Jonathan Stafford: DIE VISUELLE KULTUR DES SCHIFFBRUCHS UND DER MORALISCHE BETRACHTER

Pierre-Jacques Volaire (1729-1799), Shipwreck, Nationalmuseum, Stockholm
Abb. 1: Pierre-Jacques Volaire (1729–1799), Shipwreck, Nationalmuseum, Stockholm

Das Bild eines Schiffbruchs (Abb. 1): das Schiff selbst links im Bild, ein Durcheinander aus zerfetztem Segeltuch und zersplitterndem Holz, Seeleute, die verzweifelt um ihr Leben kämpfen, sich an Teilen des Schiffs festklammern oder flehend den Mast in Richtung des Himmels hinaufklettern. Das Schiffswrack liegt bedrohlich nahe am felsigen Ufer, das Gefahrenstätte und Zufluchtsort zugleich ist. Die wilde See bricht über die Felsen herein – an manchen Stellen macht der mächtige Sturm es nahezu unmöglich, Wasser, Himmel und Land zu unterscheiden. Eine Rettungsleine verbindet das Schiff mit dem Ufer. Andere Figuren versuchen, den in Not geratenen Seeleuten zu helfen, mit Gebeten, aber auch mit praktischen Maßnahmen, etwa der Sicherung des Seils. In der Mitte des Bildes, auf die das Licht der durch die düsteren Wolken hereinbrechenden Sonnenstrahlen unsere Aufmerksamkeit lenkt, kämpfen Menschen um ihr Überleben. Vier Gestalten versuchen, eine Frau in Sicherheit zu bringen. Ihre Brust ist entblößt und der leblose Körper hängt schlaff herab, eine deutliche Referenz auf die Pietà. Ist sie schon tot oder kann sie wiederbelebt werden? Und was ist mit jenen, die sich noch an Bord befinden? Werden sie es schaffen, das rettende Ufer zu erreichen?

Wir sind heutzutage mit Bildern menschlichen Leids mehr als vertraut. Ob im Fernsehen, auf den Bildschirmen unserer Computer oder Mobiltelefone: überall Menschen, die von Krieg, Hunger, Krankheit, Naturkatastrophen oder anderen humanitären Notsituationen betroffen sind. Ihre Bilder rufen Gefühle des Mitleids hervor, des Mitgefühls und der Empathie. Sie bringen uns dazu, als verantwortungsbewusste Staatsbürger-Subjekte in einer sowohl ethischen als auch emotionalen Weise zu reagieren. Dass eine solche Art der Auseinandersetzung mit der Darstellung von Leid angemessen ist, scheint fast selbstverständlich zu sein. Doch was sind die historischen Ursprünge dieses Topos? Wie lassen sich die diskursiven Tropen, die unsere moralischen und affektiven Begegnungen mit dem humanitären Bild bestimmen – die ›Mitleidsmüdigkeit‹, der Zwang hinzusehen –, durch die Geschichte der Ikonographie des Leidens verfolgen?

Die Darstellung gefährdeter Seeleute nimmt in dieser Geschichte einen besonderen Platz ein: Von der holländischen Malerei des Goldenen Zeitalters um 1600 über die Werke des französischen Malers Claude Joseph Vernet aus dem 18. Jahrhundert bis hin zum Proto-Modernismus J.M.W. Turners hat der Schiffbruch auf See die Künstler anhaltend beschäftigt. Aber auch in anderen Medien, in Büchern und auf populären Drucken, selbst auf Gebrauchsgegenständen war der Schiffbruch ein vertrautes Sujet. Möglicherweise ist er das beständigste Thema in der säkularen Ikonographie des Leidens (obwohl er, wie Volaires Gemälde zeigt, durchaus auch ein wichtiger Schauplatz für die Darstellung religiöser Themen in einem irdischen Kontext sein konnte).

Wie hat sich diese Ikonographie im Laufe der Zeit entwickelt? Welche Art von moralischem Subjekt setzen solche Darstellungen als Betrachter voraus und welche Art von Reaktion lösen sie bei diesem aus? Diese Bilder entstanden parallel zur Entwicklung der sozialen und kulturellen Hegemonie des Bürgertums und der des ›modernen‹ Subjekts, der Privatperson im Sinne des Liberalismus. Das Selbstverständnis dieser Figur (und ihre Klassenzugehörigkeit) hingen zunehmend von einer Reihe von Annahmen über ihre moralische Weltanschauung ab. Bilder von Schiffbrüchigen können uns also viel über die Entstehung dieses modernen Subjekts, die Geschichte der Emotionen und ihre Beziehung zur Moral erzählen.

