Michael Mönninger: NACHBARSCHAFT WILMERSDORF. Eine kurze Geschichte in 14 Bildern

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Luftbild Pariser Str. 1
Abb. 1: ACHTUNDEINS, Kreuzung Pariser Straße/Bundesallee, (c) Eike Becker Architekten

Wer in Berlin das Wachstum und den Wandel der Quartiere außerhalb der historischen Kernstadt nachzeichnen will, der stößt für Zeiten, die länger als 150 Jahre zurückliegen, auf nichts als sandigen märkischen Ackerboden. Es ist nicht einfach, Dokumente zu finden, die Auskunft über die Nachbarschaften rund um das Gebäude ACHTUNDEINS in der Pariser Straße 1 geben, den neuen Standort der Verwaltung der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin (GWZ), des Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft (ZAS) und des ZfL (Abb. 1).

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Straube-Plan von 1876 mit den Eintragungen der Terraingesellschaften, darunter der Stadtgrundriss von Carstenn
Abb. 2: Julius Straube: Plan von Berlin (1876) mit den Eintragungen der Terraingesellschaften

In seinem Roman Irrungen, Wirrungen von 1875 schildert Theodor Fontane, was eine Gruppe von Spaziergängern, die von einer Gärtnerei am Zoologischen Garten nach Süden in Richtung Wilmersdorf aufbricht, in der noch unbebauten Landschaft vorfindet (Abb. 2):

»Wirklich, es war der einsamste Weg, um vieles stiller und menschenleerer als drei, vier andere, die parallel mit ihm über die Wiese hin auf Wilmersdorf zuführten und zum Teil ein eigentümliches Vorstadtleben zeigten. […] Und so stiegen sie den niedrigen Abhang hinauf und setzten sich, oben angekommen, auf [einen] Unkrauthaufen. Dieser war ein prächtiger Ruheplatz, zugleich auch ein Aussichtspunkt, von dem aus man […] nicht nur die nördliche Häuserreihe von Wilmersdorf überblicken, sondern auch von einer benachbarten Kegelbahn her das Fallen der Kegel und vor allem das Zurückrollen der Kugel auf zwei klapprigen Latten in aller Deutlichkeit hören konnte.«[1]

Und einer von Fontanes Spaziergängern kennt auch den Grund, warum es damals dort so viele Frösche gab:

»Nachts ist es mitunter ein Gequake, daß man nicht Schlafen kann. Und woher kommt es? Weil hier alles Sumpf ist und blos so thut, als ob es Wiese wäre.«[2]

Bis 1890 hat sich nicht viel verändert. Der Berliner Kunstkritiker Karl Scheffler beschreibt in seiner Autobiographie seinen morgendlichen Weg zur Arbeit, der durch die Wilmersdorf-Friedenauer Gemarkung führte:

»Um 1890 war die Stadt im Westen am Nollendorfplatz zu Ende. Hinter diesem trostlosen Platz dehnten sich die Felder bis Wilmersdorf. Ging ich – in meiner Malerzeit – im Sommer morgens zu einer Arbeitsstelle in Friedenau über diese Felder, so saß nicht selten an einem Grabenrand ein verschlafenes Pärchen, das bis in die Nacht in Wilmersdorf getanzt und darauf im Freien geschlafen hatte. Rund angelegt lag in dieser Feldeinsamkeit nur der Prager Platz, an dem ein tollkühner Pionier eine ziegelsteinerne Villa erbaut hatte. An der Südwestseite der Tauentzienstraße befanden sich große Holzplätze, an der Ecke des Kurfürstendamms und der Kurfürstenstraße lag noch jene alte Gärtnerei, die Theodor Fontane in seinen ›Irrungen, Wirrungen‹ beschrieben hat, und dort, wo sich jetzt die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche erhebt, wuchs eine hohe Pappel wie zur Orientierung. Vom Nollendorfplatz fuhr eine Dampfstraßenbahn nach Halensee über den noch fast unbebauten Kurfürstendamm, dessen Bauterrains benutzt wurden, wenn Buffalo Bill seine Indianerritte vorführte. Hinter der Ringbahn, die damals noch eine Art von Wüstenbahn war, begann der Grunewald, denn die Villenkolonie wurde erst später angelegt. Am Dianasee und Herthasee ging man entlang wie heute am Riemeister […]«[3]

Doch innerhalb weniger Jahrzehnte expandierte Berlin, das 1800 knapp 200.000 Einwohner hatte, explosionsartig und durchbrach 1905 erstmals die Grenze von zwei Millionen Einwohnern. Selbst das kleine Wilmersdorf wuchs bis zur Jahrhundertwende von 5.000 auf 100.000 Einwohner, lange bevor es 1920 nach Groß-Berlin eingemeindet wurde. Das veränderte auch das Erscheinungsbild der ehemaligen Feuchtwiesen radikal.

