Claude Haas hat kürzlich anlässlich des Kafka-Jahres bemerkt, dass die intellektuelle Ausbeute literarischer Gedenkjahre in der Regel mager ausfalle und zu solchen Anlässen »viel Nippes« auf den Markt geworfen werde.[1] Im Fall des afroamerikanischen Schriftstellers und Aktivisten James Baldwin, der 2024 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, ist die Lage glücklicherweise eine andere. Denn sein Jubiläum fiel in eine schon seit einigen Jahren andauernde ›Baldwin-Renaissance‹, die maßgeblich durch Filme wie Raoul Pecks I Am Not Your Negro (2016) und Barry Jenkins’ If Beale Street Could Talk (2018) angestoßen wurde und im Zuge der Internationalisierung der Black Lives Matter-Bewegung nach der Ermordung von George Floyd 2020 weiter an Fahrt gewann.
Dabei galt Baldwin, der 1987 starb, schon zu seinen Lebzeiten vielen als nicht mehr zeitgemäß. Stand er 1963 – im Jahr des Marschs auf Washington und des Erscheinens von The Fire Next Time – im Zenit seiner Berühmtheit, so verbreitete sich bereits ein paar Jahre später ein »narrative of decline« um ihn und vor allem sein Spätwerk.[2] Seit den späten 1990ern wuchs das wissenschaftliche Interesse an Baldwin wieder, doch noch 2014 schrieb die New York Times, dass sein Werk aus vielen schulischen Curricula und Leselisten verschwunden sei.[3] Zwei Jahre später hieß es hingegen im Time Magazine:
»James Baldwin is everywhere. […] His words inspire on social media; his phrases speak from T-shirts; his face covers a throw pillow on Etsy.«[4]
Neben Baldwins popkultureller Ikonisierung und der Aneignung von Baldwin-Zitaten durch politische Bewegungen von Black Lives Matter bis hin zu propalästinensischen Aktivist:innen stellen heute auch zahlreiche zeitgenössische Autor:innen über literarische Anspielungen, Motti in ihren Werken oder Interviews eine Verbindung zu ihm her. Die Liste reicht von Ta-Nehisi Coates und Teju Cole über Didier Eribon und Colm Tóibín bis hin zu Sasha Marianna Salzmann, Mithu Sanyal und Fatma Aydemir. Angesichts dieses reichen und globalen ›Nachlebens‹ von James Baldwin tut sich auch in der Forschung einiges[5] – zumal diese davon profitiert, dass seit 2017 Baldwins umfangreicher Nachlass am New Yorker Schomburg Center for Research in Black Culture zugänglich ist.
Rechtzeitig vor Baldwins 100. Geburtstag am 2. August 2024 erschien die erste deutschsprachige Monographie zu Baldwin in einem Publikumsverlag:[6] René Aguigahs James Baldwin: Der Zeuge (München: C. H. Beck 2024).[7] Aguigah, Kulturjournalist und Ressortleiter bei Deutschlandfunk Kultur, war schon zuvor als Vermittler von Baldwins Werk in Deutschland in Erscheinung getreten: als Autor des Nachworts der deutschsprachigen Neuausgabe von Another Country (Ein anderes Land, 2021), als Berater der Übersetzerin Miriam Mandelkow zur Wiedergabe rassistischer Begriffe sowie als Sprachrohr Baldwins auf Twitter.[8] Sein Buch kann sich den Erfolg der Neuausgaben von Baldwins Werk zunutze machen, die seit 2018 bei dtv erschienen sind. Mehrere dieser Werke – fünf Romane und drei Essaybände, allesamt neu übersetzt von Miriam Mandelkow – haben es in die Bestsellerlisten des Magazins Der Spiegel geschafft. Und tatsächlich fand Aguigahs Buch nicht nur große Berücksichtigung bei der Literaturkritik, sondern stand im September 2024 auch auf der Sachbuch-Bestenliste.
