»Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer: das wiederholt sich immer wieder: schließlich kann man es vorausberechnen und es wird Teil der Ceremonie.«
Franz Kafka: Tagebücher
Die intellektuelle Ausbeute literarischer Jubiläen und Gedenkjahre fällt in der Regel mager aus. Viel Nippes wird zu solchen Anlässen auf den Markt geworfen. Runde Geburts- oder Todestage von Schriftsteller*innen zeugen so oft unfreiwillig von jenem vielfach beklagten Prestigeverlust der Literatur, gegen den ihre mediale Verwertung gerade anzurennen versucht. Große Namen sind für diese Schieflage besonders anfällig, nur selten erscheinen zu ihren Jahrestagen ambitionierte Neudeutungen ihrer Werke. Es dominiert die gediegene Traditionspflege und ein mitunter verschmitzter Respekt – der schlimmste von allen. Aus diesen Gründen haben Gedenkjahre aber stets eine seismographische Funktion, denn an ihnen lässt sich ablesen, wo ihre Jubilar*innen und deren – oder gar die – Literatur öffentlich gerade stehen. Das Kafka-Jahr 2024 macht hier keine Ausnahme.[1]
Anlässlich seines 100. Todestags am 3. Juni ist mit Kafka einem Autor wiederzubegegnen, der nach dem Zweiten Weltkrieg zum Inbegriff moderner Literatur avanciert ist. Anders als etwa Thomas Mann, Robert Musil oder Marcel Proust hat Kafka unzählige Nachahmer*innen gefunden und im Gegensatz zu ihnen – im Gegensatz selbst zu Goethe – wurde Kafka kaum je ernsthaft vom Sockel gestoßen. Vermutlich wird er sogar mehr gelesen als sie alle zusammen. Außerhalb des deutschen Sprachraums ist das zweifelsohne der Fall und es dürfte nicht zuletzt an seiner guten Übersetzbarkeit liegen.[2] Ausgerechnet Kafka, eine Art ewiger Sohn, wurde zum Heiligen Vater der neueren Literaturgeschichte.[3]
Die neueste Kafka-Monographie
Das soll 2024 offenkundig auch so bleiben. In seiner kleinen Kafka-Monographie mit dem Titel Um sein Leben schreiben[4] stellt der obligate Rüdiger Safranski den doppelten Konflikt von Leben und Schreiben in den Mittepunkt seiner Ausführungen. Schreibt Kafka, fühle er sich schuldig, weil er das Leben verpasst; lebt er, fürchte er das Schreiben zu versäumen. Beides mache ihn in seinen eigenen Augen schuldig, gegenüber den Frauen, dem Vater und dem Büro oder eben gegenüber der ausbleibenden Produktion. Kafkas Texte lassen sich anhand dieser Spannung analytisch gut erden, zu gut. Denn sie dürfte in ihrer Banalität kaum dazu angetan sein, die Einzigartigkeit seines Werks zu begreifen. Safranski gelingen sensible Deutungen einiger Kafka-Texte und sein Buch bewegt sich unangestrengt auf der Höhe der Diskussion, aber es ist komplett fantasielos. Das mag daran liegen, dass er an einem zutiefst existentiellen Kafka-Bild festhält und dem literarischen Selbstverständnis seines Gegenstandes folgt. Auf diese Weise festigt sich einmal mehr die Vorstellung von einem Schriftsteller, dessen Werk sich eher einer parareligiösen Erweckung in nächtlichen Sitzungen am Schreibtisch verdankt als gezielt platzierten Stilmitteln und gewandt eingesetzten Erzählstrategien.
