I.
In der Haupthalle des Pariser Musée d’Orsay schwebte 2021 ein riesiger Bildschirm, auf dem rätselhafte Bilder zu sehen waren: Eisschollen, aus denen Feuersäulen aufsteigen, Mondlandschaften mit Pfützen in bizarren Farben, Geisterschiffe, die über Packeis gleiten, aber auch Blumen mit doppelten Stempeln, die wie geklont aussehen und eine Art postapokalyptisches Herbarium bilden. Im Kontext der Ausstellung Les origines du monde. L’invention de la nature au XIXe siècle (Die Ursprünge der Welt. Die Erfindung der Natur im 19. Jahrhundert) eröffnete Artificialis, eine eigens für das Museum entworfene Präsentation des Films von Laurent Grasso, neue Perspektiven auf unsere heutige Welt – eine Welt, in der die Idee einer eigenständigen Natur, wie sie im 19. Jahrhundert Konjunktur hatte, nicht mehr gültig ist, eine Welt, in der nichts mehr ursprünglich und in der es nicht nur sinnlos, sondern praktisch unmöglich geworden ist, das Natürliche vom Künstlichen zu trennen.
Mit der Absicht, sie zu verkehren, greift der französische Künstler Darstellungsverfahren der Naturforschung auf, die in Darwins Jahrhundert so folgenreich vorangetrieben wurde: als sei die Zone der titelgebenden Artifizialität, in der die Grenzen zwischen Natur und Kultur, zwischen Realität und Virtualität, zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem hinfällig geworden sind, der letzte Kontinent, der der menschlichen Erforschung noch offensteht.
»Ich habe versucht, Momente einzufangen, in denen man nicht mehr weiß, wo man sich befindet, zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen. ARTIFICIALIS ist der Name für dieses hybride, postanthropozäne Territorium, in dem sich die Orientierungspunkte völlig aufgelöst haben«,[1]
erklärt Grasso. Zu erforschen ist nicht mehr die geographische Welt als Reservoir des Exotischen, terrae incognitae, sondern dieses gespenstische, vieldeutige und sich ständig verändernde Gebiet.
Die Erkundung dieses Territoriums vollzieht sich allerdings unter künstlichen Bedingungen. Grasso hatte ursprünglich geplant, in der ganzen Welt zu filmen und diese Bilder dann mit entstellenden Effekten zu versehen. Doch die Restriktionen der Covid-19-Pandemie machten dies unmöglich. So verwendete er ausschließlich computergenerierte und im Internet zugängliche Bilder, die von ihm zusätzlich bearbeitet wurden. In einem hypervernetzten Universum sei es möglich, so Grasso, »aus der Welt wie aus einer Datenbank zu schöpfen und Spektren von Orten abzurufen, die symptomatisch für die Auswirkungen des Menschen oder der Technologie auf die Umwelt sind«.[2] Das Material des Films ist somit ein Amalgam aus Realität und Virtualität: Die meisten Bilder basieren auf Drohnenaufnahmen, die ›reale‹ Landschaften einfangen, aber durch die Vermittlung des Geräts und die Online-Veröffentlichung zu technischen Bildern werden. Artificialis lädt zu einer Reise durch zahlreiche, potentiell unendliche Darstellungen der Welt ein. Die Suche nach Authentizität scheitert zweifach: an der Künstlichkeit des Rohmaterials und an der Künstlichkeit der Spezialeffekte, der Vervielfältigungen und Überlagerungen, der Filter und Farben, mit denen Grasso das Material bearbeitet hat.