James Baldwin: Der Zeuge beschreibt sich selbst als »weder Forschungsarbeit noch Biographie«, sondern will ein Porträt von James Baldwin zeichnen, indem es ihn ›liest‹: »Dieses Buch liest James Baldwin in seiner Zeit – und stellt ihm Fragen aus der Gegenwart« (12). Dadurch ergibt sich eine zentrale Spannung zwischen dem Heute der Lektüre und dem Damals des 20. Jahrhunderts, in dem sich Baldwins Leben ereignete und von dem auch die Welten seiner Romane geprägt sind.
Dass Aguigah den Akt der Lektüre ins Zentrum seiner Ausführungen stellt, bildet sich auch in der elaborierten und insgesamt sehr eleganten Struktur des Buches ab. Jedes Kapitel trägt ein aussagekräftiges Baldwin-Zitat im Titel und beginnt mit einem Filmbeispiel, wodurch die Bedeutung von Baldwins rhetorischer Schärfe und Telegenität für sein Nachleben als Social-Media-Star unterstrichen wird. Gleichzeitig sind drei der vier Hauptkapitel über Gegensatzpaare strukturiert, die auf aktuelle Spannungsfelder verweisen und für die Baldwins Werke einen »Reflexions- und Resonanzraum« (133) darstellen. Mit ›Resonanz‹ verwendet Aguigah dabei einen Begriff, der derzeit oft im Zusammenhang mit Schwarzer deutscher Literatur zirkuliert und dem von Sharon Dodua Otoo begründeten Schwarzen deutschen Literaturfestival »Resonanzen« seinen Namen gegeben hat. Für Aguigah steckt in dem Begriff eine »nicht ganz so direkte Gegenwärtigkeit«, eine Form des Widerhallens oder Mitschwingens, die Präsentismus vermeidet und Baldwins »sperrige Seiten« nicht kleinredet.[9] Schließlich ergibt sich aus seiner Fokussierung auf die Akte des Lesens und Mitschwingens ein Verfahren, das es ihm erlaubt, unterschiedliche Lesarten und Bedeutungsebenen von Baldwins Werken nebeneinanderzustellen. Die biographische Perspektive, die gerade für ein mit Baldwins Leben noch nicht allzu vertrautes deutschsprachiges Publikum interessant sein dürfte, erscheint damit glücklicherweise als nur eine von mehreren möglichen Lesarten. Insgesamt vermeidet Aguigah sehr geschickt, dass diese Perspektive zur einengend-reduktiven »Trüffelsuche im Leben des Autors« führt, die insbesondere bei der Literatur marginalisierter Autor:innen allzu oft als Selbstzweck betrieben wird (58).
Autor und Aktivist
Dem ersten Gegensatzpaar »Autor und Aktivist« nähert sich Aguigah auf drei unterschiedliche Weisen an: erstens über den Film Take This Hammer (1964) und Baldwins Rolle darin als »Aktivist vor der Fernsehkamera in San Francisco« (38), zweitens über Baldwins Kindheit und Jugend im New Yorker Stadtteil Harlem und die Nachwirkungen dieser Zeit in seinem Schreiben und drittens über Baldwins Verhältnis zum eine knappe Generation älteren afroamerikanischen Schriftsteller Richard Wright und somit zu der »Szene, wie der Autor als junger Mann die Bühne der US-amerikanischen Literatur betritt«, inklusive dem symbolischen Vatermord an Wright in frühen Essays wie Everybody’s Protest Novel (1949). Diese unterschiedlichen Zugänge ermöglichen es Aguigah nicht nur, unterschiedliche Lesarten von Baldwins erstem Roman Go Tell It On The Mountain (1953) zu präsentieren; er zeichnet darüber auch das Bild eines Menschen, der seinem Selbstverständnis nach mehreres zugleich ist – telegener Aktivist, mit seiner Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen zeitlebens verbundener Schwarzer Amerikaner, Autor mit literarischen Ambitionen jenseits von reiner ›Protestliteratur‹.