Der Serien-Kafka
Gewagter kommt da schon die viel gelobte sechsteilige ARD-Serie mit dem monumentalen Titel Kafka von Daniel Kehlmann (Drehbuch) und David Schalko (Regie) daher. Als Biopic konglomeriert sie Leben und Werk. Die Serie verzichtet auf Cliffhanger und dramaturgischen Firlefanz. Sie unterstellt ihrem Protagonisten keine nennenswerte Entwicklung, ihr Zentrum bilden folgerichtig Einzelszenen und Bildsprache, und diese sind in ihren Wiederholungen und Variationen oft suggestiv. So begegnen dem Protagonisten durch all seine Lebensphasen hindurch wiederholt zwei bedrohlich-joviale Männerfiguren. Sie gemahnen an die beiden Wächter aus dem Process ebenso wie an die »Herren«, die K.s Hinrichtung durchführen, und sie fallen am Ende des Films mit den Gehilfen K.s aus dem Schloss in eins. Solche Einfälle mögen naheliegen, sie spiegeln jedoch gekonnt das ambivalente Machtverständnis Kafkas, das bis heute einen wesentlichen Teil seines Ruhms begründet. Macht wird bei Kafka nie eindimensional als Unterdrückung gefasst. Ihre Funktion verdankt sich der Bereitschaft der (vermeintlich) Ohnmächtigen, noch die korruptesten und undurchsichtigsten Institutionen zu stützen, bis in libidinöse Verwicklungen hinein. Scherge und Helfer sind bei Kafka somit in der Tat komplementäre Figuren.
Die Serie hat aber auch eklatante Schwächen. Joel Basman läuft zu großer Form auf, spielt und spricht Kafka jedoch oft ziemlich blasiert. Das hat den Vorzug der Andachtsferne, nur verkommt die Figur damit allzu oft zum schrulligen Sonderling. Kafkas Vater wirkt den ganzen Film hindurch wie eine reine Karikatur.
Heikel bleibt die angedeutete Verbindung des ›Ungeziefers‹ aus der Verwandlung mit dem Hinweis auf die spätere Ermordung von Kafkas drei Schwestern in Konzentrations- und Vernichtungslagern aus dem Off. Sicher wurden die Juden von den Nazis wie Ungeziefer vernichtet, aber Kafkas Käfer ist kein Opfer der Shoah. Die entsprechenden Kameraeinstellungen am Schluss der dritten Folge sind zwar unaufdringlich; auch wurde der sensationelle Erfolg Kafkas nach 1945 oft mit der Nähe seiner Literatur zu den Totalitarismen erklärt. Diese herkömmliche prophetische Zuschreibung an sein Schreiben wird mittlerweile jedoch zu Recht kritisch gesehen. Die maschinelle Vernichtung von Menschen hat im Werk Kafkas keinen Ort. Bei Kafka muss die Macht ihre Opfer bei der Stange halten; und sie muss es schaffen, beinahe alle zu Opfern (und zu Tätern) zu machen. Aus diesen Gründen steht auch der Folter- und Tötungsapparat aus der Strafkolonie den Gaskammern der Nazis denkbar fern.
Schwer einzuschätzen sind der Humor und die (Selbst-)Ironie, denen Drehbuch und Regie ebenso ausgiebig frönen wie der medialen und narratologischen Selbstreflexion. In einer sehr klischeehaften Szene spielt der Drehbuchautor Kehlmann Arthur Schnitzler. Schnitzler hat, selbstverständlich, just in dem Moment Besuch von einem ›süßen Mädel‹, in dem der netzwerkende Max Brod ihm eins seiner Werke überreichen will und schroff abgewiesen wird. An späterer Stelle belehrt Kafka seine Verlobte Felice Bauer ausgiebig darüber, dass er Schnitzlers Stücke und Novellen für die »widerlichste Schreiberei« hält. Der für Kafka ungewöhnliche Ausspruch ist brieflich belegt, in der Kombination mit Kehlmanns Schnitzler-Verkörperung gewinnt er in der Serie jedoch eine eigene poetologische Dimension. Augenzwinkernd (wie man so sagt) gibt Kehlmann-Schnitzler hier zu verstehen, dass sein literarisches Werk und sein Film bei Kafka wahrscheinlich auf wenig Gegenliebe stoßen würden. Da dies aber so evident wie belanglos ist, bleiben derartige Selbstbescheidungen anmaßend, auch als Witz.