Der Einsatz von avancierten Technologien wie dem LIDAR-Scanner und von Spezialeffekten führe laut Grasso nicht zu einer verfremdeten und entwirklichten Realität, sondern ermögliche es im Gegenteil, in sie einzutauchen:
»So wie die Erfindung der Perspektive den Blick und das Sehen neu organisiert hat, […] führt die durch diese neuen Werkzeuge erzeugte Abbildung zur Entwicklung einer neuen Dimension, die die Gesetze der Schwerkraft und der Materie infrage stellt«.[3]
Anders als Baudelaires ›künstliche Paradiese‹ erlaubt Artificialis keine Flucht aus der Realität, sondern bietet sich der menschlichen Neugierde als neuartiges Erkundungsfeld dar. ›Artificialis‹ meint also weniger ein neues Land als vielmehr eine Vertiefung unserer Beziehung zur Welt dank neuer technologischer Mittel. Unbestimmtheit und Unentschiedenheit prägen Artificialis derart, dass Artifizialität kein »Konzept«, keine »abstrakte Idee« ist, sondern ein »intuitives Wissen mit unbestimmten Konturen, die in diesem Fall besonders unbestimmt sind«.[4] Doch weit davon entfernt, diese konstitutive Unbestimmtheit als Mangel oder Unzulänglichkeit zu betrachten, verwandelt Grasso sie in die Einladung zu einer Reise. Auf diese Weise bricht er mit der jahrhundertealten Tradition, die der Künstlichkeit stets einen Mangel – an Authentizität, Einfachheit, Spontaneität, Aufrichtigkeit, kurz: an Natürlichkeit – oder einen Überschuss – an protziger Virtuosität, überflüssigen Details, Kitsch, aber auch an Konvention – zugeschrieben hat. Stattdessen verwandelt er sie in ein faszinierendes und begehrenswertes Objekt, das uns ermöglicht, unser Verständnis der Welt zu erweitern, anstatt uns von ihr zu entfremden.
Der Kontinent der Artifizialität öffnet sich also erst durch die kreative Geste des Künstlers. In seinem Atelier, das er als Labor bezeichnet, arbeitet Grasso mit seinen Assistent*innen an künstlichen Darstellungen natürlicher Umgebungen. Er setzt zwar modernste Technologien und technische Bilder ein, überlässt die Produktion seiner Kunst aber nicht einer künstlichen Intelligenz. Selbst wenn sich die Bilder in den vier Minuten von Artificialis in einer Endlosschleife wiederholen, erinnert ihr hypnotisierender Effekt, zu dem die von Warren Ellis komponierte Musik erheblich beiträgt, an die Aura des Kunstwerks. Unabhängig davon, ob die Kunst darauf abzielt, Natur abzubilden oder sich von ihr zu befreien, bleibt sie eine menschliche Tätigkeit, die es der Gattung unter anderem ermöglicht, »ihr kognitives Feld zu bereichern, indem sie ihren Wahrnehmungshabitus durchbricht und erneuert«.[5]
Aber gilt das noch, wenn Technologien nicht mehr nur wie bei Grasso Werkzeuge der menschlichen Kunstproduktion sind, sondern selbst ästhetische Gegenstände produzieren, die auf den Kunstmarkt gelangen und den Status des Künstlers und die schöpferische Absicht des Kunstschaffens auf neue Weise infrage stellen?
II.
Am 25. Oktober 2018 wurde das Bildnis Edmond de Belamy bei Christie’s in New York für 432.500 US-Dollar versteigert – zum 45-Fachen des Schätzpreises. Der erste Verkauf eines mit KI-Software hergestellten Kunstwerks bei einer Auktion warf einige grundlegende Fragen auf, so zum Status des Künstlers, zum Urheberrecht und zu seiner Bewertung durch den Kunsthandel. Das Werk des französischen Kollektivs Obvious wurde mithilfe eines Algorithmus hergestellt, der mit mehr als 15.000 zwischen dem 14. und 20. Jahrhundert entstandenen Porträts trainiert worden war. Die von diesem ersten Generator-Algorithmus erzeugten Bilder wurden anschließend von einem zweiten, dem Discriminator-Algorithmus bearbeitet, und zwar mit dem Ziel, jene Porträts auszusortieren, die mutmaßlich von einer Maschine stammen.
Die fiktive Person wurde schließlich in expressionistischen, groben Zügen als Halbfigur dargestellt, der schwarze Gehrock und der weiße Kragen evozieren ein westliches, bürgerliches Milieu. In der unteren rechten Ecke wurde das Porträt mit einer mathematischen Formel signiert und am Ende in einen 70 × 70 cm großen, gediegen anmutenden Goldrahmen gesteckt. Diesem Bild war es also gelungen, den Discriminator-Algorithmus zu überlisten: Es wurde nicht mehr als maschinell hergestellt erkannt. So unterstreicht der erfolgreiche Einsatz des zweiten Algorithmus die Erkenntnis, dass der Zweck der künstlichen Intelligenz darin besteht, künstliche Artefakte so aussehen zu lassen, als wären sie von Menschenhand geschaffen worden, und das heißt in letzter Konsequenz: die Öffentlichkeit zu täuschen.