Aguigah ordnet Baldwin als »spezifischen Intellektuellen« im Sinn Michel Foucaults ein, d.h. als jemanden, der anders als der ›universale‹ Intellektuelle nur zu jenen Dingen öffentlich Stellung nimmt, über die er dank spezifischer Kenntnisse zu sprechen befähigt ist. In Baldwins Fall waren das vor allem die race relations, für die er – geschult durch »eigene Betroffenheit und Fachkompetenz« – in doppelter Hinsicht Experte war (28). Außerdem verdeutlicht Aguigah, wie Baldwin Zeit seines Lebens die Eigengesetzlichkeit von Literatur betonte. Er kritisierte ›Protestromane‹ wie Harriet Beecher Stowes Uncle Tom’s Cabin und eben auch Richard Wrights Native Son dafür, dass die ›Wahrheit‹ hier gegenüber der ›politischen Botschaft‹ zu kurz komme, wobei mit Wahrheit in erster Linie die Anerkennung menschlicher Komplexität gemeint ist. Deren Vernachlässigung führe zu einem Fehlen von Lebensechtheit und Ambivalenz und zu einer Tendenz zum Bedienen von Stereotypen.
Wie aber ging Baldwin mit der Spannung zwischen der in aktivistischen Zusammenhängen gebotenen Eindeutigkeit und Entschiedenheit und der Verpflichtung von Literatur auf die Sichtbarmachung von Ambivalenz und Komplexität um? Aguigah schlägt hier eine Perspektive auf Baldwin vor, die sich wiederum über mehrere Ebenen erstreckt (ähnlich argumentiert er auch hinsichtlich der später diskutierten Gegensatzpaare). Ein Teil seiner Lesart lautet schlicht: Baldwin ging mit der Spannung um, indem er die durchaus als schmerzhaft erlebten Widersprüche austrug, statt sie vorschnell aufzuheben (vgl. 193). Ein anderer Teil artikuliert sich in der titelgebenden Charakterisierung Baldwins als Zeuge, die Aguigah anderen Zuschreibungen – insbesondere jener als Prophet – entgegensetzt und die ein Gemeinsames der vermeintlichen Gegensätze betont: die Verpflichtung auf »etwas in der Welt« statt auf Kunst um der Kunst willen sowie eine beobachtende Positionierung am Rand der aktivistischen Arena (66f.). Schließlich betont Aguigah, dass Baldwins Romane – wenn sie auch keine ›Protestromane‹ oder ›thesis novels‹ sein wollten – dennoch eindeutig politische Romane sind: Romane, deren politischer Gehalt sich durch die Verpflichtung auf unbequeme Wahrheiten und durch Baldwins Positionierung als Zeuge sowie durch den Fokus auf das »widersprüchlich Menschliche« ergibt:
»Und was wäre die Verbindung zwischen Menschen anderes als die Keimzelle des Politischen?« (54)
Fiction und Nonfiction
Mit der Bestimmung von Baldwins Romanen als ›politisch‹ ist Aguigah dann beim zweiten Gegensatzpaar: »Fiction und Nonfiction«. Baldwin ist heute hauptsächlich für seine Romane und Essays bekannt – weniger für seine beiden Theaterstücke, den Gedichtband Jimmy’s Blues (1983) oder die Erzählungen aus dem Band Going to Meet the Man (1965). Das Verhältnis zwischen diesen beiden wichtigsten Formen seines Schreibens, in denen sich der Konflikt zwischen Autor und Aktivist gewissermaßen manifestiert, war in der Literaturkritik oft Gegenstand durchaus harscher Bewertungen: Namhafte Literaturwissenschaftler wie etwa Harold Bloom oder Schriftsteller wie Mario Puzo zogen Baldwins Essays den Romanen vor; der Interviewer im Kurzfilm Meeting the Man (1970) suggeriert hingegen, dass die fiktionalen Arbeiten stärker als seine Essays seien. Aguigah nun geht davon aus, dass Baldwins Romane und Essays »womöglich wechselseitig [helfen], die jeweils andere Textsorte besser zu verstehen« (72). Unter dieser Prämisse betrachtet er Werke aus Baldwins mittlerer Schaffensperiode: den in Paris spielenden zweiten Roman Giovanni’s Room (1956), das oft als Hauptwerk bezeichnete Another Country (1962) sowie verschiedene Essays, darunter Preservation of Innocence (1949), Stranger in the Village (1953) und The Fire Next Time (1963).