Kafka in Roman und Film
Damit sind sie allerdings immer noch ansprechender als das, was Georg Maas und Judith Kaufmann unter dem Titel Die Herrlichkeit des Lebens auf die Leinwand gebracht haben. Die Vorlage bildet der gleichnamige Kafka-Roman Michael Kumpfmüllers aus dem Jahr 2011.[5] Der Roman erzählt die letzten Lebensmonate Kafkas und seine Liebesbeziehung mit Dora Diamant. Kumpfmüller vermeidet jede sprachliche Anbiederung an seinen Gegenstand und bringt abwechselnd die Innenansichten beider Protagonist*innen zur Darstellung. Zu den Höhepunkten seines Romans gehört die Imagination von Doras Kafka-Lektüren. In ihrem Bedürfnis nach hermeneutischer Orientierung steht die literarisch ahnungslose Dora der bezwingenden Objektivität von Kafkas Erratik genauso hilf- und haltlos gegenüber wie Generationen späterer Interpret*innen. Ihre allegorischen Festlegungen sind in ihrer Doppelbödigkeit mitunter von obszöner Poetizität. Während der gemeinsamen Berliner Monate von Lebensmittelknappheit, Kälte und Hyperinflation im Jahr 1923 liest sie bei Kumpfmüller Der Bau und erblickt sich selbst in dem vom Tier im warmen Bau gehorteten Fleisch: »der ganze Bau duftet nach Fleisch, und das Fleisch bin ich, wie sie erschrocken denkt, und dann kommt die Stelle, wo er es sich nimmt, und es hört sich fürchterlich an.«[6]
Von solchen Abgründen vermittelt der Film von Maas und Kaufmann noch nicht einmal mehr einen Eindruck. Das ist auf ein steriles Drehbuch, in erster Linie aber auf den Kafka Sabin Tambreas zurückzuführen, gegen den die bodenständig verträumte Dora von Henriette Confurius leider kaum etwas ausrichten kann. Tambrea blickt den ganzen Film hindurch so tiefgründig drein und schwatzt so salbungsvoll daher, dass er sich zur exakten Gegenfigur von Basmans Kafka wie von Kumpfmüllers Romanfigur niederspielt. Dabei wirkt die Ehrfurcht des Films vor dem Schriftsteller Kafka aufgesetzt. Damit nur ja nicht in Vergessenheit gerät, mit wem wir es hier zu tun haben, integrieren Maas und Kaufmann die Niederschrift von Kafkas bekanntester Erzählung Die Verwandlung aus dem Jahr 1912 in die viel spätere Filmhandlung. Solche Faktenferne ist im Medium der Fiktion völlig legitim, sie hängt aber ab von ihrer Funktion. Falsches Pathos rechtfertigt sie nicht.
Kafka in Soziologie und Jurisprudenz
Der Tiefpunkt des Kafka-Jahres ist damit allerdings noch nicht erreicht. Dieser stammt aus der Feder des französischen Philosophen und Soziologen Geoffroy de Lagasnerie. Der Titel seines zum schmalen Buch aufgeblähten Essays lautet Kafka misstrauen.[7] Das weckt erst einmal Neugierde, denn Kafka-Abrechnungen sind rar. Lagasneries Thesen kommen griffig daher: Kafkas Texte würden das Rechtssystem nicht auf die Herkunft oder die gesellschaftliche Schicht inhaftierter Gruppen hin durchleuchten, sondern mittels der Mystifikation umfassender rechtlicher Willkür einem »Verlangen nach dem Gesetz« Vorschub leisten.[8] Mit Blick etwa auf die – unstrittige – rassistische Diskriminierung von Schwarzen im Rahmen der westlichen Justiz habe dies verheerende Folgen gezeitigt: »Der kulturelle Mythos des unschuldig Inhaftierten könnte einer der Gründe für das Fortbestehen des strafrechtlichen Unbewussten in unseren Gesellschaften sein.«[9] Einer »soziologische[n] Analyse der objektiven Logik von Machtsystemen«[10] stehe Kafka nicht nur fern, er mache für sie förmlich blind.