Doch obwohl Edmond de Belamy als bahnbrechende Neuerung beworben wurde, hat es das Genre der Porträtmalerei keineswegs revolutioniert. Radikale künstlerische Innovation ist ohnehin unmöglich, da jeder Kunst jahrhundertealte Praktiken und Traditionen vorausgehen. Der Algorithmus kann nicht anders als wiederholend und kompilierend vorgehen. Er ist nicht dazu geschaffen, Brüche und Dissonanzen zu kreieren und darüber das Wesen menschlicher Erfahrung in ihre Produktion zu integrieren. Diese Fähigkeit ist bislang dem Menschen selbst vorbehalten.
III.
Artificialis und Edmond de Belamy dokumentieren unterschiedliche Auffassungen von Künstlichkeit und deren Verhältnis zur Kunst. Das Porträt, das aus den Experimenten des Kollektivs Obvious hervorgegangen ist, ist Produkt einer Künstlichkeit, die in einem geschlossenen Kreislauf verbleibt: Diese Künstlichkeit verarbeitet vorhandene Werke und schafft daraus eine Art Schema, das auf Familienähnlichkeit basiert. Allerdings versucht Edmond de Belamy, seine künstliche Herkunft zu kaschieren und als menschliche Kunstschöpfung durchzugehen. Artificialis hingegen steigert seine Künstlichkeit noch durch die Bearbeitung digitaler Bilder mit Spezialeffekten. Hier gibt es keine Täuschung.
Grassos Kompositionen in Bewegung zeigen eine Welt, die von bizarren Wesenheiten durchdrungen ist, in denen Natürliches und Künstliches miteinander verwoben ist. Man könnte sagen, es handelt sich dabei um eine Neudefinition des Baudelaire’schen Schönen, das erst durch die Aufhebung oder Kombination von Gegensätzen zwischen Schönheit und Hässlichkeit, Vorläufigkeit und Unveränderlichkeit, Kontingenz und Absolutheit entsteht. Auch in Grassos Film werden überkommene Gegensätze aufgehoben; hier entsteht eine in sich hybride und bizarre Realität, ohne dass sie unheimlich wird. So verleiht Kunst der Künstlichkeit die Dimensionen eines zu erforschenden Kontinents – zumal, wenn die künstliche, hybride Kunstwelt in Beziehung gesetzt wird zu der Welt, die wir bewohnen, und zu der Art und Weise, wie wir sie erfahren. Künstlichkeit wird so nicht mehr nur als Gegensatz zur Natur oder zum Menschlichen verstanden, sondern als eine Möglichkeit, das Bestehende zu erfassen.
Die Literaturwissenschaftlerin Aurore Peyroles arbeitet am ZfL in dem Projekt »Kartographie des politischen Romans in Europa«. Ihr Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2024/25, »Abschied von der Künstlichkeit«.
[1] Laurent Grasso: »Questions à Laurent Grasso, artiste contemporain«. Alle Zitate wurden von mir aus dem Französischen übersetzt.
[2] Ebd.
[3] Laurent Grasso: »Spectral Orsay«.
[4] Élisabeth Lavezzi /Thimothée Picard: »Artifice: le mot, la notion et le concept«, in: dies. (Hg.): L’artifice dans les lettres et les arts, Rennes 2019, S. 7–38, hier S. 10.
[5] Xavier Lambert: »Art et technologies: la création artistique à l’épreuve des artefacts naturels«, in: ebd., S. 336–344, hier S. 340.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Aurore Peyroles: Künstlichkeit und Kunsterfahrung, in: ZfL Blog, 19.5.2025, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2025/05/19/aurore-peyroles-kuenstlichkeit-und-kunsterfahrung/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20250519-01