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Hobrecht Bebauungsplan von 1862
Abb. 3: James Hobrecht: Bebauungsplan der Umgebungen Berlins (1862)

Die moderne Stadterweiterung in Berlin begann 1862 mit dem berühmten Bebauungsplan des Ingenieurs James Hobrecht, der für 70 Quadratkilometer weitgehend unbebautes Wiesen- und Ackerland rings um das historische Zentrum einen Kranz neuer Stadtteile vor allem im Osten und Norden konzipierte (Abb. 3). Es handelte sich um einen Negativ-Plan, der wesentlich nur Bauverbotszonen auswies – gleichsam ein Lochmuster aus Straßen und Plätzen, die von Bebauung freizuhalten waren. Repräsentative architektonische Überhöhungen oder gar Monumente wie in den zeitgleichen Planungen für Paris oder Wien waren im Hobrecht-Plan wegen Geldmangels nicht vorgesehen.

Die Stadterweiterungen des Hobrecht-Plans beruhten weitgehend auf dem Gewinnstreben und der Risikobereitschaft privater Terraingesellschaften. Das waren flinke Kaufleute, die Ländereien rings um Berlin aufkauften, Straßen, Plätze und Kanalisation gemäß Hobrechts Fluchtlinien anlegten und das erschlossene Bauland dann parzellenweise an private Bauherren verkauften. Oft errichteten die Terraingesellschaften die Mietblöcke auch selbst und beschafften ihren Käufern sogar die Kredite zum Erwerb. Dass ihre Spekulationsobjekte bei Anlegern aus Handwerk und Bürgertum großen Absatz fanden, lag auch daran, dass der Kapitalmarkt bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert nur schwach entwickelt war: Mangels Versicherungen, Sparkassen und Rentenanlagen war die Immobilieninvestition die wichtigste Altersvorsorge.

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Carstenn-Plan vom zukünftigen Berlin, 1892
Abb. 4: Carstenn-Plan vom zukünftigen Berlin (1892)

Einer dieser Baulöwen war der gebürtige Norddeutsche Johann Anton Wilhelm von Carstenn, der sich wegen seines Engagements im Berliner Südwesten später Carstenn-Lichterfelde nannte. Der 1892 erschienene Gesamtplan (Abb. 4) ist der späte, nicht realisierte Höhepunkt seines Lebenswerks. Denn da war Carstenn wirtschaftlich schon längst ruiniert. Der Plan zeigt, wie er Berlin und Potsdam verbinden und mit dem Grunewald als großem gemeinsamem Stadtpark krönen wollte. Zuvor hatte er in Hamburg die Villensiedlung Marienthal gebaut und sein dabei erwirtschaftetes Vermögen von 1862 an in Berlin investiert, um den Südwesten in ein grünes Wohnparadies zu verwandeln. Carstenn setzte sich ausdrücklich von der dichten Mietshausbebauung des Hobrecht-Plans ab, er plante seine gartenstädtischen Villengegenden nach angelsächsischem Vorbild. Von diesem Pionier schwärmte 1930 sogar der scharfe Berlin-Kritiker Werner Hegemann, er sei ein »weitblickende(r) Kaufmann, dessen Name in den sechziger und siebziger Jahren zu den bekanntesten in Berlin gezählt und der als Städtebauer Großartigeres geleistet hat als irgendein preußischer Herrscher«. Und weiter: Carstenn wollte

»seine in alten Kulturstädten wie Hamburg und London erworbenen Begriffe von großzügigem Arbeiten und vornehmem Leben auf ganz Berlin übertragen […]. Berlin jedoch war eigentlich noch gar keine Stadt oder gar Großstadt, sondern stellte vorläufig nur den großen Auflauf entwurzelter Menschen dar, den diese […] Bürokratie zu verhindern vergessen hatte.«[4]