Nun konnte Kafka als Schriftsteller in der Tat keine »soziologische Analyse der objektiven Logik von Machtsystemen« liefern, denn für eine schlicht mit Eindeutigkeit verwechselte Form von Objektivität ist die moderne Literatur ihrem Wesen nach gar nicht zuständig. Aus diesem Grund bleibt Kafka an einem angeblichen »kulturellen Mythos des unschuldig Inhaftierten« denn auch gänzlich unschuldig. Die Pointe von Texten wie Das Urteil oder Der Process besteht darin, dass die Frage nach der Schuld ihrer Hauptfiguren gerade offenbleibt. Dass bei Kafka im Übrigen auch niemand »inhaftiert« wird, ist demgegenüber beinahe schon ein Detail.
Das Ärgernis von Lagasneries Essay besteht nicht in seinen einfältigen Überzeugungen, sondern im symptomatischen Zug seiner Erwartungshaltung. Das Bedürfnis nach einer gesellschaftspolitisch sauberen und geschmeidigen Literatur nimmt erwiesenermaßen zu. Es entlastet von der Lektüre und es kassiert unter anderem jede historische Besinnung. Mit gleichem Recht ließe sich Kafka mangelndes Klimabewusstsein vorwerfen.
Akribisch und unprätentiös fällt hingegen das streng rechtshistorische Büchlein des Juristen Ulrich Fischer über Kafkas letzten Willen aus.[11] Kafka hatte seinen Freund Max Brod bekanntlich in gleich zwei Schreiben damit beauftragt, den Großteil seiner Schriften – u.a. alle drei Romanfragmente – den Flammen zu überantworten.[12] Was die Missachtung von Kafkas Verfügung an Glück, aber auch an moralischer Last für Brod und für Generationen von Leser*innen bedeutet, wurde vielfach diskutiert. Fischer nüchtert den gesamten Diskurs juristisch aus. Zum einen seien Kafkas Schreiben an Brod im juristischen Sinn kein ›Testament‹, wie bis heute immer wieder irrtümlich behauptet werde, sondern ein ›Kodizill‹. Ein Testament habe Kafka gar nicht hinterlassen, so dass der rechtmäßige Erbe seiner Schriften zum anderen gar nicht Brod, sondern die eigene Familie gewesen sei. Hieraus folgt, dass Brod gar nicht das Recht gehabt hätte, auch nur ein einziges Kafka-Blatt zu verbrennen. In den Worten der Jurisprudenz:
»Max Brods ›Rettungswerk‹ war, ohne dass er es wusste, nichts anderes als die getreue Befolgung von Recht und Gesetz, aus denen sich durch Kafkas Handeln und Unterlassen zwingend ergab, dass eine Berechtigung der Vernichtung von Kafkas unveröffentlichten Werken und Schriften durch ihn nicht bestand.«[13]
Das ist gut zu wissen. Allerdings lässt Fischer keinen Zweifel daran, dass die promovierten Juristen Franz Kafka und Max Brod vom Erbrecht keinen blassen Schimmer besaßen. Und schon allein aus dem Grund wird sein – luzides und wertvolles – Buch die Debatte um die Rechtmäßigkeit von Brods Entscheidung nicht beenden können.
Der Kafka der Schriftsteller
Literarische Kafka-Imitationen sind passé. Sebastian Guggolz hat jüngst eine Anthologie mit Texten zeitgenössischer Schriftsteller*innen zu Kafka vorgelegt und Thomas Lehr einen Band mit zehn eigenen Kafka-Etüden publiziert.[14] Auch wenn in all diesen Texten kaum eine Schule oder auch nur eine dominante Strömung erkennbar wird, fällt auf, dass Kafka in ihnen eher Gegenstand als Vorbild ist. Selbst A.L. Kennedy, die sich im Großbritannien unserer Tage in einer kafkaesken Welt wähnt, probiert mit keinem Satz zu schreiben wie Kafka.[15] Von den (vielleicht etwas zu) feinsinnigen Kafka-Anverwandlungen Thomas Lehrs gilt das weniger. Sie beziehen ihren Reiz aus der Aufbereitung Kafka’scher Motive und solide gearbeiteter Erratik.
