Claude Haas: ZUR LAGE DER LITERATUR NACH DEM UNTERGANG IHRER KÜNSTLICHKEIT IN DER KÜNSTLICHKEIT

I.

Bekenntnisse zur Künstlichkeit waren in der Literatur der Moderne lange Zeit an der Tagesordnung. Wie in der bildenden Kunst sind es in der literarischen Tradition vor allem Natur und Wirklichkeit, gegen die Künstlichkeit in Stellung gebracht wird.[1] »In meinen Büchern ist alles künstlich«, befand einst der selbsterklärte Naturhasser Thomas Bernhard.[2] Der Betonmarxist Peter Hacks legte in seinen Überlegungen zum »Poetischen« die »Nichtidentität mit der Wirklichkeit« als »Merkmal jeglicher Kunst« fest, »auch der gegenständlichsten«.[3] In der bürgerlichen Kunst des 18. Jahrhunderts hatte man dies noch ganz anders gesehen. Dem Rousseauismus, der Empfind­samkeit und dem Sturm und Drang war Künstlichkeit ästhetisch und moralisch zuwider. Historisch betrachtet erweisen sich Künstlichkeit und Natürlichkeit als äußerst variable Zuschreibungen. Während Shakespeares Dramen Johann Gottfried Herder und dem jungen Goethe etwa als »Natur« galten,[4] wird ihre weltliterarische Geltung heute umgekehrt in ihrer Theatralität und Künstlichkeit erblickt. Auch weil es um Werturteile ging, waren die Debatten um Künstlichkeit in der Literatur lange Zeit von Animositäten und Polemik geprägt.

Die modernen Naturwissenschaften und die industrielle Revolution hatten seit dem späteren 19. Jahrhundert maßgeblichen Einfluss auf ein neues Verständnis von Künstlichkeit in der Literatur. Das zeigt sich vor allem am Ästhetizismus der Jahrhundertwende und an der décadence, den bis dato vielleicht künstlichsten literarischen Strömungen überhaupt. Ihnen gelang es, die Grenze zwischen Natur und Künstlich­keit neu zu dynamisieren. Jean Des Esseintes, die Hauptfigur von Joris-Karl Huysmans’ Roman Gegen den Strich (1884), schottet sich von Natur und Wirklichkeit in einer hochartifiziellen Welt ab. Er lässt den Panzer seiner Schildkröte mit Diamanten besetzen und duldet ausschließlich solche Pflanzen in seiner Umgebung, die den »Anschein einer künstlichen Haut«[5] erwecken. Zum einen flieht Des Esseintes die bereits alltäglich gewordenen medialen, wissenschaft­lichen und industriellen Entwicklungen seiner Zeit, indem er sie maßlos überreizt. Zum anderen versteht er es, künstlichen Pro­dukten exklusive Authentizitäts- und Natür­lichkeitsversprechen abzujagen. Über die neue Mode pasteurisierter Weine etwa heißt es:

»Folglich ist das Vergnügen, das man beim Kosten dieser verfälschten und künstlichen Getränke hat, ganz genau das gleiche wie das, das man empfände, ließe man sich den natürlichen und reinen Wein auf der Zunge zergehen, der übrigens auch für Gold nicht aufzutreiben wäre.«[6]

Künstlichkeit und Verfälschung zu letzten Garanten einer authentischen Natur­wahr­nehmung zu erheben, setzt eine Unter­scheid­barkeit der beiden Kategorien frei­lich voraus.

II.

Diese Unterscheidbarkeit ist es, die heute zum Problem wird. Jüngeren Autor*innen scheint es nicht mehr um eine Umdeutung des alten Gegensatzes zu gehen. Angesichts einer umfassenden industriellen Zerstörung der Natur, angesichts der Digitalisierung und einer rasant sich entwickelnden KI, angesichts von Deepfakes und Fake News und angesichts auch der Biotechnologien sind kaum noch ›natürliche‹ oder gesellschaftliche Bereiche identifizierbar, die sich der Künstlichkeit verlässlich entziehen oder sich gar als deren Widerpart ins Feld führen lassen könnten.

