»ZWISCHEN UNS HERRSCHT NUN KRIEG«. Dirk Naguschewski und Nina Weller im Gespräch mit Anna Melikova über ihren Roman »Ich ertrinke in einem fliehenden See«

Lesung im KVOST, 7.12.2022: Anna Melikova (li.), Matthias Schwartz (re.), Foto (c) Dirk Naguschewski

Ende 2024 erschien der Debütroman der ukrainischen Schriftstellerin Anna Melikova (Ich ertrinke in einem fliehenden See, übersetzt von Christiane Pöhlmann, Matthes & Seitz Berlin 2024). Zwei Jahre zuvor hatte sie auf Einladung des ZfL im Berliner KVOST (Kunstverein Ost) einige Auszüge auf Deutsch vorgestellt. Der Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine lag damals gerade sechs Monate zurück, der Krieg war allgegenwärtig. Am 20. Januar 2025 trafen sich Dirk Naguschewski (DN) und Nina Weller (NW) mit Anna Melikova (AM) zu einem neuerlichen Gespräch über die Entstehungsgeschichte dieses Romans, in dem die Geschichte einer obsessiven Beziehung zwischen zwei Frauen mit den politischen Entwicklungen in der Ukraine verknüpft wird.

DN Als du im Dezember 2022 im KVOST einige Ausschnitte aus deinem Roman gelesen hast, standen wir alle unter dem Schock des russischen Großangriffs auf die Ukraine. Das Buch war damals noch in Arbeit. Es war völlig unklar, bei welchem Verlag es würde erscheinen können und in welcher Sprache. Wie wurde denn aus deinem Manuskript letztlich das vorliegende Buch?

AM Ich habe sehr lange an meinem Roman geschrieben. Angefangen hatte ich im Jahr 2007. 2021 dachte ich, dass der Roman fertig sei, und versuchte, einen russischsprachigen Verlag zu finden, weil der Roman auf Russisch geschrieben war. Dabei habe ich mich natürlich nur an progressive, feministische oder oppositionelle Verlage gewandt. Von all diesen Verlagen bekam ich jedoch dieselbe Antwort: Es sei ein wichtiger Roman, der unbedingt veröffentlicht werden müsse, aber bitte nicht bei ihnen. Diese Ablehnungen empfand ich damals als Tragödie. Im Jahr 2022 war ich dann jedoch sehr froh darüber. Mir wurde klar, dass ich mein Buch während des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine nicht auf Russisch veröffentlicht sehen will. Ich habe jegliche Zusammenarbeit mit Russland abgebrochen.

Also beschloss ich damals, die ersten fünfzig Seiten des Romans selbst ins Deutsche zu übersetzen. Ich reichte sie beim Literarischen Colloquium Berlin ein und wurde als Stipendiatin angenommen. Der Philosoph Markus Steinweg hörte mich bei einer Lesung und als Autor des Verlags Matthes & Seitz empfahl er meinen Text Andreas Rötzer, dem Verleger. Zur gleichen Zeit gab es die Lesung mit euch und NW kontaktierte ebenfalls Andreas Rötzer, sodass er fast gleichzeitig von zwei verschiedenen Seiten auf meinen Text aufmerksam gemacht wurde. Bereits im Januar schrieb er mir, dass er meinen Roman gerne veröffentlichen würde. Dafür bin ich ihm sehr dankbar, denn er ging ein Risiko ein – immerhin hatte er bisher nur fünfzig Seiten gelesen.

Wir entschieden schließlich, dass ich den Text nicht selbst übersetze, weil ich damals etwas Abstand brauchte. Stattdessen übernahm Christiane Pöhlmann die Übersetzung.  Mit dieser Fassung habe ich dann weitergearbeitet, sprachlich und inhaltlich. Deshalb erwähne ich im Vorwort, dass der Roman, würde er in seiner Originalsprache veröffentlicht, ein Gewebe aus Russisch, Deutsch und Ukrainisch wäre.

DN Im Buch geht es um die persönliche Entwicklung einer jungen, russisch sozialisierten Frau, die von der Krim stammt und im Kyjiw der 2000er Jahre Germanistik studiert. Dort beginnt sie eine Beziehung mit einer nur wenig älteren Dozentin namens Vera, die man durchaus als national gesinnte Ukrainerin bezeichnen kann. Diese Beziehung ist anfangs stark obsessiv. Das Buch handelt von der Emanzipation der Erzählerin von ihr und von ihrem Weg zu einem neuen Selbstbewusstsein – ein Weg, der sie von Kyjiw über Moskau nach Berlin führt. Zwei Zitate verdeutlichen diese beiden Aspekte besonders gut. So schreibt die Erzählerin am Anfang des Buches über die Geliebte:

»Sie sagte: Irgendwann würde ich einen Roman über uns schreiben, denn sie sei mein einziges Buch. Deshalb würde ich mein ganzes Leben lang ausschließlich über sie schreiben.«