Für die Einstellung zeitgenössischer Autor*innen zu Kafka scheint ein Text Michael Kumpfmüllers repräsentativ. Er trägt den schönen Titel Hände weg von Kafka! Kumpfmüller kartographiert kitschlos die Kafka-Begeisterung der eigenen Jugend und meint, mittels seines Kafka-Romans Die Herrlichkeit des Lebens sei es ihm gelungen, sich mit Kafka wie mit der eigenen Autorschaft zu »versöhne[n]«.[16] Tatsächlich fällt die von Harold Bloom einst so genannte ›Einflussangst‹ zeitgenössischer Autor*innen Kafka gegenüber dezent aus. Das spricht weder gegen ihn noch gegen die Gegenwartsliteratur. Verschiedentlich gewinnt man den Eindruck, dass hier Denkmalpflege und Gespensteraustreibung eine seltsame Liaison eingehen. Ob sie einander grundsätzlich näherstehen, als man gemeinhin glaubt?
Kafkas Kafka
Das Ereignis des Kafka-Jahres 2024 stammt von Kafka selbst. Es ist die von Reiner Stach bei Wallstein herausgegebene und kommentierte Neuedition des Process.[17] Stachs knapp hundertseitiger Kommentar setzt ebenso Maßstäbe wie seine monumentale dreibändige Kafka-Biographie (2002-2014).[18] Der Process-Kommentar gehört in seinen editionsphilologischen, biographischen, werkhistorischen, sprach- und kulturgeschichtlichen, stilistischen, narratologischen wie interpretatorischen Ausführungen zu den fundiertesten und subtilsten Klassiker-Kommentaren überhaupt. Stach ist Diener, nicht Jünger. Er hat keinerlei Bedenken, Kafka gelegentlich auch handfeste »Versehen« nachzuweisen.[19]
Wie gern würde man solche Ausgaben von Berlin Alexanderplatz oder vom Mann ohne Eigenschaften in der Hand halten, wie gerne vom Schloss und vom Verschollenen. Tatsächlich bildet Der Process den Auftaktband einer umfassend kommentierten Werkausgabe. Profitieren werden von Stachs Edition Kafka-Einsteiger*innen ebenso wie professionelle Leser*innen. Den Höhepunkt bilden seine zum Verständnis des Romans unerlässlichen narratologischen Beobachtungen. Stach beschäftigt sich im Kommentar intensiv mit der Frage, wann und wie aus der Perspektive der Hauptfigur Josef K. und wann dagegen aus auktorialer Perspektive erzählt wird. Das ist nicht immer leicht zu entscheiden. Neben wichtigen, aber seltenen »Erzählersignalen« dominiert im Process Stach zufolge insgesamt das bereits von Friedrich Beißner so genannte »einsinnige Erzählen« aus der Perspektive der Hauptfigur.[20] Aus scheinbar läppischsten Details leitet Stach wichtige Konsequenzen ab: Die Orientierungsprobleme, vor die der Roman all seine Rezipient*innen bis heute stellt, resultieren maßgeblich aus diesem »einsinnigen Erzählen«, das letztlich subjektiv und (wie gerne leichtfertig behauptet wird) ›unzuverlässig‹ bleibt. Dies zeigen die spärlichen Brüche, die die wenigen »Erzählersignale« dem »einsinnigen Erzählen« systematisch zufügen. An sich mag dies keine spektakulär neue Erkenntnis sein. Sie bei der Lektüre mithilfe des Kommentars allerdings Satz für Satz nachvollziehen und überdenken zu können, lässt den Process im besten Sinn des Wortes als Machwerk neu auferstehen. Die Frage, warum allein Kafka wie Kafka schreiben konnte, wird sich verbindlich nie beantworten lassen. Stellen muss man sie trotzdem. Stachs Kommentar bildet hierfür eine fabelhafte Grundlage.
Dabei muss man ihm keineswegs immer vorbehaltlos folgen. Denn die Konfrontation der beiden Erzählweisen dient ihm kurioserweise auch dazu, Josef K. als eine der unsympathischsten Figuren der Weltliteratur präsentieren zu können. Seine Einschätzung des Protagonisten scheint nachgerade von persönlicher Animosität geprägt. Das gereicht seinem Kommentar nicht zum Nachteil. Auch Editionen sind nicht in Stein gemeißelt. Gleichwohl wird Stachs Process noch Leser*innen finden, wenn das Gros der diesjährigen Kafka-Zubereitungen längst vergessen ist. Und wenn es des Überflusses eines Gedenkjahres bedarf, damit ein derartiges Projekt auf den Weg kommt, ist das weit mehr, als man bei der Gelegenheit erwarten durfte.