Parallel zu seinen Planungen für Lichterfelde West und Ost erwarb Carstenn 1865 für 2,5 Millionen Goldmark das damalige Rittergut Wilmersdorf, um, wie Hegemann schreibt, »außerhalb der bereits amtlich verdorbenen Zone des Bebauungsplanes eine vornehme Villenstadt im englischen Sinne zu gründen«. Das Gelände reichte vom heutigen Friedenau bis in die Nachbarschaft der GWZ rund um die Pariser Straße. Kurz nachdem Carstenn die Kaiserallee, die heutige Bundesallee, anlegen ließ und auch den Entwurf der geplanten Villenkolonie Friedenau fertiggestellt hatte, kam 1873 der Gründerkrach, der alle Planungen im Berliner Südwesten für fast 20 Jahre unterbrach.[5]

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Grundriss der Carstenn-Spinne
Abb. 5: Grundriss der Carstenn-Spinne (aus: Rolf Lieberknecht u.a.: Von der Wilhelmsaue zur Carstenn-Figur. 120 Jahre Stadtentwicklung in Wilmersdorf, Berlin 1987, S. 107)

Die sogenannte Carstenn-Spinne (Abb. 5) im heutigen Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf, in deren Mitte sich jetzt das Gebäude ACHTUNDEINS befindet, ist eine geometrische Figur im Stadtgrundriss, die sich um 180 Grad gedreht auch weiter südlich in Friedenau wiederfindet. Die gesamte Anlage wurde von Carstenn weit abseits des alten Wilmersdorfer Dorfkerns ins freie Feld gelegt und sollte – ähnlich wie zuvor Lichterfelde – eine großstädtische Erweiterung mit dem Charakter feudaler Schlossgärten sein. Anders als noch die Achsen und Plätze des Hobrecht-Plans war die damals 3,7 Kilometer lange Kaiserallee nicht mehr auf das Schloss in Mitte bezogen.

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Ansichtskarte Kaiserallee (ca. 1910-20)
Abb. 6: Kaiserallee, Ansichtskarte (ca. 1910–20)

Nachdem Carstenn fast alle seine bereits vollständig geplanten, aber noch unbebauten Grundstücke zur Begleichung seiner Schulden an den Staat verkaufen musste, interessierten sich neue finanzstarke Institutionen und Unternehmer für die weitere Verwertung. Der erste Neubau an der damaligen Kaiserallee war das Joachimsthaler Gymnasium. 1608 in der Stadt Joachimsthal gegründet, zog es nach dem Dreißigjährigen Krieg nach Berlin-Mitte um und leistete sich schließlich einen großzügigen Schulbau am Nordrand der ehemaligen Besitzungen Carstenns. Als 1876 dort die Bauarbeiten begannen, war das nächste Haus stadteinwärts eine Viertelstunde Fußweg entfernt.[6] Nachdem das Gymnasium 1912 wieder aufs Land nach Templin übergesiedelt war, zog in das Schulhaus 1920 das Wilmersdorfer Stadthaus ein (Abb. 6). Heute befinden sich dort u.a. die Fakultäten für Musik und Darstellende Kunst der Universität der Künste. Übrigens sind die Schaper-, Meierotto- und Meinekestraße alle nach den ehemaligen Direktoren des Gymnasiums benannt.

Der nächste Bauherr war die Militärverwaltung, die 1895 genau gegenüber vom Gymnasium den Sitz der Königlich-Preußischen Artillerie-Prüfungskommission errichtete. Seit 1950 ist das von da an Bundeshaus genannte Gebäude Dienstsitz verschiedener Einrichtungen des Bundes. Bis zur Wiedervereinigung saß hier beispielsweise der Bevollmächtigte der Bundesregierung in Berlin; heute arbeitet dort u.a. eine Zweigstelle des Innenministeriums. Aufgrund des Bundeshauses wurde die Kaiserallee auch in Bundesallee umbenannt.[7]

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Ansichtskarte des Nikolsburger Platzes, undatiert
Abb. 7: Nikolsburger Platz, Ansichtskarte (undatiert)

Auf den einzigartigen Entwicklungsschub, der Berlin zur größten Industriestadt Europas gemacht hatte, reagiert der Baedeker von 1908, indem er die deutsche Hauptstadt aufgrund ihres Mangels an historisch-architektonischer Substanz »die größte rein moderne Stadt in Europa« nannte.[8] Anders nämlich als bei Paris oder London handelte es sich bei Berlin um ein ahistorisches Riesengebilde, um eine »Menschenwerkstatt«, wie Heinrich Mann sagte, die wie geschaffen war zur Entfesselung technischer und mentaler Energien. Der Kunstkritiker Wilhelm Hausenstein nannte Berlin 1932 schließlich eine »absolute Stadt«, eine grund- und voraussetzungslose, nichts als moderne Stadt.[9]