Partikular und universal
Ein gegenwärtig als besonders polarisierend erlebtes Gegensatzpaar, mit dem sich Aguigah vornehmlich Baldwins späterer Schaffensperiode widmet, strukturiert das folgende Kapitel: »partikular und universal«. Im Vordergrund steht hier die Beobachtung, dass in aktuellen Auseinandersetzungen, die unter Stichworten wie ›Identitätspolitik‹ und ›Cancel Culture‹ geführt werden, zur Untermauerung der jeweiligen Sichtweise Baldwin-Zitate von ganz gegensätzlichen Seiten vorgebracht werden. Diejenigen, die die ›Partikularität‹ von Schwarzen (oder, in anderen Zusammenhängen, homosexuellen) Erfahrungen betonen, bezeichnen Baldwin etwa als ›Ahnherr‹ der Intersektionalität, der aufgrund seiner ursprünglich dreifachen Marginalisierung als Schwarz, schwul und arm für unterschiedliche Diskriminierungsformen, ihre Ähnlichkeiten, Verschränkungen und Unterscheidungen besonders sensibilisiert gewesen sei. Aguigah kann an vielen Stellen überzeugend zeigen, wie die von Baldwin entworfenen literarischen Welten Denkweisen vorführen und bloßlegen, die in den letzten Jahren unter Bezeichnungen wie ›Farbenblindheit‹, ›weiße Fragilität‹ oder ›Tokenismus‹ zu etablierten kritischen Konzepten in der Critical Race Theory und den Critical Whiteness Studies geworden sind. Andererseits lassen sich viele von Baldwins Äußerungen universalistisch lesen, etwa wenn er den ethischen, über ein einzelnes Thema hinausweisenden Gehalt seiner Literatur herausstellte, sich gegen den Separatismus der Nation of Islam aussprach oder betonte, dass er für Menschen, nicht für bestimmte soziale Gruppen oder Kollektividentitäten schreibe.
Indem Aguigah Baldwins »Orientierung an partikularen Kollektividentitäten« wie auch seine »Orientierung an der Universalität des Menschseins« (118) ernst nimmt, gelingt ihm ein differenzierter Umgang mit dieser konfliktreichen Polarität. Beispielsweise zeigt er, wie Baldwin in Another Country eindringlich »von der Differenz der Schwarzen Erfahrung« erzählt, ohne dabei jedoch die Auffassung zu vertreten, »dass Leiden unter Rassismus allein von Schwarzen nachvollzogen werden könnte« (101). Aguigah macht somit klar, dass das ›Dazwischen‹, dem Baldwins Position oft entspricht – etwa hinsichtlich der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung (Martin Luther King) und den Black Muslims (Malcolm X) –, nicht mit einer es sich einfach machenden Versöhnlichkeit verwechselt werden sollte. Es geht vielmehr um ein Wahr- und Ernstnehmen der anderen Perspektive trotz möglicher innerer Abwehrreaktionen. Vor dem Hintergrund gegenwärtiger Bemühungen, Baldwin aufgrund seiner identitätspolitischen Äußerungen zum Theoretiker avant la lettre von Intersektionalität oder strukturellem Rassismus zu erklären, deutet Aguigah in Bezug auf Baldwins Memoir No Name in the Street (1972) auch die Grenzen solcher Aktualisierungen an, etwa wenn es um seine fehlende Kritik am Waffenkult oder der Homophobie der Black Panthers geht.