Der Literaturwissenschaftler Claude Haas ist Ko-Leiter des Programmbereichs Weltliteratur. Auf dem ZfL BLOG erschien von ihm zuletzt »Viel Lärm um alles. Über das Romanfragment ›Guerre‹ aus dem Nachlass Louis-Ferdinand Célines«.
[1] Das schließt fundierte Überblicke natürlich nicht aus. Vgl. vor allem die sehr gelungene Kafka-Sonderausgabe des Philosophie Magazins (Frühling 2024) mit dem Titel Der unendliche Kafka. Eine informative Zusammenstellung von Kafka-Spektakeln liefert die Kafka gewidmete aspekte-Folge vom 26.4.2024. Der vorliegende Text erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern ist das Ergebnis einer (mehr oder weniger) subjektiven Auslese.
[2] Die neueste Bestandsaufnahme von Kafkas internationaler Verbreitung stammt von Xaver von Cranach: »Der Kafka-Kult«, in: Der Spiegel 23 (2024).
[3] Vgl. Peter-André Alt: Franz Kafka. Der ewige Sohn, München: C.H. Beck 2018.
[4] Rüdiger Safranski: Kafka. Um sein Leben schreiben, München: Hanser 42024.
[5] Michael Kumpfmüller: Die Herrlichkeit des Lebens, Frankfurt a.M.: Fischer 112024.
[6] Ebd., S. 124.
[7] Geoffroy de Lagasnerie: Kafka misstrauen. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger, Frankfurt a.M.: Fischer 2024.
[8] Ebd., S. 35.
[9] Ebd., S. 63.
[10] Ebd., S. 50.
[11] Ulrich Fischer: »alles … restlos und ungelesen verbrennen«. Kafkas letzter Wille – eine juristische Analyse, Göttingen: Wallstein 2024.
[12] Vgl. zum Datierungsproblem der beiden Texte Detlev Schöttker/Katja Schicht: »Zwei letzte Willen«, in: FAZ 125 (1.6.2024), S. 14; dazu wiederum die Kritik von Fischer: »alles … restlos und ungelesen verbrennen« (Anm. 11), S. 30.
[13] Fischer: »alles … restlos und ungelesen verbrennen« (Anm. 11), S. 92.
[14] Sebastian Guggolz (Hg.): Kafka gelesen. Eine Anthologie, Frankfurt a.M.: Fischer 2024; Thomas Lehr: Kafkas Schere. Zehn Etüden, Göttingen: Wallstein 2024.
[15] Vgl. A.L. Kennedy: »Metamorphosen«, in: Guggolz (Hg.): Kafka gelesen (Anm. 14), S. 196–206.
[16] Michael Kumpfmüller: »Hände weg von Kafka!«, in: Guggolz (Hg.): Kafka gelesen (Anm. 14), S. 70–77, hier S. 77.
[17] Franz Kafka: Der Process. Roman, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Reiner Stach, Göttingen: Wallstein 2024.
[18] Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, Frankfurt a.M.: Fischer 2002; ders.: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis, Frankfurt a.M.: Fischer 2008; ders.: Kafka. Die frühen Jahre, Frankfurt a.M.: Fischer 2014.
[19] Vgl. etwa Kafka: Der Process (Anm. 17), S. 338.
[20] Stach erläutert die Begriffe neben anderen zentralen Erzählstrategien wie der »Spiegelfunktion des Gerichts« oder dem »Traummotiv« in einem Glossar (vgl. ebd., S. 360–366).
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Claude Haas: War da was? Bemerkungen zum Kafka-Jahr 2024, in: ZfL Blog, 8.10.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/10/08/claude-haas-war-da-was-bemerkungen-zum-kafka-jahr-2024/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20241008-01