Georg Toepfer: KÜNSTLICHKEIT UND NATÜRLICHKEIT. Das Ende einer Entzweiung

I.

In Zeiten des Anthropozäns ist die Künstlichkeit überall. Ihr Gegenteil, die einstmals als Gegenwelt inszenierte Natürlichkeit, gibt es nicht mehr – weder materiell geschieden als ein menschenfreier Raum, noch ideell als eine Vorstellung frei von kulturellen Voraussetzungen und Sehnsüchten. Die gegenwärtige Anrufung und Beschwörung der Natur ist offenbar nur ein Ausdruck dieses Verlusts. Auch im Anderen der Natur finden wir doch vor allem uns selbst: »Das Draußen ist zu einem einzigen Drinnen geworden.«[1] Wenn unser Drinnen aber universal geworden ist, wir als Menschen in allem stecken, sind mit der Aufhebung der polaren Gegenüberstellung von Kunst und Natur auch diese Pole selbst verschwunden.

Realisiert haben diesen Verlust (von etwas, das vielleicht nie existierte) selbst die professionellen Advokaten und Administratoren der Natur, die Vertreterinnen und Vertreter des ›Naturschutzes‹. Es ist in der Restoration Eco­logy längst gängige Praxis, die Schutzobjekte künstlich zu erzeugen – als ›renaturierte‹ Flüsse, wieder­vernässte Moore oder in Richtung einer poten­ziellen natürlichen Vegetation umgebaute Wälder. Mithilfe der Gentechnologie können Arten vor Krankheitserregern geschützt und so als naturkulturelle Hybri­de vor dem Aussterben bewahrt werden. Zum Schutz des Feuersalamanders wird beispielsweise diskutiert, ihn durch genetische Manipulation vor der Pilzerkrankung zu bewahren, die sein baldiges Aussterben bewirken könnte.

Diese technologischen Verfahren stellen nicht nur eine verbesserte, resistentere Natur her, sie treiben auch einen Keil in den Naturbegriff, weil die bisher miteinander verbundenen Aspekte der Eingriffsfreiheit und Ursprünglichkeit der Natur getrennt werden: In einem quasi vormenschlichen Zustand zu bewahren sind viele Teile der Natur nur, wenn wir sie gezielt verändern.[2] So gelangen wir zu einer neuen Einheit von Mensch und Natur, dem viel gepriesenen »konvivialen Naturschutz«,[3] für den die Natur auch als ein »ungestümer Garten« akzeptabel ist. In ihm kommt es nicht auf ›Natürlichkeit‹ im Sinne der Menschenfreiheit an, sondern auf die mit der Natur verbundenen Werte der Wildheit, Vielfalt und Eigengesetzlichkeit.[4]

II.

Jenseits der Praxis des Naturschutzes hat das 20. Jahrhundert die Künstlichkeit in drei große Wirklichkeitsdomänen hinein­getragen: ›Kunststoff‹, ›künstliches Leben‹, ›künstliche Intelligenz‹. Die Begriffe waren als technologische Verheißungen schon lange bevor die bezeichnete Sache Wirklichkeit wurde, in Gebrauch – mit einer zeit­lichen Kluft, die sich im Falle des »künst­lichen Lebens« über Jahrtausende erstreckt.[5] Es gehört auch zur Geschichte der Künstlichkeit, dass auf anfängliche techno­logische Euphorie regelmäßig eine begriffliche Scham folgte, die das Künstliche lieber versteckt als ausstellt. So nahm Theodor Heuss 1955 angesichts der Nachbarschaft der ›Kunst‹ zum ›Künstlichen‹ im Wort ›Kunststoff‹ ein »pein­liches Aroma« wahr.[6] Seit 1972 werden die Kunststoffe denn auch lieber ›natur­identisch‹ genannt, um sie so besser zu ver­markten.[7] Beim ›künstlichen Leben‹ wird die Künstlichkeit inzwischen verschwiegen; die Protagonisten des Feldes bevorzugen die christliche Rhetorik von Kreation und Genesis.[8]

Am hartnäckigsten hält sich Künstlichkeit bis heute in Bezug auf die Intelligenz. Ein Grund dafür mag sein, dass Intelligenz oder Geist, anders als Stoff und Leben, schon lange im Gegensatz zur Natur gedacht wurde. Weil Ausgrenzung und Abwertung in der Rede von der Künstlichkeit[9] aber auch vor der Intelligenz nicht Halt macht – und die »künstliche Intelligenz« begriffsgeschichtlich tatsächlich schon früh (1830), lange vor dem technologischen Optimismus der Dartmouth Conference (1956), in abwertender Bedeutung, nämlich angesichts der Maschinenwelt der englischen Industriereviere als »traurige« und wüstenhafte Verstellung der »Gegenwart des wirklichen Lebens« auftaucht[10] –, ist davon auszugehen, dass auch die KI begrifflich irgendwann zugunsten einer ›integrierten‹, ›konvivialen‹ oder ›konmentalen Intelligenz‹ verschwinden wird.