Zwischen der visuellen Kultur des Schiffbruchs und der Geschichte der Seenotrettung bestehen bemerkenswerte Zusammenhänge. George Manby, der Erfinder eines Leinenschussgeräts, mit dessen Hilfe sich ein in Seenot befindliches Schiff in Küstennnähe durch ein Tau ans Ufer binden ließ, gab Gemälde von bedeutenden Schiffswracks in Auftrag, die, wie er behauptete, den Betrachter sowohl belehren als auch emotional ansprechen sollten. Denn immer wieder geht es in der Geschichte der Seenotrettung auch um eine Logik des Sehens. In Erzählungen, die sich mit den Ursprüngen technischer Innovationen zur Rettung von Menschenleben zur See befassen – etwa dem Rettungsboot oder dem Manby-Mörser – werden Zeugen eines Schiffsunglücks immer wieder als hilflose Beobachter an der Küste dargestellt. Wie Hans Blumenberg ausführlich gezeigt hat, hat diese Trope in der Philosophie eine lange und produktive Geschichte. Dabei ist die unbeteiligte Distanzierung angesichts des Leidens anderer zur Metapher par excellence für wissenschaftliche Objektivität und Äußerlichkeit geworden – eine Position, die, wie Blumenberg schreibt, in der Moderne zunehmend unhaltbar wurde.

Insofern der bürgerliche Angehörige eines Staats mit menschlichem Unglück, Not- und Todesfällen konfrontiert wird, aber nicht in der Lage ist, selbst zu handeln, um diesem Leid entgegenzuwirken, erfindet er technische und soziale Hilfsmittel. Damit soll die Kluft zwischen Ufer und Schiff, Zuschauerschaft und Leiden, Affekt und Handlung überbrückt werden. Dieser Ursprungsmythos findet seine Parallele in der ästhetischen Erfahrung, die Adorno und Horkheimer bereits in der Geschichte von Odysseus und den Sirenen gesehen haben: Das an den Mast gefesselte, bewegungsunfähige bürgerliche Subjekt begegnet dem Kunstwerk als einer Form des reinen Affekts. Die Aufgabe, unbeeindruckt die Arbeit des Ruderns zu verrichten, wird derweil anderen auferlegt.

Abb. 2: J.M.W. Turner (1775–1851), Snow Storm – Steam-Boat off a Harbour’s Mouth, exhibited 1842. Photo © Tate, CC-BY-NC-ND 3.0 (Unported)  

Wie zuvor bereits Vernet nutzte Turner das Motiv, sich im Sturm an den Mast eines Schiffes binden zu lassen, um die Wahrhaftigkeit und den Realismus seiner Darstellung der Gewalt des Meeres zu bekräftigen. Jedoch deutet Turners Darstellung eines Dampfschiffs, das in einen wilden Schneesturm gerät (Abb. 2) schon darauf hin, dass der für Gemälde von Schiffbrüchen typische distanzierte, ans Ufer gebundene Blickwinkel nicht länger aufrechterhalten werden konnte.

J.M.W. Turner, Lifeboat and Manby Apparatus Going Off to a Stranded Vessel Making Signal (Blue Lights) of Distress, 1831, Victoria and Albert Museum, London.
Abb. 3: J.M.W. Turner, Lifeboat and Manby Apparatus Going Off to a Stranded Vessel Making Signal (Blue Lights) of Distress, 1831, Victoria and Albert Museum, London.

Im Zeitalter moderner Rettungstechniken, die Turner beispielsweise in seinem 1831 entstandenen Gemälde Lifeboat and Manby Apparatus darstellte, in dem ein Rettungsboot auf ein gestrandetes Schiff zufährt und dabei Blaulicht-Notsignale abgibt (Abb. 3), war die Heldenfigur nicht mehr nur ein an das Ufer ›gefesselter‹ Zuschauer, ein romantischer Betrachter der erhabenen Natur, sondern jemand, der selbst ins Wasser ging, um Leben zu retten. Welche Lehre kann der zeitgenössische Betrachter aus Turners ästhetischer Innovation ziehen? Müssen wir in das Meer der Bilder eintauchen oder doch nur unsere Ohren verschließen, um bloß nicht dem Gesang der Sirenen zu verfallen?

Übersetzung: Dirk Naguschewski

 

Der Kulturwissenschaftler Jonathan Stafford ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZfL in dem Projekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800«. Die englische Originalfassung seines Beitrags erschien auf dem Faltplakat »Archipelagic Imperatives. Shipwreck and Lifesaving in European Societies since 1800« (2022), in dem alle Projektmitarbeiter*innen ihre aktuellen Forschungen vorstellen.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Jonathan Stafford: Die visuelle Kultur des Schiffbruchs und der moralische Betrachter, in: ZfL Blog, 21.11.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/11/21/jonathan-stafford-die-visuelle-kultur-des-schiffbruchs-und-der-moralische-betrachter/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20221121-01

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