Auf der ZfL-Klausurtagung 2024 wurde Mohamed Mbougar Sarrs Roman La plus secrète mémoire des hommes (Die geheimste Erinnerung der Menschen) gelesen.[1] Dieses Werk wirft einige Fragen auf, die dem ZfL-Jahresthema »Aktivismus und Wissenschaft« nahestehen: Welche Asymmetrien existieren in der Bewertung von Literatur? Legen Literaturwissenschaft und Literaturkritik abhängig von der Herkunft, Ethnizität und/oder race der Autor:innen unterschiedliche Maßstäbe an? Welche Rolle spielen im Literaturbetrieb Diskussionen um kulturelle Aneignung oder die Praktik des ›Cancelns‹, bei der – wie es im Duden heißt – »einer Person oder einer Organisation aufgrund vorgeworfener [moralischer, politischer] Verfehlungen die bisherige Unterstützung entz[ogen wird]«? Und wie aktualisiert sich das alte Muster Elfenbeinturm vs. Engagement in der Rezeption von Gegenwartsliteratur? Auch wenn Sarr seinen Fokus weniger auf die Wissenschaft als vielmehr auf den Literaturbetrieb richtet, spielt die Einflussnahme von Wissenschaftler:innen auf die Rezeption von Literatur im Roman eine entscheidende Rolle. Sie bildet, wie ich zeigen werde, einen möglichen Ausgangspunkt für die Erkundung des Verhältnisses von Ästhetik und Politik. „Sandra Folie: MOHAMED MBOUGAR SARRS »DIE GEHEIMSTE ERINNERUNG DER MENSCHEN« IM ZEICHEN VON ÄSTHETIK UND POLITIK“ weiterlesen
Schlagwort: Identitätspolitik
Gianna Zocco: 100 JAHRE JAMES BALDWIN. Zu René Aguigahs Baldwin-Porträt
Claude Haas hat kürzlich anlässlich des Kafka-Jahres bemerkt, dass die intellektuelle Ausbeute literarischer Gedenkjahre in der Regel mager ausfalle und zu solchen Anlässen »viel Nippes« auf den Markt geworfen werde.[1] Im Fall des afroamerikanischen Schriftstellers und Aktivisten James Baldwin, der 2024 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, ist die Lage glücklicherweise eine andere. Denn sein Jubiläum fiel in eine schon seit einigen Jahren andauernde ›Baldwin-Renaissance‹, die maßgeblich durch Filme wie Raoul Pecks I Am Not Your Negro (2016) und Barry Jenkins’ If Beale Street Could Talk (2018) angestoßen wurde und im Zuge der Internationalisierung der Black Lives Matter-Bewegung nach der Ermordung von George Floyd 2020 weiter an Fahrt gewann. „Gianna Zocco: 100 JAHRE JAMES BALDWIN. Zu René Aguigahs Baldwin-Porträt“ weiterlesen
David Kaldewey: »In the Name of Diversity«: ZUR NEUFORMIERUNG STUDENTISCHEN PROTESTS AN AMERIKANISCHEN UNIVERSITÄTEN
Diversität scheint auf den ersten Blick ein wenig umstrittener gesellschaftlicher Wert zu sein. Die jüngeren Entwicklungen in der politischen Landschaft der USA haben in den letzten Jahren jedoch gezeigt, dass ›Diversität‹ als hochgradig umkämpfter Begriff verstanden werden muss. Einen Tag nach der Wahl von Donald Trump am 8. November 2016 kursierte an der Texas State University folgender Flyer:
Diese triumphierende Geste von Studierenden, die sich vom linksliberalen Konsens der amerikanischen Colleges und Universitäten distanzieren, macht die Spannung sichtbar zwischen einem im universitären Raum seit den 1990er Jahren stabilisierten identitätspolitischen Diskurs, für den Diversität und Multikulturalismus zentrale Werte sind, und einer alten sowie neuen Rechten, die sich, durchaus genussvoll, gegen die etablierte Political Correctness und angebliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit wendet. „David Kaldewey: »In the Name of Diversity«: ZUR NEUFORMIERUNG STUDENTISCHEN PROTESTS AN AMERIKANISCHEN UNIVERSITÄTEN“ weiterlesen