Dass diese technologischen Transforma­tionen des natürlich Gegebenen zu weit­reichenden epistemischen Verschiebungen führen werden, wird seit über 30 Jahren umfassend reflektiert. Die neue Welt der gentechnischen Veränderung von Menschen und anderen Lebewesen werde eine neue Einheit der »Biosozialität« produzieren und die Natur-Kultur-Spaltung aufheben, mutmaßte Paul Rabinow 1992.[11] Mit der Natürlichkeit wäre damit auch die Künstlichkeit an ihr Ende gekommen, und wir müssten nur noch anerkennen, dass unsere Verfassung und die der von uns geprägten Welt die »natürliche Künstlichkeit« ist, wie es die philosophische Anthropologie der 1920er Jahre behauptete.[12] Der mit der Rede von der Künstlichkeit transportierte metaphysische Dualismus wäre damit überwunden und wir bedürften des Wortes nicht mehr. Damit wären allerdings noch nicht alle Unterscheidungen aufgehoben: Wie sehr unser Mikroplastik und unsere radioaktiven Isotope in die ent­legensten Weltregionen gelangen und wie sehr wir uns selbst und unsere Mitlebewesen pharmakologisch und genetisch auch präparieren, so sehr bleiben ›wir‹ (einschließlich unserer künstlichen Intelligenz) als Spezies der Überlegensfähigen und Andershandelnkönnenden doch unterschieden von einem Gegenüber, das aufgrund des Mangels an diesen Fähigkeiten Gegenwelt bleibt und unsere Transformationen nur er­tragen kann oder verschwindet – während ›wir‹ diese zu verantworten haben.

III.

Die neue Verschränkung von Natürlichkeit und Künstlichkeit beendet also nicht alle Dua­lismen und vielleicht nicht den entscheidenden, aber doch einen zweihundertjährigen, tief verwurzelten. Dieser konstituierte sich im frühen 19. Jahrhundert sowohl land­schafts­geographisch-real in der Auseinanderentwicklung von urban-industriellen Zentren und ruralen Peripherien als auch sprachlich-begrifflich in der deutlichen ästhetischen Abwertung der ›Künstlichkeit‹ im Kontrast zur aufstrebenden ›Natürlichkeit‹. Die im 21. Jahr­hundert entstehende neue Konzeption einer Natur-Kultur-Einheit muss dahinter zurückgehen und kann an den Sprachgebrauch der Frühen Neuzeit anschließen, in dem die höchste Künstlichkeit (artificialitas) in den Gestaltungen der Natur verortet wurde: Der »künstliche Bau des menschlichen Körpers« (Corporis humani fabricam) übertreffe an »Künstlichkeit« (artificio) bei Weitem alles das, was von menschlicher Kunst (ars) gebaut worden sei, so Spinoza 1677.[13] Und noch Herder konnte ein Jahrhundert später fragen: »Gehet etwas über die Künstlichkeit eines Schneckenhauses?«[14]

Die Künstlichkeit steckte damals aber nicht nur in der Natur. Die Natur war auch umgekehrt überhaupt nur zugänglich über die Künstlichkeit. In der beschreibenden Naturkunde des 18. Jahrhunderts war künstlerische Könnerschaft vonseiten der Wissenschaft vielfältig nachgefragt. Die »Kunst-Regeln« wurden dabei von den Wissenschaftlern vorgegeben: Sie unterrichteten die Künstler genau darin, wie das Natürliche der Formen abzubilden sei, nämlich indem sie das individuell Variable, Zufällige, bloß den Umständen Geschuldete wegzulassen hätten, um die natürlichen Objekte in ihrer wahren Natur zur Darstellung zu bringen.[15] Künstlichkeit wurde hier zu dem Medium, in dem das Natürliche überhaupt erst erkannt, festgehalten und bestimmt werden konnte. Diese Inanspruchnahme des Künstlichen für die Naturerkenntnis galt für die beschreibende Naturgeschichte wie auch für die erklärenden Naturwissenschaften: Als wahr erkannt sei nur das, was zuvor (künstlich) hergestellt worden sei – verum factum –, wie das auf Vico zurückgeführte Diktum lautet. Zudem gilt gerade für die Naturwissenschaften, dass alle ihre zentralen erklärenden Konzepte – von den ausdehnungslosen Masse­punkten über die idealen Gase bis zu den ökologischen Kreisläufen – keine Naturnachbildungen darstellen, sondern Idealisierungen, und sie andere künstlich-fiktionale Elemente enthalten und insofern »lügen«.[16]