Bei der Untersuchung von historischen Wohnadressen in der Wilmersdorfer Nachbarschaft seit 1900 fällt die enorme Dichte von Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen auf, die dort gewohnt haben. Darin spiegelt sich die Westwanderung des Berliner Gesellschaftszentrums rund um die Friedrichstraße ins neue Geschäftszentrum an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Diese Absetzbewegung sowohl von der kaiserlich-repräsentativen Mitte als auch von den proletarisch geprägten Mietshausquartieren im Osten sorgte vor allem nach 1920 in den bürgerlichen Wohnvierteln des Neuen Westens für enormen prominenten Zuzug.

Angesichts des damaligen Phänomens der sogenannten Quartalsumzüge sollte man die topographische Verteilung der Wohnsitze von Künstlern und Intellektuellen aber auch nicht überbewerten. Häufige Wohnungswechsel waren die Regel, und wenn in einem Haus zeitweilig auffällig viele Künstler wohnten, so handelte es sich oft um eine Etagenpension. Deshalb ist bei forcierten Raumbezügen der Versuchung zu widerstehen, von der Topophilie in die Topolatrie, also von der Liebe zum Ort in die Ortsvergötzung umzuschlagen, handelt es sich hierbei doch um Versuche einer Kontigenzbewältigung, die Zufälligkeiten nachträglich ordnen möchte.

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Abb. 8: Meierottostraße, Ecke Kaiserallee, Ansichtskarte (undatiert)

Um 1900 entstand als einer der ersten Neubauten an der Pariser Straße die Hausnummer 1: ein palastähnliches Mietshaus mit Ziergiebeln und Ecktürmen, das mit dem Nachbargebäude an der Meierottostr. 10 gemeinsam errichtet wurde. Eigentümer beider Liegenschaften war laut Berliner Adressbuch von 1901 ein Zimmermeister namens J. Mundt.[10] Die Berufsbezeichnungen der ersten Trockenmieter zeigen ein breites Spektrum: Heilgehilfe, Milchpächter, praktischer Arzt, Bergrath, Major, Portier, Rentier und Generalkonsul. 1912 kamen Wollwirker, Konfitöre, Blumenhändler, Gastwirte und auch mehrere Privatkliniken hinzu. Nach einigen Eigentümerwechseln befand sich die Pariser Str. 1 bis 1933 im Besitz des jüdischen Kaufmanns David Srogowitsch. 1934 kam das Haus unter Zwangsverwaltung, ein Jahr später hatte der Eigentümer Deutschland verlassen.

Vier Häuser weiter, in der Meierottostr. 6, hatte Walter Benjamin nach seinem Auszug bei den Eltern von 1923 bis 1924 gelebt. Diese Unterkunft wurde von Hermann van Doorn und Willem van Reijen fotografisch dokumentiert und als »Gartenhaus III, bei Ruben« beschrieben; doch ein Vermieter namens Ruben ist in den Berliner Adressbüchern nicht zu finden.[11]

Eine umfassendere Ortserkundung leistet der literarische Stadtführer des Berliner Publizisten Michael Bienert.[12] Einige Stichproben daraus zeigen die enorme intellektuelle Dichte in diesem Stadtteil:

  • Georg Heym, Spichernstr. 12 (1911, Heym war von 1900 bis 1905 Schüler auf dem Joachimsthaler Gymnasium)
  • Kurt Tucholsky, Nachodstr. 12 (ab 1912)
  • Robert Musil, Regensburger Str. 15 (1908/09), Kurfürstendamm 217 (1931–33)
  • Bertolt Brecht, Spichernstr. 16 (1924–28, zusammen mit Helene Weigel)
  • Erich Kästner, Prager Str. 6 (1927–31)
  • Walter Benjamin, Düsseldorfer Str. 42 (1928–29), Prinzregentenstr. 66 (1930–33, neben der Synagoge)
  • Heinrich Mann, Uhlandstr. 126 (1930), Schaperstr. 2–3 (Pension Olivia, 1931), Trautenaustr. 12 (1932), Fasanenstr. 61 (letzte Wohnung 1932/33 vor der Emigration)

