß und männlich perspektivierten Darbietung von Ausbeutung und Gewalt wen willkommen?
Begrenzt divers: Eine unvollendete Revolution
Einer der nächsten Themenräume zur »Revolution« beleuchtet die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Forderung nach Bürgerrechten (Abb. 4). Es stehen die für Deutschland und Berlin zentralen Revolutionsjahre 1848, 1918 und 1989 im Fokus. Etwas abseits, an der Außenseite jener zwei raumgreifenden elliptischen Wände, innerhalb derer sich das »Rad der Geschichte« befindet,[13] ist ein großes Bild der in Berlin lebenden ägyptischen Künstlerin Hanaa El Degham zu sehen: Die Wiedergeburt des Osiris. Ich muss gestehen, dass ich dieses bei meinem ersten Ausstellungsbesuch nicht weiter beachtet hatte. Es sind darauf überwiegend People of Color zu sehen, die durch einschlägige Gesten – erhobene Fäuste, gekreuzte Arme, vier ausgestreckte Finger und eingeklappte Daumen –, ihren Protest ausdrücken. Teils übermalt, teils aber auch gut lesbar in Aussparungen platziert, sind kurze handschriftliche Texte in das Bild integriert. Schmidt und Eliot laden dazu ein, einen dieser Texte gemeinsam zu lesen:
Über die Abwesenheit der Diversität:
Haben Sie sich schon einmal gefragt,
wer alles NICHT ins Museum
geht. wer sich von den prunkvollen
Bauten, goldenen Kuppeln und glänzendem
Kreuz nicht eingeladen fühlt?
Museen sollten ein Ort der Vielen
sein, sowohl die ausgestellten Objekte
und Inhalte, aber auch die Menschen,
die sie besuchen.
In einem aufgezeichneten Gespräch mit Eliot gab El Degham preis, dass sie nicht einfach eingeladen wurde, etwas zur Ausstellung beizutragen. Vielmehr sollte sie bestimmte, vorgegebene Inhalte umsetzen. Erst als sie dies strikt ablehnte, wurden ihr mehr Freiheiten eingeräumt. Sie fasste den Entschluss, sich den Raum zu nehmen, um zu sagen, was sie sagen wollte, und vor allem auch, weiteren Aktivist:innen und Künstler:innen diese Möglichkeit zu geben. Deren Zitate, die sich wie das obige teils sehr kritisch auf das Humboldt Forum und sein Selbstverständnis »als ein Forum der Vielstimmigkeit« beziehen, bilden den Hintergrund des Wandbilds. Sie stellten nicht nur eine wichtige Inspiration für El Deghams Arbeit daran dar, sondern nennen auch das beim Namen, was im Zusammenhang mit dem behaupteten Kosmopolitismus, der Multikulturalität und Diversität des Humboldt Forums gewissermaßen den Elefanten im (Ausstellungs-)Raum darstellt. Im Pressedossier »Kolonialismus« findet sich dazu nur eine etwas verhalten klingende Anmerkung: »Auch werden in dem Wandbild Bezüge auf das wiedererrichtete Berliner Stadtschloss hergestellt, dem einstigen Sitz der preußischen und deutschen Kolonialherren.«
Eine Künstlerin of Color einzuladen, zu einem zentralen Thema der Ausstellung beizutragen, das nicht unmittelbar mit ihren persönlichen Rassismuserfahrungen in Deutschland zu tun hat, ist ein wichtiger Schritt, aber auch einer, der inzwischen erwartet und eingefordert wird. Schon vor dreißig Jahren beschrieb die afrodeutsche Dichterin und Aktivistin May Ayim die Problematik einer Einladungspolitik, die auf der persönlichen Betroffenheit von Minderheiten basiert: »Die ›Betroffenen‹ waren nur geladen, um über ›ihre Probleme‹ zu sprechen. Sie wurden weder als GesprächspartnerInnen noch als Persönlichkeiten mit vielfältigen Interessen und Arbeitsschwerpunkten ernst genommen.«[14] Das traf auf El Degham, die eingeladen wurde, um zum Thema Revolution zu arbeiten, so nicht mehr zu. Die Versuche, ihren künstlerischen Output zu steuern, und die Platzierung ihres Kunstwerks an den äußersten Rändern des Raumes machen jedoch deutlich, dass eine diversere, von persönlicher Betroffenheit abrückende Einladungspolitik allein nicht garantiert, dass jemand als Gesprächspartner:in, Persönlichkeit und Künstler:in ernst genommen wird.