Erinnerung
Im letzten Kapitel verzichtet Aguigah darauf, sich seinem Thema über ein Gegensatzpaar zu nähern. Stattdessen interessiert er sich für das Erinnern und die Krise des Erinnerns in Baldwins Romanen, insbesondere in seinem von Literaturkritik und Forschung nach wie vor vernachlässigten letzten Roman Just Above My Head (1979), den Aguigah als Baldwins »Fassung einer Great American Novel« betrachtet (168). Die Stärke dieses Kapitels ist zweifelsohne die genaue Textlektüre, die Baldwins Auseinandersetzung mit dem Thema in den Kontext der Beschäftigung mit Erinnerung in vielen Romanen der Moderne einordnet. Aguigah zeigt zum einen, wie sich Baldwins Frage danach, wie an die Bürgerrechtsbewegung zu erinnern sei, mit dem Nachdenken über das Funktionieren des menschlichen Gedächtnisses überschneidet, so dass der Ich-Erzähler zum Erzählten »die Quellenkritik stets als Beigabe« mitbringe und seine eigenen Erinnerungen kritisch reflektiere (vgl. 177). Zum anderen nutzt Aguigah das Thema der Erinnerung auch, um sich einer weiteren Besonderheit von Baldwins Schaffen zu widmen: den vielen Rekursen auf Gospel, Blues und Jazz und der Rolle von Musik als ›Zeitmaschine‹, die »mit einem anderen Zugang zur Vergangenheit als per Geschichtsschreibung« verbunden sei (184).
***
Aguigah ist mit seinem Buch ein vielschichtiges Porträt von James Baldwin und einigen seiner Werke gelungen, dem nicht nur während des Black History Month viele Leser:innen zu wünschen sind. Insbesondere die Lektüren, in denen er verschiedene Lesarten von Baldwins Werken nebeneinanderstellt, sind lesenswert und laden zum Wiederlesen ein. Schade ist lediglich, dass ein weiteres Gegensatzpaar, das für nicht-amerikanische Leser:innen vermutlich besonders interessant gewesen wäre, nur gestreift wird: der Gegensatz zwischen einem ›amerikanischen‹ und einem ›globalen‹ Baldwin; zwischen einer Perspektive, die sein Denken als primär auf US-amerikanische Zusammenhänge bezogen begreift, und einer Sicht, die die globalen, internationalen oder spezifisch europäischen Dimensionen seines Werks stärker berücksichtigt.[10]
So liefert Aguigah Baldwin-Interessierten im Jubiläumsjahr und darüber hinaus weit mehr als bloß ›Nippes‹. Wenn sich daher folgern ließe, dass das Baldwin-Jubiläum von manch anderem literarischen Jubiläum abweicht, so gilt das in anderer Hinsicht gerade nicht. Claude Haas bemerkt nämlich auch, dass Gedenkjahre »stets eine seismographische Funktion« haben, da sich an ihnen ablesen lässt, »wo ihre Jubilar*innen und deren – oder gar die – Literatur öffentlich gerade stehen«.[11] Auf Baldwin bezogen zeigt sich in der Tat, dass der Gewinn an literarischem Renommee, den sein Werk in den letzten Jahren verzeichnet, mit der in der Gegenwart enger gewordenen Koppelung des Literarischen ans Politische zusammenhängt. Für die »Notwendigkeit der Konzeption eines postautonomen oder heteronomen Literaturbegriffs«, die man aus dieser größeren Entwicklung ableiten kann, ist sein Werk ein äußerst produktives Beispiel. Denn es zeigt nachdrücklich, dass ein politisch engagiertes, an der ›Welt‹ orientiertes Schreiben »durchaus mit literarischen Autonomiebestrebungen vereinbar sein kann«.[12]
Die Komparatistin Gianna Zocco leitet am ZfL das ERC-Projekt Schwarze Narrative Transkultureller Aneignung. Literarische Akte des Konstruierens afroeuropäischer Welten und der Infragestellung europäischer Grundlagen. Auf dem ZfL BLOG erschien von ihr zuletzt »A “MODEST MONUMENT” AWAITING COMPLETION. Gianna Zocco talks to Jean-Ulrick Désert and Dorothea Löbbermann about the W. E. B. Du Bois Memorial at the Humboldt University of Berlin«.
[1] Claude Haas: »War da was? Bemerkungen zum Kafka-Jahr 2024«, in: ZfL BLOG, 8.10.2024.
[2] Remo Verdickt: Between Aleph and Avatar. James Baldwin’s Twenty-First-Century Career and the Dynamics of Contemporary World Literature, unveröffentlichte Dissertation, KU Leuven, verteidigt am 4.10.2024, S. 2.
