Aurore Peyroles: KÜNSTLICHKEIT UND KUNSTERFAHRUNG

I.

In der Haupthalle des Pariser Musée d’Orsay schwebte 2021 ein riesiger Bildschirm, auf dem rätselhafte Bilder zu sehen waren: Eis­schollen, aus denen Feuersäulen aufsteigen, Mondlandschaften mit Pfützen in bizarren Farben, Geisterschiffe, die über Packeis gleiten, aber auch Blumen mit doppelten Stempeln, die wie geklont aussehen und eine Art postapokalyptisches Herbarium bilden. Im Kontext der Ausstellung Les ori­gines du monde. L’invention de la nature au XIXe siècle (Die Ur­sprünge der Welt. Die Erfindung der Natur im 19. Jahrhundert) er­öffnete Artificialis, eine eigens für das Museum entworfene Präsentation des Films von Laurent Grasso, neue Perspektiven auf unsere heutige Welt – eine Welt, in der die Idee einer eigenständigen Natur, wie sie im 19. Jahrhundert Konjunktur hatte, nicht mehr gültig ist, eine Welt, in der nichts mehr ursprünglich und in der es nicht nur sinnlos, sondern praktisch unmöglich geworden ist, das Natürliche vom Künstlichen zu trennen. „Aurore Peyroles: KÜNSTLICHKEIT UND KUNSTERFAHRUNG“ weiterlesen

Jonathan Stafford: DIE VISUELLE KULTUR DES SCHIFFBRUCHS UND DER MORALISCHE BETRACHTER

Pierre-Jacques Volaire (1729-1799), Shipwreck, Nationalmuseum, Stockholm
Abb. 1: Pierre-Jacques Volaire (1729–1799), Shipwreck, Nationalmuseum, Stockholm

Das Bild eines Schiffbruchs (Abb. 1): das Schiff selbst links im Bild, ein Durcheinander aus zerfetztem Segeltuch und zersplitterndem Holz, Seeleute, die verzweifelt um ihr Leben kämpfen, sich an Teilen des Schiffs festklammern oder flehend den Mast in Richtung des Himmels hinaufklettern. Das Schiffswrack liegt bedrohlich nahe am felsigen Ufer, das Gefahrenstätte und Zufluchtsort zugleich ist. Die wilde See bricht über die Felsen herein – an manchen Stellen macht der mächtige Sturm es nahezu unmöglich, Wasser, Himmel und Land zu unterscheiden. Eine Rettungsleine verbindet das Schiff mit dem Ufer. Andere Figuren versuchen, den in Not geratenen Seeleuten zu helfen, mit Gebeten, aber auch mit praktischen Maßnahmen, etwa der Sicherung des Seils. In der Mitte des Bildes, auf die das Licht der durch die düsteren Wolken hereinbrechenden Sonnenstrahlen unsere Aufmerksamkeit lenkt, kämpfen Menschen um ihr Überleben. Vier Gestalten versuchen, eine Frau in Sicherheit zu bringen. Ihre Brust ist entblößt und der leblose Körper hängt schlaff herab, eine deutliche Referenz auf die Pietà. Ist sie schon tot oder kann sie wiederbelebt werden? Und was ist mit jenen, die sich noch an Bord befinden? Werden sie es schaffen, das rettende Ufer zu erreichen? „Jonathan Stafford: DIE VISUELLE KULTUR DES SCHIFFBRUCHS UND DER MORALISCHE BETRACHTER“ weiterlesen