Die Opposition von Natürlichkeit und Künstlichkeit machte also lange keinen Sinn und ihre Verschlingung musste nicht behauptet werden. Dies erfolgte erst in dem historischen Moment, in dem das Zerwürfnis nicht mehr zu übersehen war, als die Natur nicht mehr als eine vom Menschlichen und Nichtmenschlichen geteilte, gemeinsame, aus einer Hand geschaffene Welt verstanden wurde, sondern als ›Gegenwelt‹ erschien, als niedrigere oder auch höhere, bessere, vielfältigere und freiere Welt als die Zivilisation – wie bei Rousseau.[17] Die Einheit konnte dann nur noch beschworen und für das eigene Schaffen reklamiert werden, wie von Novalis um 1800, der zum Vorwurf der »Künstlichkeit der Shakespearschen Werke« vollmundig konstatierte, »daß die Kunst zur Natur gehört, und gleichsam die sich selbst beschauende, sich selbst nachahmende, sich selbst bildende Natur ist«.[18] Erst jetzt, nach einem Umweg der zweihundertjährigen Spaltung, sind wir dort wieder angekommen, allerdings wohl unter umgekehrtem Vorzeichen: Nicht die Kunst gehört zur Natur, sondern die Natur zur Kunst. Vorstellungen, Bilder, Sehnsüchte gibt es von der Natur nur in einer jeweiligen Kultur, vermittelt durch deren Künstlichkeit.

Der Philosoph Georg Toepfer leitet am ZfL gemeinsam mit Eva Axer den Programmbereich Lebenswissen. Sein Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2024/25, »Abschied von der Künstlichkeit«.

[1] Godela Unseld: »Naturliebe – und was sonst noch alles so darunter zum Vorschein kommt«, in: Scheidewege 33 (2003/04), S. 206–224, hier S. 214.

[2] Gregory H. Aplet / David N. Cole (Hg.): Beyond Naturalness. Re­thinking Park and Wilderness Stewardship in an Era of Rapid Change, Washington, D.C. 2010; vgl. auch Georg Toepfer: »Artenschutz durch Gentechnik? Vom Dilemma zur Tragik des Naturschutzes im Anthropozän«, in: Natur und Landschaft 95 (2020), S. 220–225.

[3] Bram Büscher / Robert Fletcher: The Conservation Revolution. Radical Ideas for Saving Nature Beyond the Anthropocene, London 2020.

[4] Vgl. Emma Marris: Rambunctious Garden. Saving Nature in a Post-Wild World, London 2011.

[5] Vgl. Georg Toepfer: »Künstliches Leben«, in: Historisches Wörterbuch der Biologie, Bd. 2, Stuttgart 2011, S. 399–408.

[6] Theodor Heuss: [Rede anlässlich des fünfjährigen Bestehens des Fonds der Chemischen Industrie], in: Chemische Industrie 7 (1955), S. 386.

[7] Edy Stucki: »Kreation von Aromen«, in: DRAGOCO-Bericht für Geschmackstoffe verarbeitende Industrien 17 (1972), S. 27–30, hier S. 28.

[8] George M. Church: Regenesis. How Synthetic Biology Will Reinvent Nature and Ourselves, New York 2012.

[9] »l’épithète d’artificiel est souvent péjorative«; Étienne Souriau: [Art.] »artificiel«, in: Vocabulaire d’esthétique, Paris 1990, S. 173–175, hier S. 174.

[10] Cüstine: »Ueber die Wirkungen des Maschinenwesens und der Dämpfe in England«, in: Der Aufmerksame 19.111 (1830), S. 3–4, hier S. 3.

[11] Paul Rabinow: »Artificiality and enlightenment. From sociobiology to biosociality« (1992), in: Essays on the Anthropology of Reason, Princeton, NJ 1996, S. 91–111, hier S. 99.

[12] Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 1928, S. 309.

[13] Baruch de Spinoza: Ethica ordine geometrico demonstrata, [Amsterdam] 1677, S. 99.

[14] Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Riga 1784, S. 137.

[15] Vgl. Lorraine Daston: »Epistemic images«, in: Alina Payne (Hg.): Vision and Its Instruments. Art, Science, and Technology in Early Modern Europe, University Park, PA 2015, S. 13–35.

[16] Nancy Cartwright: How the Laws of Physics Lie, Oxford 1983.

[17] Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Émile ou de l’éducation, Bd. 3, Paris 1762, S. 67.

[18] Novalis: [Fragment], in: Novalis Schriften, hg. von Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck, Berlin 1802, S. 373.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Georg Toepfer: Künstlichkeit und Natürlichkeit. Das Ende einer Entzweiung, in: ZfL Blog, 5.5.2025, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2025/05/05/georg-toepfer-kuenstlichkeit-und-natuerlichkeit-das-ende-einer-entzweiung/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20250505-01