Lukas Schemper: HUMANITARISMUS UND SOUVERÄNITÄT

Die Rettung von Menschenleben ist eine von vielen Aktivitäten, deren Regelung souveränen Staaten obliegt. Historisch betrachtet gibt es verschiedene Definitionen von Souveränität. Seit dem 19. Jahrhundert bedeutet sie jedoch überwiegend die Kontrolle von Grenzen und die Verabschiedung von Gesetzen innerhalb derselben. So lassen sich die vielfältigen Verbindungen des Begriffs der Souveränität mit der Geschichte des Schiffbruchs und der Lebensrettung im 19. Jahrhundert auf zweierlei Weise untersuchen: Erstens ausgehend von der Souveränität als einer Form der rechtlichen, (bio)politischen, diplomatischen, territorialen bzw. maritimen Kontrolle, die zunehmend mit humanitären, kommerziellen und sicherheitspolitischen Fragen verknüpft wurde; zweitens anhand der Figur des Souveräns, der als Schirmherr und Förderer humanitärer Initiativen, einschließlich der Seenotrettungsgesellschaften, fungierte und für die Entstehung und das Selbstverständnis dieser Gesellschaften von zentraler Bedeutung war.

I. Wenn man mit Michel Foucault annimmt, dass Ende des 18. Jahrhunderts das Leben und sein Schutz zum Gegenstand politischer Machtausübung wurden, könnte die Entstehung von Lebensrettungsgesellschaften im Allgemeinen und Seenotrettungsgesellschaften im Besonderen dafür ein Beleg sein. Die erste humane society in Europa wurde 1767 in Amsterdam gegründet. Ab den 1770er Jahren entstanden in Großbritannien und anderen Ländern gut funktionierende örtliche Seenotrettungsgesellschaften, und 1824 wurde die britische Royal National Lifeboat Institution (RNLI) als erste staatliche Seenotrettungsgesellschaft gegründet. Mit ihren Maßnahmen verfolgten diese Gesellschaften das Ziel, verunglückte Seeleute zu retten und wiederzubeleben, statt sie einfach ihrem Schicksal zu überlassen – ein Ziel, das von religiösen und politischen Autoritäten unterstützt wurde, wodurch wiederum die staatliche Souveränität untermauert wurde.[1]

Ein weiterer potenzieller Faktor bei der Entstehung der Seenotrettungsgesellschaften waren Veränderungen im kapitalistischen Wirtschaftssystem. Diese Veränderungen waren wiederum nicht unabhängig von der Entwicklung der biopolitischen Machtausübung im 19. Jahrhundert, da Gerettete in wirtschaftliche Produktionsprozesse eingebunden werden konnten. Darüber hinaus führten Marktexpansion und Industrialisierung zu einem neuen Verantwortungsbewusstsein der bürgerlichen Reformkräfte. Folglich traten diese für die Schaffung einer moralischen Ordnung ein, die den kapitalistischen Erfordernissen entsprach.[2] Dass die Gründung eines Rettungsdienstes wie der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) im Jahr 1865 von Vertretern der Schifffahrts- und Versicherungsbranche unterstützt wurde, ist hierfür ein Beleg.

Zwischen den Rettungsvereinen und staatlichen Institutionen bestanden vielfältige Verbindungen. Die Vereine erbrachten nicht nur eine soziale Dienstleistung, sondern suchten bisweilen auch die institutionelle oder ideologische Nähe zum Staat. Besonders deutlich lässt sich das an der Gleichschaltung der DGzRS im Nationalsozialismus und ihrer Einbindung in Marineoperationen während des Zweiten Weltkriegs zeigen. Weniger kontrovers, aber ebenso aufschlussreich ist die Bedeutung, die die RNLI bis heute der Feier ihrer königlichen Schirmherrschaft beimisst. In imperialistischen Kontexten trugen Seenotrettungsgesellschaften auch zur Schaffung ehrenamtlicher Rettungsdienste in den imperialen Einflusszonen bei (wie z.B. im französischen Protektorat Marokko). Im Osmanischen Reich wurde 1866 ein Rettungsdienst für den Bosporus gegründet, der von einer internationalen Kommission ausländischer Delegierter aus Staaten mit Schifffahrtsinteressen im Schwarzen Meer betrieben wurde. Dies verdeutlicht, dass das Osmanische Reich von den europäischen Diplomaten des 19. Jahrhunderts nur als halbsouveräne Macht behandelt wurde. Diese historischen Beispiele veranschaulichen, wie unterschiedliche Formen der Organisation von Rettungsdiensten verschiedene Konfigurationen von Souveränität widerspiegeln.