Grenzenlos unverschämt: Schwarze Deutsche als »Subkultur«
»Berlin bot schon immer Raum für Menschen, die anderswo nicht leben durften, wie sie wollten«, heißt es in einer Beschreibung des Themenbereichs »Freiraum«, der »von Projekten und Utopien« erzählt, »die in den Nischen der großen Stadt gediehen«. Es gibt verschiedene voneinander abgegrenzte Sektionen, etwa über Geschlecht, Kunst oder Subkulturen. In letzterer verweilen wir. Auf einer chronologisch arrangierten Schautafel werden unterschiedliche Beispiele zur Geschichte der Subkulturen in Berlin präsentiert: von der Wandervogelbewegung über die Hippies bis hin zur Vielfalt und Verdrängung der Alternativkulturen heute. Zwischen Hausbesetzungen und Punkfestivals findet sich die »Schwarz-Deutsche Bewegung«, die eigentlich Afrodeutsche oder Schwarze Deutsche Bewegung[15] heißt und seit Mitte der 1980er dafür kämpft, Schwarzes Deutschsein in der weißen Mehrheitsgesellschaft sichtbar zu machen. Schmidt gibt zu bedenken, welch verletzende Setzung vorgenommen wird, wenn die Schwarze Deutsche Bewegung – und damit Schwarze Deutsche – als »Subkultur« ausgewiesen werden; wörtlich übersetzt eine Kultur ›unterhalb‹ der gegebenen Kultur, die laut Duden auch eigene Normen und Werte vertritt. Das gilt umso mehr, als die anderen Subkulturen, die auf der Schautafel abgebildet sind, Beispiele für Jugend-, Alternativ- und/oder Gegenkulturen darstellen.[16] Die Schwarze Deutsche Bewegung setzte sich jedoch weder überwiegend aus Jugendlichen zusammen noch ging es ihr in erster Linie darum, die Normen und Werte der Mehrheitsgesellschaft infrage zu stellen. Vielmehr handelte es sich um eine Gruppe von Deutschen, die sich zusammenfand, weil sie im Alltag rassistisch diskriminiert und ihr Deutschsein immer wieder angezweifelt wurde. Die Stadt Berlin war für diesen Prozess des Zusammenfindens zentral, da sich hier afroamerikanische und afrodeutsche Aktivist:innen kennenlernen und vernetzen konnten.
Auf der »Subkultur«-Schautafel ist Audre Lorde abgebildet, die 1984 eine Gastprofessur am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin innehatte und bei der Entstehung der Schwarzen Deutschen Bewegung eine wichtige Rolle spielte. Sie brachte die oft einzeln gegen Rassismus ankämpfenden Schwarzen deutschen Studierenden (vor allem Frauen) zusammen und entwickelte mit ihnen, analog zum Begriff ›African American‹ oder ›Afro-American‹, ›Afro-Deutsche‹ als Eigenbezeichnung. Eine ihrer Studentinnen, May Ayim, sollte das Gesicht und die Stimme der Afrodeutschen Bewegung werden. Bei dem Zitat, das ohne Quellenangabe neben ihrem Bild abgedruckt ist – »ich werde trotzdem / afrikanisch / sein / auch wenn ihr / mich gerne / deutsch / haben wollt / und werde trotzdem / deutsch sein / auch wenn euch / meine schwärze / nicht paßt« –, handelt es sich um den Anfang ihres erstmals 1995 erschienenen Gedichts »grenzenlos und unverschämt. ein gedicht gegen die deutsche sch-einheit«.[17] Der Titel liest sich an dieser Stelle fast wie ein Kommentar auf die Bezeichnung der Schwarzen Deutschen Bewegung als Subkultur bzw. darauf, dass Schwarze Deutsche, die eine Normalisierung Schwarzen Deutschseins einforderten und sich gegen den Schein eines inklusiven, wiedervereinigten Deutschlands wandten, schnell als partikularistisch wahrgenommen wurden.