Kästner schrieb im Café Josty in der Kaiserallee, Ecke Trautenaustraße seinen 1929 erschienen Roman Emil und die Detektive. Das Drehbuch für die erste Verfilmung 1931 stammte von Billy Wilder; die Eröffnungszene des Filmes zeigt eine Großaufnahme des Schildes »Trautenaustraße« vor dem Café Josty. In Kästners Nachbarschaft lagen die Wohnsitze von James Simon, Marlene Dietrich, Asta Nielsen, Friedrich Luft, Else Lasker-Schüler, Julius Bab, Egon Erwin Kisch u.v.m. Und in der Fasanenstr. 43, Ecke Pariser Straße, hatte der Kunsttheoretiker August Endell 1904 seine private Schule für Formkunst gegründet, die er bis zur Schließung 1914 leitete.

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Prager Platz mit Straßenbahn, Ansichtskarte (nach 1922)
Abb. 9: Prager Platz mit Straßenbahn, Ansichtskarte (nach 1922)

Nach dem Ersten Weltkrieg etablierte sich der Prager Platz (Abb. 9) als Zentrum russischer Intellektueller, die vor der Oktoberrevolution geflohen waren und im Wilmersdorfer Exil Freunde aus Russland empfingen. Im Lokal Prager Diele trafen sich Vladimir Nabokov, Marina Zwetajeva, Boris Pasternak, Maxim Gorki, Wladimir Majakowski, Viktor Schklowski, Ilja Ehrenburg und andere.[13]

Über das Ende des intellektuellen Berlin im NS-Staat haben Udo Christoffel und Elke von der Lieth eine Dokumentation mit den wichtigsten Adressen vorgelegt.[14] Dazu zählen der Philo-Verlag in der Pariser Str. 18a, der Jüdische Centralverein in der Emser Str. 42 sowie dutzende Wohnadressen von Schriftstellern, Politikern und Widerstandskämpfern: Klaus Mann in der Pfalzburger Str. 83, Bernard von Brentano in der Schaperstr. 22, Rudolf Breitscheid in der Fasanenstr. 58, Walter Czollek in der Spichernstr. 1–2, Henning von Tresckow in der Bundesallee 216–218, Erich Mühsam in der Badenschen Str. 18 und viele andere.

Nach 1940 fallen vor allem zwei Namen in der Meierottostr. 10 auf: eine Geschäftsstelle des Scherl-Verlags, der nach seiner Übernahme durch den Hugenberg-Konzern zu den Totengräbern der Weimarer Republik gehört hatte. Daneben arbeitete dort eine Niederlassung der ABC Film, die von den 1930er Jahren an erfolgreiche Musikfilme produzierte mit Titeln wie Zigeunerblut oder Alles hört auf mein Kommando. Zu den Schauspielern gehörten damals bekannte Namen wie Adele Sandrock, Hans Moser, Erik Ode und Heinz Rühmann.[15]

1945 war in Berlin ungefähr ein Drittel der oberirdischen Bausubstanz zerstört. Die Schadenskarten bieten allerdings keine zuverlässige Dokumentation, denn die Städte veranschlagten wegen der Zuteilung von Wiederaufbaumitteln die Zerstörungen stets weitaus höher, als sie tatsächlich waren. Zudem konnten viele Stadtpolitiker gar nicht so viel Altbausubstanz ausfindig machen, wie sie für den modern durchgrünten und aufgelockerten Neuaufbau abreißen lassen wollten. Erst zur Eröffnung des Europäischen Jahres des Denkmalschutzes 1975 ebbte die Zerstörungswut ab, und der damalige Bundespräsident Walter Scheel gab erstmals öffentlich zu:

»In Deutschland ist nach dem Kriege mehr Schutzwürdiges zerstört worden als während des Krieges«.[16]

Eine treibende Rolle im Wilmersdorfer Neuaufbau spielte die von 1955 an entstehende Nord-Süd-Verbindung der U-Bahn zwischen Wedding und Steglitz. Die Strecke hatte von 1961 an ihren ersten Endbahnhof an der Spichernstraße direkt vor dem heutigen Sitz der GWZ und des ZfL und wurde bis 1971 nach Steglitz fortgesetzt. Durch die U-Bahn-Ausschachtungen kam auch der Ausbau der zentralen Nord-Süd-Achse der Bundesallee schneller voran als andere Verkehrsplanungen. Hier lässt sich exemplarisch beobachten, wie aus einer vormals städtischen Allee eine ortlose Verkehrsmaschine wurde.