[3] Felicia R. Lee: »Trying to Bring Baldwin’s Complex Voice Back to the Classroom«, in: New York Times, 24.4.2014; vgl. auch Verdickt: Between Aleph and Avatar (Anm. 2), S. 3.
[4] Eddie Glaude: »James Baldwin and the Trap of Our History«, in: Time, 18.8.2016.
[5] Frisch erschienen oder von den Verlagen bereits angekündigt sind neue Monographien zu Baldwin von Douglas Field (Walking in the Dark: James Baldwin, My Father, and Me, Manchester University Press 2024), Magdalena Zaborowska (James Baldwin: The Life Album, Yale University Press, angekündigt für März 2025) und Nicholas Boggs (Baldwin: A Love Story, Farrar, Straus and Giroux, angekündigt für August 2025).
[6] Diese Aussage lässt sich mit nur einer Einschränkung machen: 1985 publizierte der Peter Lang Verlag Peter Grädels Dissertation James Baldwins Romane in den USA und in den deutschsprachigen Ländern Europas, 1953–1981. Tendenzen der Rezeption.
[7] Aguigahs Buch ist dabei nur eine von fünf deutschsprachigen Publikationen mit Baldwin-Bezug, die im Jubiläumsjahr erschienen. Bei dtv kamen in diesem Jahr zwei weitere von Baldwins Büchern in neuer Übersetzung heraus, der Roman Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort (Tell Me How Long the Train’s Been Gone, 1968) und der Essayband Kein Name bleibt ihm weit und breit (No Name in the Street, 1972). Zusätzlich erschienen im schweizerischen Kampa Verlag ein Band mit Gesprächen (Ich weiß, wovon ich spreche. Ein Leben in Gesprächen) sowie der Band Fremder im Dorf / Schwarzer Körper, der die Essays von James Baldwin und Teju Cole über ihre Zeit in Leukerbad enthält. Zitate aus James Baldwin: Der Zeuge werden direkt im Text nachgewiesen.
[8] Zu Aguigahs Tweets über Baldwin vgl. Verdickt: Between Aleph and Avatar (Anm. 2), S. 171 und S. 176.
[9] Im Begriff der ›Resonanz‹ drückt sich für Otoo die Intention aus, mit ihrem Festival einen Raum zu schaffen für das, »was Schwarzen Menschen in mehrheitlich weißen Räumen fehlt«. »Mir geht es darum zu überlegen, was sich die Geschichten gegenseitig und im Hinblick auf andere literarische Werke, andere afrodiasporische Texte erzählen. Das ist für mich Resonanz: Wenn eine Schwarze Person einen Text schreibt und Würdigung in einem Raum findet, weil Lesende wissen, was gemeint ist, worauf der Text Bezug nimmt, an was er erinnert.« Vgl. Isabella Caldart: »Türen öffnen – Interview mit Sharon Dodua Otoo über das Schwarze Literaturfestival ›Resonanzen‹«, in: 54books, 12.5.2022. Für Aguigahs Verständnis des Begriffs vgl. ein Gespräch mit ihm in der FAS: Tobias Rüther und Harald Staun: »Versöhnung ist mit ihm nicht zu haben«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 7.7.2024, S. 35.
[10] Die spezifisch europäischen Dimensionen von Baldwins Werk und seiner Rezeption sind der Fokus eines Heftes der James Baldwin Revue mit dem Titel »European Baldwins«, dessen Herausgabe ich gerade gemeinsam mit Remo Verdickt und Pieter Vermeulen vorbereite.
[11] Haas: »War da was?« (Anm. 1).
[12] Carlos Spoerhase/Juliane Vogel: »Gegenwartsliteratur als Herausforderung des Literarischen«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 97 (2023), hier S. 861.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Gianna Zocco: 100 Jahre James Baldwin. Zu René Aguigahs Baldwin-Porträt, in: ZfL Blog, 12.2.2025, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2025/02/12/gianna-zocco-100-jahre-james-baldwin-zu-rene-aguigahs-baldwin-portraet/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20250212-01