II. Souveräne – zunächst Monarchen, später republikanische Staatsoberhäupter – trugen auch selbst maßgeblich zur Gründung von Lebensrettungsgesellschaften und deren Selbstverständnis bei. Zu beobachten ist dies im breiteren Kontext des humanitären Mäzenatentums des 19. Jahrhunderts, in dem sich die Sicht auf den Souverän veränderte. Dieser wurde nun als wohlwollende, fürsorgliche und patriotische Figur gesehen, die sich auch der Bedeutung sozialer Anliegen bewusst war. Zum einen nutzten Philanthropen und Reformer diese neue Rolle des Souveräns zu ihrem Vorteil, indem sie für ihre Projekte und Organisationen seine Schirmherrschaft gewannen. Zum anderen stärkte die öffentliche Unterstützung von Projekten wie der Lebensrettung das Ansehen der Herrscher und ihrer Familien, selbst in republikanischen oder sozialistischen Kreisen. An Seenotrettungsgesellschaften lässt sich die Dynamik des königlichen Mäzenatentums zeigen: So handelte es sich bei der Unterstützung der RNLI durch den unbeliebten König Georg IV. seit 1824 um den bewussten Einsatz des Mäzenatentums, der die Monarchie in einem positiveren Licht erscheinen lassen sollte.[3]

Insgesamt war der symbolische Wert des königlichen Mäzenatentums sogar größer als der finanzielle, da das Attribut ›königlich‹ den Lebensrettungsgesellschaften einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Vereinigungen verschaffte. Die Monarchen stellten beispielsweise ihre Porträts für Medaillen und Auszeichnungen zur Verfügung, mit denen Leistungen im Bereich der Lebensrettung gewürdigt wurden. Im Jahr 1866 stiftete Königin Victoria zum Gedenken an ihren verstorbenen Mann die prestigeträchtige Albert Medal for Lifesaving, die für besonders mutige Taten bei der Rettung auf See verliehen wurde. In Preußen hatte die von König Friedrich Wilhelm III. schon 1833 gestiftete Rettungsmedaille am Band eine vergleichbare Bedeutung. Beide verweisen auf die Konstruktion eines Idealtyps von bürgerlichem Heldentum und moralisch gefestigtem Charakter im 19. Jahrhundert,[4] der den Menschen am unteren Ende der sozialen Hierarchie als Vorbild dienen sollte. Für sie konnte der Erhalt einer solchen Medaille ein wichtiger Akt der Anerkennung sein. Selbstverständlich war die Auszeichnung durch Medaillen und andere Symbole streng geregelt. Als Ausdruck politischer Loyalität und staatlicher Zentralisierung konnten sie ausschließlich vom Souverän persönlich verliehen werden.

Übersetzung: Dirk Naguschewski

Der Historiker Lukas Schemper ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZfL in dem Projekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800«. Die englische Originalfassung seines Beitrags erschien auf dem Faltplakat »Archipelagic Imperatives. Shipwreck and Lifesaving in European Societies since 1800« (2022), in dem alle Projektmitarbeiter*innen ihre aktuellen Forschungen vorstellen.

[1] Vgl. Johannes F. Lehmann: »Infamie versus Leben. Zur Sozial- und Diskursgeschichte der Rettung im 18. Jahrhundert und zur Archäologie der Politik der Moderne«, in: ders./Hubert Thüring (Hg.): Rettung und Erlösung. Politisches und religiöses Heil in der Moderne, Leiden 2015, S. 45–66.

[2] Vgl. Thomas L. Haskell: »Capitalism and the Origins of the Humanitarian Sensibility, Part 1«, in: The American Historical Review 90.2 (1985), S. 339–361.

[3] Vgl. Frank Prochaska: Royal bounty: the making of a welfare monarchy, New Haven 1995.

[4] Für Frankreich hat dies Frédéric Caille: La figure du sauveteur: Naissance du citoyen secoureur en France, 1780–1914, Rennes 2006, gezeigt.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Lukas Schemper: Humanitarismus und Souveränität, in: ZfL Blog, 24.11.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/11/24/lukas-schemper-humanitarismus-und-souveraenitaet/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20221124-01

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