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Stadtautobahn Kreuzung Bundesallee/Hohenzollerndamm, Modell 1956, Stadtplanungsamt Wilmersdorf
Abb. 10: Stadtautobahn Kreuzung Bundesallee/Hohenzollerndamm, Modell (1956), Stadtplanungsamt Wilmersdorf

Wie die U-Bahn im Untergrund sollte die Bundesallee oberirdisch eine Schnellverbindung zwischen Steglitz und Moabit werden. Dafür war ein Durchbruch nach Norden in Richtung Tiergarten nötig. 1955 schlug der damalige Bausenator Rolf Schwedler vor, die Verlängerung der Bundesallee als Stadtautobahn durch die Meierotto- und Fasanenstraße nach Westen zu führen. Dann wäre die Fasanenstraße auf der Höhe der Villa Grisebach, des heutigen Literaturhauses, und der imposanten Blockränder bis auf eine Straßenbreite von 40 Metern abgerissen worden. Unterhalb des Kurfürstendamms sollte ein Autotunnel bis zur Straße des 17. Juni führen. Damit hätte sich die Carstenn-Spinne in eine Riesenkreuzung auf drei Ebenen verwandelt (Abb. 10).

Die Wilmersdorfer Verkehrsplanungen wurden im Laufe der Jahrzehnte allerdings zurückgefahren, sodass schließlich nur die riesige Stadtbrache rund um die Kreuzung am Hohenzollerndamm mit dem U-Bahnhof Spichernstraße mitsamt der zu Sackgassen abgeklemmten Pariser und Regensburger Straße übrig blieb. Die Tunnelrampen, die entlang des Hohenzollerndamms unter der Bundesallee hindurchführen sollten, waren teilweise schon angelegt und Teile der Randbebauung abgerissen worden. Der heutige Parkplatz auf dem Mittelstreifen des Hohenzollerndamms hält die Erinnerung an diese Straßenschlachtung wach, ebenso das zuvor verdeckte, nach der Freilegung in die erste Reihe gerückte Wasserwerk. Erst 1979 beendete der damalige Berliner Bausenator Harry Ristock diese Kahlschlagplanungen.

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Kreuzung Bundesallee/Hohenzollerndamm, Luftbild 1960er Jahre
Abb. 11: Kreuzung Bundesallee/Hohenzollerndamm, Luftbild (1960er Jahre)

Nach der großen Abrisswelle der 1950er und 60er-Jahre entstand über die Pariser Straße hinweg ein flacher, mit Fensterbändern gegliederter Brückenbau für die Büros der Betriebskrankenkasse der Stadt Berlin, ein eigenschaftsloser Riegel, der nicht einmal die entblößten Brandwände der Pariser Straße dahinter abdeckte. Doch bleibt in Erinnerung, dass diese Gegend zugleich ein Hotspot des Berliner Nachtlebens war. Hier befand sich seit 1961 die legendäre Soul-Diskothek Big Apple, deren Tanzfläche in Form einer auf- und absteigenden Hubbühne berühmt war. Nach einem Großfeuer 1978 war die Diskothek komplett zerstört und wurde nicht wiederaufgebaut.

Heute passiert rund um die Riesenkreuzung von Bundesallee und Hohenzollerndamm (Abb. 11) etwas, was im Planerjargon die »Wiederaufforstung von Stadtglatzen« genannt wird. Es entstehen allmählich wieder Hochbauten, die so etwas wie rahmende, raumbildende Straßenwände ergeben.

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Kreuzung Bundesalle, Ecke Nachodstraße/Hohenzollerndamm, Ansicht von der Dachterrasse ACHTUNDEINS
Abb. 12: Kreuzung Bundesalle, Ecke Nachodstraße/Hohenzollerndamm, Ansicht von der Dachterrasse ACHTUNDEINS, Foto Michael Mönninger

Trotz der mächtigen Masse der Eckbebauung für die Zentrale der Berliner Volksbank hat es die Wilmersdorfer Stadtplanung nicht geschafft, die riesige Verkehrsschneise zu reduzieren (Abb. 12). Immerhin wurde der geduckte Brückenbau der ehemaligen Krankenkasse abgerissen und die Sackgasse der Pariser Straße wieder mit der Bundesallee verbunden. Die beiden an dieser Stelle errichteten sieben- bzw. achtgeschossigen Neubauten – ein Low-budget-Hotel und das gemischte Bürogebäude ACHTUNDEINS – wurden vom Büro Eike Becker Architekten entworfen. Diese neuen Blockecken bilden eine kraftvolle Torsituation, die darauf wartet, auf der anderen Seite der Bundesallee nach Osten zur Regensburger Straße hin fortgesetzt zu werden – wofür allerdings der Turm der Investitionsbank Berlin zurückgebaut werden müsste.