Die Porträts der beiden Dichterinnen illustrieren die Bedeutung sowohl von Frauen wie auch von Literatur für die Schwarze Deutsche Bewegung.[18] Bereits das von Ayim 1986 mitherausgegebene Gründungsdokument der Bewegung, Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, enthielt neben historischen Abrissen und Interviews Gedichte und kurze Prosaskizzen. Zudem gaben die beiden aus der Bewegung hervorgehenden Vereine Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) und Afrodeutsche Frauen/Schwarze Frauen in Deutschland (ADEFRA) Literaturzeitschriften heraus. Passend zu ihren Ausführungen zum literarischen Schwerpunkt in der Schwarzen Deutschen Bewegung liest Schmidt abschließend May Ayims Gedicht afro-deutsch I vor. Darin eignet sich die Dichterin eine weiße deutsche Stimme an, die sich an ein Schwarzes ›stummes‹ bzw. für Leser:innen/Hörer:innen nicht vernehmliches Gegenüber richtet. Das weiße Textsubjekt monologisiert vor sich hin und entlarvt sich dabei als das rassistische Ich, das es zu sein verneint:
Sie sind afro-deutsch?
… ah, ich verstehe: afrikanisch und deutsch.
Ist ja ’ne interessante Mischung!
Wissen Sie, manche, die denken ja immer noch,
die Mulatten, die würden’s nicht
so weit bringen
wie die Weißen
Ich glaube das nicht.
Ich meine, bei entsprechender Erziehung …
Sie haben ja echt Glück, daß Sie
hier aufgewachsen sind
Bei deutschen Eltern sogar. Schau an![19]
Epilog: Das andere ewige Dilemma
Ich gehe nach der Führung noch einmal durch die inzwischen fast menschenleere Ausstellung und merke, dass ich nun einiges anders sehe oder überhaupt anderes sehe. Bei meinem ersten Besuch war ich auf eine Art, so banal das klingt, froh, dass Schwarze Geschichten vorkommen und deutscher Kolonialismus und Rassismus ansatzweise kritisch thematisiert werden. Mir war vor allem der sehenswerte Interviewfilm Entertain Berlin von Jermain Raffington in Erinnerung geblieben und ich wundere mich, warum er in der Führung nicht vorkam. Der Film, in dem vier Schwarze Deutsche unterschiedlicher Generationen – Theodor Wonja Michael, Marie Nejar, Langston Uibel und Aminata Belli – von ihren Erfahrungen mit Rassismus in der Unterhaltungsindustrie berichten, wird im Themenraum »Vergnügen« gezeigt. Als ich nun noch einmal an dieser Station vorbeigehe, sticht mir die Triggerwarnung ins Auge, die angesichts des Materials (u.a. Ausschnitte aus NS-Kolonialfilmen) durchaus nachvollziehbar ist. Ich finde den Film immer noch gut, stelle mir aber nun auch die Frage, an wessen »Vergnügen« bei seiner Positionierung in diesem Themenraum gedacht wurde? Wäre es vorstellbar, einen Film über Sexismus in der Unterhaltungsindustrie unter dem Label »Vergnügen« auszustellen? Vielleicht ja, wenn die Kontextualisierung stimmt, wenn nicht der Eindruck entstünde, der ›Frauenbereich‹ im Themenraum »Vergnügen« wäre dem Sexismus gewidmet, und wenn in Begleittexten, die das Konzept des Raumes erläutern, nicht etwa »Spannungen« zwischen den Geschlechtern für die Abgründe der Vergnügungskultur verantwortlich gemacht würden. In der Kurzbeschreibung des Themenraums heißt es allerdings: »Die Vergnügungskultur lebt seit jeher vom internationalen Austausch. Auch in Berlin existiert in Musik und Tanz, Theater und Kino ein Nebeneinander und Miteinander unterschiedlicher kultureller Traditionen, aus dem auch ein Spannungsverhältnis und Abgrenzung entstehen kann.«
Vielleicht haben wir es hier und in der Ausstellung insgesamt mit dem zu tun, was Priya Basil in ihrem Kurzfilm-Essay zur Eröffnung des Humboldt Forums »das andere ewige Dilemma« nannte. Wie soll man sich mit den Fragen danach, wer gewürdigt und erinnert werden soll, »auseinandersetzen, ohne die vergangene Gewalt in anderer Weise zu wiederholen? Wie kann man versuchen, etwas nachzubessern, ohne ungewollt neues Leid zuzufügen?«[20] Diesem Dilemma müssen wir uns mit Sicherheit auch in unserem Projekt stellen, und das nicht einmalig, sondern kontinuierlich. Der Besuch von Orten, an denen Schwarze deutsche Geschichte und Geschichten erzählt werden, und das Gespräch mit Menschen, vor allem auch Schwarzen Deutschen, die sie erzählen, soll das präsent halten. Vielleicht können weiße Sehgewohnheiten mithilfe solcher Exkursionen, Dialoge und rassismuskritischer Vermittlungsangebote wie der Tandemführung von Tanja-Bianca Schmidt und Sophie Eliot ein Stück weit verlernt werden. Und vielleicht lässt sich dieses Verlernen auch in das unmittelbarere eigene Wirkungsfeld – z.B. vom Museum in die Literaturwissenschaft – transferieren. Die Führung »Sichtbar werden« hat jedenfalls fruchtbare Anregungen gegeben, die meinen Blick auf die Ausstellung und auf die darin (nicht) erzählte(n) Schwarze(n) Geschichte(n) nachhaltig verändert haben.