Diese Entwicklung hatte Donna Haraway in ihrem viel zitierten und aus heutiger Sicht tatsächlich visionären Cyborg-Manifest von 1985 bereits vorhergesehen, als sie meinte, die »Grenze, die die gesellschaftliche Reali­tät von Science-Fiction trennt«, entpuppe sich zusehends als »eine optische Täuschung«.[7] Mit dem Verschwinden der alten Dualismen von Geist und Körper oder Natur und Kultur scheinen auch der Künstlichkeit ihre traditionellen Gegner abhandengekommen zu sein.

Vergleichbare Diagnosen stellen weite Teile der Gegenwartsliteratur. So erbt der zeitgenössische Poproman von der décadence eine gewisse Vorliebe für das Dandytum und eine Hochschätzung alles Artifiziellen. Autoren wie Christian Kracht oder Leif Randt interessiert Künstlichkeit dabei vor allem in ihren als universell empfundenen gesellschaftlichen Konventionen, denen die Literatur idealerweise ohne Transgressionsbegehren nur noch nachspricht.[8]

Ähnliches gilt für Joshua Groß. In seinem Roman Plasmatropfen (2024) lässt der Er­zähler einen Protagonisten zeitweise mit seinem Exoskelett verwachsen und ihn Sex mit einem »Spechtmenschen« haben, ohne diese Momente als Science-Fiction oder phantastisch, geschweige denn als ›animalische‹ oder ›bestialische‹ Verheißungen irgendwelcher Utopien oder Dystopien zu präsentieren. Künstlichkeit erscheint bei Groß als eine allumfassende Normalität, mit der sich alle Figuren seines Romans vollständig abgefunden haben.

Mit Helen wählt er sich eine erfolgreiche Malerin zur Hauptfigur und zitiert damit den altehrwürdigen Künstlerroman an. Wie es sich für das Genre gehört, leidet Helen körperlich an ihrer Kunst, sie muss sich unablässig sogenannte Plasmatropfen in die Augen träufeln: »Plasmatropfen, Placebotropfen, Schmelzwasser, um ihre schwindenden Augenhöhlen zu befestigen.«[9] Allzu existentiell darf man sich diese Manie allerdings nicht vorstellen. Als in einer Galerie ihre Bilder gestohlen werden, nimmt Helen dies mit großer Indifferenz zur Kenntnis. Kunst und Künstlichkeit verlieren jede Anmutung von Tiefe, Originalität und Authentizität. Helens Bilder sind selbst lediglich eine Art Placebo. Ihre gesellschaftliche Wirkung steht in keinem zwingenden Verhältnis zu den von der Malerin angewandten ästhetischen Verfahren oder den eingesetzten Stimulanzien. Das »Schmelzwasser« verweist zwar auf das im Roman bedeutende Motiv des auftauenden Permafrosts, legt damit aber nur den Schwund einer Natur offen, der weder aufgehalten noch in eine neue ästhetische Erfahrung umgemünzt werden kann. An deren Stelle tritt bestenfalls noch eine Art körperlicher Tick.

Wenn sich die künstlichen Welten der Gegen­wart dadurch auszeichnen, dass sie sich alles gleichmachen, stellt das die Literatur vor gewisse Herausforderungen. Zwar ist Literatur aufgrund ihrer sprachlichen Verfasstheit selbst unweigerlich künstlich. Doch ihr Potential lag in den verschiedenen Möglichkeiten des Umgangs mit diesem oft als Bürde, Aporie oder umgekehrt auch als Segen empfundenen Umstand, der ihr bedeutende Spielräume der Darstellung, der Kreativität oder auch der Autorschaft verlieh. Bedeutet es den Untergang der Literatur, wenn ihre eigene Künstlichkeit jene Exklusivität oder auch nur Spezifik verliert, die sich ein Thomas Bernhard oder ein Peter Hacks noch zugute­halten durften? Zumal angesichts der Tatsache, dass es längst vollständig KI-gene­rierte literarische Texte gibt und eine »Unterscheidung zwischen natürlichen und artifiziellen Texten zusehends hinfällig« wird, die literarische Autorschaft also einmal mehr und viel grund­sätzlicher am Abgrund stehen könnte als jemals zuvor.[10]