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AUCHTUNDEINS, Ansicht Meierottostr. 8, (c) Eike Becker Architekten
Abb. 13: ACHTUNDEINS, Ansicht Meierottostr. 8, (c) Eike Becker Architekten

Die auf den ersten Blick grimmige Fassade des Neubaus ACHTUNDEINS mit ihren großen Glasfronten, Aluminiumprofilen und Formteilen aus Faserbeton gibt dem Gebäude eine etwas vorlaute Erscheinung aus der Gattung der architektonischen ›Eckenbrüller‹ (Abb. 13). Erst beim genaueren Hinsehen und Betasten der Fassade macht sich das ondulierte Relief der Aluminiumpanele bemerkbar, das auf der gesamten Höhe und Breite des Hauses sowohl horizontal wie vertikal um wenige Zentimeter vor- und zurücktritt und dem Quader eine bemerkenswert irritierende Irregularität, fast Unschärfe verleiht.

Während der Architekt sagt, seine Fassade sei von textilen Webmustern inspiriert, gibt es andere Assoziationen; man könnte etwa an das Computerpuzzle Tetris mit seinen gestapelten Würfelsteinen denken, die hier zu Gesimsen und Lisenen verarbeitet wurden. Herausgekommen ist dabei eine schwebende Ordnung, die weder horizontalisierend noch vertikalisierend ist, sondern den Eindruck macht, als könne sie in alle Himmelsrichtungen weiterwachsen. Die orthogonale und dennoch nicht homogen gerasterte Profilierung der Fassade entwickelt Beweglichkeit aber nicht nur durch das erwähnte Relief, sondern auch dadurch, dass sich die Pattern vertikal ineinander schieben und horizontal in gleichmäßigem Wechsel aneinandergereiht sind. Nach dem völlig gesichtslosen Vorgängerbau ist hier ein merkfähiger Orientierungspunkt entstanden, dessen Fassadenrhythmus sich freilich erst bei ruhigerer Betrachtung erschließt.

Die GWZ, das ZfL und das ZAS belegen drei Etagen mit fast 4.000 m2 Fläche. Auf den Büroetagen herrscht die konventionelle Mittelgangerschließung vor. Das entspricht ganz der Tradition des Korridor-Zelle-Komplexes, also der Verkettung einzeln erschlossener Einraumgehäuse, die auf den mittelalterlichen Klosterbau zurückgeht, der diese typologische Idealfigur für Individuation, Subjektivierung und Kontemplation entwickelte. Doch verfügen alle Büros vom Fußboden bis zur Decke über raumhohe Fensterfronten, wodurch selbst kleine Arbeitszellen großzügig dimensioniert erscheinen.

Der Architekt Eike Becker gehörte nach dem Mauerfall zu den jüngeren Berliner Entwerfern, die als Mitarbeiter der Londoner Elitebüros von Norman Foster und Richard Rogers eine eher britisch-empirische, situative Bauauffassung gelernt haben, die mit dem Berliner Formenkanon der wiederentdeckten Stadtgeschichte lange Zeit nicht kompatibel war. Doch vor einigen Jahren hat sogar der holländische Architekt und zuvor erbitterte Berlin-Kritiker Rem Koolhaas die konservative Amtsführung des ehemaligen Senatsbaudirektors Hans Stimmann dafür gelobt, Berlin allerlei unsinnige Architekturkapriolen erspart zu haben.[17] Damit ist die Konfrontation von Fortschrittsdenkern und Traditionalisten im Berliner Baugeschehen tendenziell überwunden.