Die Literaturwissenschaftlerin Sandra Folie arbeitet am ZfL im ERC-Projekt »Schwarze Narrative transkultureller Aneignung: Literarische Akte des Konstruierens afro-europäischer Welten und der Infragestellung europäischer Grundlagen«.
[1] Der Black History Month (BHM) wird in Deutschland, ebenso wie in den USA, in Kanada und zahlreichen europäischen Ländern, im Februar gefeiert. In Deutschland wurde diese Tradition schon vor über 30 Jahren eingeführt, um auch hierzulande Schwarze Geschichte(n) sichtbar(er) zu machen. Der BHM wurde erstmals von der Initiative Schwarze Menschen (ISD) in Berlin (mit)organisiert. Über das genaue Datum – Dank an Gianna Zocco für den Hinweis – herrscht in der Literatur Uneinigkeit: Ika Hügel-Marshall nennt das Jahr 1985, May Ayim einmal 1989 und ein anderes Mal 1990. Vgl. Ika Hügel-Marshall: Daheim unterwegs. Ein deutsches Leben, Frankfurt am Main 2001, S. 94; May Ayim: Grenzenlos und unverschämt, Münster 22022, S. 93 bzw. S. 153.
[2] Neben Gianna Zocco und mir werden voraussichtlich auch die zwei Doktorand:innen, die das Projektteam ab Herbst 2024 vervollständigen, zu dieser Blogserie beitragen. Orte in Berlin und damit in unserer unmittelbaren Lebens- und Arbeitsumgebung sollen erst einmal den Ausgangspunkt der Exkursionen bilden – eine räumliche Erweiterung ist aber nicht ausgeschlossen und wird auch von den Lebensumständen und Interessen der zukünftigen Projektmitglieder abhängen.
[3] Ausstellung Berlin Global, »Was Sie erwartet«.
[4] Bei ›Schwarz‹ handelt es sich um eine Selbstbezeichnung von Black, Indigenous (and) People of Color (BIPoC), die über die Hautfarbe hinausgeht und auf einem Verständnis von race als sozialer Kategorie beruht. Die Großschreibung unterstreicht den soziopolitischen Akt des Widerstands gegen die weiße Vorherrschaft. Die Verwendung eines kleinen ›w‹ bei der Schreibweise von ›weiß‹ weist darauf hin, dass es sich nicht um eine Selbstbezeichnung handelt, sondern um eine Analysekategorie, die von Schwarzen Wissenschaftler:innen geschaffen wurde, um die weiße europäische Norm sichtbar zu machen.
[5] Ich habe die Tandemführung am 20.1.2024 besucht.
[6] Als der Bundestag 2002 für den Wiederaufbau eines Schlosses aus der Zeit der Preußenkönige und des Kaiserreichs, des Militarismus und Kolonialismus, stimmte, formierte sich zivilgesellschaftlicher Widerstand. Kritik von aktivistischer wie auch wissenschaftlicher Seite regte eine längst überfällige öffentliche Debatte über die deutsche koloniale Vergangenheit und Erinnerungskultur an. Zum Humboldt Forum als weiß, kolonial und/oder feudal kodiertem Raum vgl. beispielsweise Nikita Dhawan in einem Radiointerview für Deutschlandfunk Kultur (27.6.2020); das Kurzfilm-Essay zur Eröffnung des Humboldt Forums 2021 von Priya Basil: Locked In and Out (2021); oder auch Fatima el-Tayeb: »The Universal Museum: How the New Germany Built its Future on Colonial Amnesia«, in: Nka 46 (2020), S. 72–82.