Solche Probleme schneidet der Bestseller Die Anomalie (2020) von Hervé Le Tellier immerhin an. Mit einem Abstand von weni­gen Monaten landet in diesem Roman zweimal das gleiche (kaum aber dasselbe) Flugzeug, aus Paris kommend, in New York. Alle Passagiere gibt es nunmehr doppelt, ohne dass Original und Kopie noch unter­schieden werden könnten. Wer und ob hier jemand künstlich ist oder nicht, lässt sich nicht klären. Politik, Wissenschaft und Religion geraten in hellen Aufruhr.  Diskutiert wird zeitweilig, ob die gesamte Welt womöglich eine KI-generierte Simulation ist. Der Reiz der Lektüre verdankt sich wesentlich der Darstellung der Hilflosigkeit aller gesellschaftlichen Instanzen angesichts einer basalen Erschütterung, die der Roman seinen Leser*innen ausnehmend entspannt vor Augen führt. Sinnigerweise gibt es unter den doppelten Passagieren jedoch eine große Ausnahme: den Schriftsteller Victor Miesel, der sich zwischenzeitlich umgebracht hatte und der dank seines Suizids jetzt als einziger Fluggast singulär geblieben ist. Eine fröhlichere Allegorie auf die Selbstbehauptung der Literatur im Zeitalter ubiquitär gewordener Künstlichkeiten ist kaum denkbar. Die Literatur muss sich nur auf ihre Abgründe besinnen und zur Not auch zu ihrem Untergang bereit sein, dann wird ihr ihre Einzigartigkeit förmlich in den Schoß fallen. Woher auch immer.

Wenn irgendwann KI-generierte Romane solche Witze reißen können, ließe sich mit der Gelassenheit Michel Foucaults fragen: »Wen kümmert’s, wer spricht?«[11] Aber wahrscheinlich auch wirklich erst dann.

Der Literaturwissenschaftler Claude Haas leitet am ZfL gemeinsam mit Matthias Schwartz den Programmbereich Weltliteratur. Sein Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2024/25, »Abschied von der Künstlichkeit«.

[1]  Vgl. Étienne Souriau: [Art.] »artificiel«, in: Vocabulaire d’esthétique, Paris 1990, S. 173–175.

[2] Thomas Bernhard: »Drei Tage«, in: ders.: Der Italiener, Frankfurt a. M. 1989 [1971], S. 78–90, hier S. 82.

[3] Peter Hacks: »Das Poetische«, in: ders.: Die Maßgaben der Kunst [1966], mit einem Nachwort von Dietmar Dath, Berlin 2010, S. 9–115, hier S. 99.

[4] Johann Wolfgang Goethe: »Zum Shäkespeares Tag«, in: ders.: Werke, hg. im Auftrag der Herzogin Sophie von Sachsen [Weimarer Ausgabe], Weimar 1854 [1771],1. Abt., 37.Bd, S. 129–135, hier S. 133

[5] Joris-Karl Huysmans: Gegen den Strich, übers. v. Brigitta Restorff, München 2022, S. 110.

[6] Ebd., S. 31.

[7] Donna Haraway: »Ein Manifest für Cyborgs«, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M./New York 1995, S. 33–52, hier S. 33.

[8] Vgl. hierzu Claude Haas: »Kontrollierte Literatur. Überlegungen zur Gestik und Stilistik Leif Randts«, in: DVjs 97 (2023), S. 995–1002.

[9] Joshua Groß: Plasmatropfen, Berlin 2024, S. 50.

[10] Hannes Bajohr: »Artifizielle und postartifizielle Texte. Über die Auswirkungen Künstlicher Intelligenz auf die Erwartungen an literarisches und nichtliterarisches Schreiben«, in: Sprache im technischen Zeitalter 61 (2023), S. 37–61, hier S. 50.

[11] Michel Foucault: »Was ist ein Autor?« [1969], in: Dorothee Kimmich/Rolf Günter Renner/Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 1996, S. 233–247, hier S. 247

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Claude Haas: Zur Lage der Literatur nach dem Untergang ihrer Künstlichkeit in der Künstlichkeit, in: ZfL Blog, 12.5.2025, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2025/05/12/claude-haas-zur-lage-der-literatur-nach-dem-untergang-ihrer-kuenstlichkeit-in-der-kuenstlichkeit/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20250512-01