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 ACHTUNDEINS, mit Luftgeschoss , (c) Eike Becker Architekten
Abb. 14: ACHTUNDEINS, mit Luftgeschoss, (c) Eike Becker Architekten

So kommt es, dass in Berlin seit geraumer Zeit immer häufiger das scheinbar Einfache in Architektur und Städtebau gelingt, das dennoch so schwer zu machen ist:

  • dass Häuser nicht mehr frei in der Stadtlandschaft herumstehen, sondern wieder an Straßen und Trottoirs ankommen,
  • dass Häuser eine gewisse räumliche und kommunikative Porosität ausbilden, die von öffentlichen Entrees über halböffentliche Durchgangsräume bis zu Gartenhöfen und sogar einer umlaufenden Dachterrasse reicht,
  • dass Häuser nutzungsneutral angelegt sind und sowohl Mischung wie Wechsel der Nutzungen aushalten,
  • und dass Häuser zuweilen der Stadt eine räumliche Schenkungsgeste machen, wie es mit dem Luftgeschoss an der Ecke zur Bundesallee geschieht (Abb. 14).

Damit reicht Berlin zwar noch nicht an das Wunder der überdachten Schwellenräume der Portici-Ladenstraßen italienischer Städte heran, aber es ist zumindest ein Anfang gemacht.

Michael Mönninger ist Architekturkritiker und Professor für Geschichte und Theorie der Bau- und Raumkunst an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig.

[1] Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen, Leipzig 1888, S. 82f.

[2] Ebd., S. 85.

[3] Karl Scheffler: Die fetten und die mageren Jahre. Ein Arbeits- und Lebensbericht, München 1946, S. 286f.

[4] Werner Hegemann: Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt [1930], Braunschweig 1988, S. 243–245; alle folgende Zitate ebenda.

[5] Einen Überblick über Carstenns Planungen und über die Ortsgeschichte von Wilmersdorf und Friedenau geben Rolf Lieberknecht u.a.: Von der Wilhelmsaue zur Carstenn-Figur. 120 Jahre Stadtentwicklung in Wilmersdorf, Berlin 1987.

[6] Vgl. ebd., S. 30.

[7] Vgl. ebd., S. 31.

[8] Zit. nach Rolf Lindner: Berlin, absolute Stadt, Berlin 2016, S. 9.

[9] Ebd.

[10] Alle Orts- und Namensangaben sind den Berliner Adressbüchern der Jahre 1901, 1912, 1923, 1933, 1940 und 1943 entnommen.

[11] Hermann van Doorn/Willem van Reijen: Aufenthalte und Passagen. Leben und Werk Walter Benjamins. Eine Chronik, Frankfurt a.M. 2001, S. 83. Hier findet sich auch der Hinweis mitsamt Fotografien auf die Wohnung von Benjamin und Asja Lācis 1928 in der Düsseldorfer Str. 42 (S. 111).

[12] Michael Bienert: Literarisches Berlin, Berlin 2001.

[13] Vgl. Thomas Urban: Russische Schriftsteller im Berlin der zwanziger Jahre, Berlin 2003, S. 19f.

[14] Udo Christoffel/Elke von der Lieth (Hg): Berlin-Wilmersdorf. Verfolgung und Widerstand 1933–1945, Berlin 1996.

[15] ABC-Gründer war der Österreicher Josef Than, der 1939 über Paris in die USA floh. Die Gesellschaft ABC ging danach an Tobis über. Vgl. Kay Weniger: »Es wird im Leben dir mehr genommen als gegeben …«. Lexikon der aus Deutschland und Österreich emigrierten Filmschaffenden 1933 bis 1945. Eine Gesamtübersicht, Hamburg 2011.

[16] Zit. nach Hartwig Beseler/Niels Gutschow: Kriegsschicksale deutscher Architektur, Bd. 1: Nord, Neumünster 1988, S. IX.

[17] »I have a slightly revised understanding and almost respect for Stimmann, in terms of him being able to protect Berlin from the most vulgar aspects of neoliberalism. Berlin today is remarkably free of grotesque architecture, and I think that is in part due to Stimmann’s influence.« In: »Transcending the local/global divide. A conversation with Rem Koolhaas«, in: GRAFT: Identity: New Commercial, Cultural and Mobility Architecture, Basel 2020, S. 348.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Michael Mönninger: Nachbarschaft Wilmersdorf. Eine kurze Geschichte in 14 Bildern, in: ZfL Blog, 7.11.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/11/07/michael-moenninger-nachbarschaft-wilmersdorf-eine-kurze-geschichte-in-14-bildern/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20241107-01