[7] Meine folgenden Reflexionen beziehen sich auf ausgewählte Stationen der Führung. Auch hat Tanja-Bianca Schmidt in einem Telefonat mit mir (geführt am 31.1.2024) erläutert, dass die Führung »Sichtbar werden«, die sie schon einige Male durchgeführt hat, nicht immer gleich abläuft. Die Schwerpunkte variieren und werden von ihr teilweise situativ angepasst.
[8] Es gibt die Möglichkeit, das Wandbild online zu besichtigen. Dies birgt den Vorteil, dass die zusätzlichen Informationsmaterialen – im Gegensatz zur Ausstellung vor Ort – gut sichtbar positioniert und leicht zugänglich sind. Weiß blinkende Punkte direkt bei den betreffenden Figuren und Szenen machen auf sie aufmerksam.
[9] Vor jeder Wand finden sich kurze Begleittexte. Für ausführlichere Informationen, etwa zu spezifischen Figuren oder Szenen des Wandbildes, können die Zusatzmaterialien im virtuellen Kiosk in einer Ecke des Raums oder online konsultiert werden.
[10] So die durchwegs ähnlich formulierten Informationen zum Erwerbungskontext der Königinmutter-Objekte, die online nachgelesen werden können, z.B. https://sammlungenonline.humboldtforum.org/en/object-catalogue/146613-gedenkkopf-einer-koeniginmutter.
[11] Zu diesem Text gelangt man in der 360-Grad-Ansicht des Wandbilds über den weißen Punkt über den fotorealistischen Abbildungen der Benin-Bronzen. Detaillierte Informationen über die Plastik der Königinmutter sind auf der Website der Staatlichen Museen Berlin nachzulesen.
[12] Bild 1/4 im Slider »Weltdenken«.
[13] Beim »Rad der Geschichte« handelt es sich um eine elliptische, zentral im Raum positionierte, interaktive Medieninstallation, die in den Pressematerialien als Highlight der Ausstellung vermarktet wird.
[14] May Ayim: »Die Wut der Schwarzen Frauen sollte auch die Empörung der weißen Frauen sein« [1993], in: Ayim: Grenzenlos (Anm. 1), S. 103–109, hier S. 103.
[15] In den 1980er Jahren und darüber hinaus war ›Afro-deutsche Bewegung‹ (auch noch in der heute weniger gebräuchlichen Schreibweise mit Bindestrich) die gängige Bezeichnung. Heute findet sich jedoch eher ›Schwarze Deutsche Bewegung‹, da der Begriff – analog zur Selbstbezeichnung ›Schwarze Deutsche‹ statt ›Afro-Deutsche‹ – inklusiver ist.
[16] Auf der Schautafel sind neben der Schwarzen Deutschen Bewegung folgende »Subkulturen« abgebildet: Wandervogel, Wilde Cliquen, Swing-Jugend, Halbstarke, Rock’n’Roll, Hippies, Student:innenbewegung, Lesben- und Schwulenbewegung, West-Berliner Punk, Tunix-Kongress, Instandbesetzung, Alösa Frühlingsfest, Hip-Hop-Aktivismus, Clubszene auf Leerflächen der wiedervereinigten Stadt.
[17] May Ayim: blues in schwarz weiss. nachtgesang. Gedichte, Münster 2021, S. 69.
[18] Vgl. dazu Tiffany N. Florvil: Black Germany. Schwarz, deutsch, feministisch – die Geschichte einer Bewegung, übers. von Stephan Pauli, Berlin 2023.
[19] May Ayim: blues (Anm. 18), S. 26–27. Auf der Website des Rundfunk Berlin-Brandenburg ist eine Lesung des Gedichts verfügbar.
[20] Basil: Eingeschlossen / Ausgeschlossen (2021), 20:06–20:37 min.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Sandra Folie: Aspekte Schwarzer Geschichte(n) in »Berlin Global«. Eine Führungs- und Ausstellungsreflexion, in: ZfL Blog, 15.2.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/02/15/sandra-folie-aspekte-schwarzer-geschichten-in-berlin-global-eine-fuehrungs-und-ausstellungsreflexion/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20240215-01