 Und am Ende:

»Ich danke dir, Vera, dass du die gewesen bist, die du bist, und ich deswegen die bin, die ich bin.«

Diese Beziehungsgeschichte wird sehr präzise beschrieben und ist zudem stark von den politischen Entwicklungen in der Ukraine beeinflusst – insbesondere durch die Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014. Das Politische fließt ständig ins Private ein. Interessanterweise fehlt dem Buch aber eine klare Genrebezeichnung. Erst zum Schluss gibt die Erzählerin dazu einen Hinweis, als sie an ihre Exfreundin schreibt:

»Seit über einem Jahr arbeite ich an einem autofiktionalen Roman, in den alle Texte eingehen, die ich über unsere Geschichte geschrieben habe.«

Hier fällt also erstmals ein Begriff, der sich als Genrebezeichnung für das Buch eignet. Die Erzählerin, die später auch als Filmkritikerin arbeitet, ist sich der formalen Erwartungen an kreative Formate sehr bewusst. In einer ihrer Kritiken über ein Filmfestival schreibt sie:

»An zwei Formate – Newsblogs und den Film – werden verständliche Forderungen herangetragen. Von ersteren darf eine prompte Reaktion erwartet werden, von letzteren eine reflektierende Betrachtung aus gebührendem Abstand.«

Wenn man diese Selbsteinschätzung der Erzählerin berücksichtigt: Wie würdest du das Verhältnis von Fiktionalität, fiktiver Gestaltung und autobiografischer Darstellung definieren?

AM Wenn du fragst, welchem Genre mein Text zuzuordnen ist, ist für mich klar: Es handelt sich um einen autofiktionalen Roman. Die Natur der Autofiktion ist jedoch hybrid. Die Erzählerin bewegt sich in einem Zwischenraum zwischen verschiedenen Gattungen – zwischen Autobiografie und Roman, zwischen Dokumentarischem und Poetischem, zwischen Non-Fiction und Fiktion.

Als ich 2007 zu schreiben begann, kannte ich den Begriff der Autofiktion nicht. Ich habe einfach intuitiv so geschrieben, weil es meinem Bedürfnis entsprach. Später habe ich mich dann mit Theorien der Autofiktion auseinandergesetzt. Ich erfuhr, dass dieser Begriff bereits seit den 1970er Jahren existiert und von Serge Doubrovsky geprägt wurde. Er definierte Autofiktion als Fiktion, die reale Ereignisse und Fakten einbezieht.

In meinem Buch ist diese heterogene Eigenschaft vermutlich noch stärker ausgeprägt als in vielen anderen autofiktionalen Romanen, weil ich so lange daran gearbeitet habe. Ich wollte in diesem Buch verschiedene autofiktionale Erzählstrategien ausprobieren, in die Tiefen der Autofiktion eintauchen. Eines der zentralen Themen des Buches ist die Transformation der Erzählerin und überhaupt das Recht eines Menschen, sich zu verändern. Diese Transformation wollte ich nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf formaler Ebene abbilden.

Du hast erwähnt, dass die Erzählerin den Begriff autofiktional nur einmal am Ende verwendet. Doch bereits am Anfang geht es in einem Seminar von Vera um Fragen der Autobiografie, denn Vera arbeitet an einer Dissertation über die Unmöglichkeit der Autobiografie in der postmodernen Welt. Dafür bezieht sie sich unter anderem auf Judith Butler und vor allem Jacques Derrida. Dieses Seminar liefert meiner Meinung nach den Schlüssel zur Lektüre des Romans.

Ich wage zu behaupten, dass das Genre der Autofiktion als Antwort auf Roland Barthes’ Essay Der Tod des Autors entstanden ist. Man könnte auch sagen: Der Autor oder die Autorin ist in der Autofiktion ›wiederauferstanden‹ – jedoch in dem Bewusstsein, dass sie oder er für ›tot‹ erklärt wurde. Während die Autorin weiterschreibt, reflektiert sie gleichzeitig über ihren eigenen metaphorischen Tod. Genau das ist typisch für autofiktionale Texte, dass sie stark auf Theorie Bezug nehmen und diese Bezugnahmen zugleich reflektieren.

NW Ich finde es ziemlich bemerkenswert, wie mühsam und stur sich die Emanzipation der Protagonistin gestaltet, weg von alten Gewissheiten und Abhängigkeiten. Sie benötigt die ständigen Ortswechsel, um überhaupt über ihr Leben und ihre Beziehungen reflektieren zu können. Und sie zwingt sich selbst fortwährend dazu, die Wahrnehmung der Räume und der Zeit, die Perspektiven ihres So-Gewordenseins kritisch zu hinterfragen

AM Die Krim ist meine Kindheit und auch die 90er Jahre. Kyjiw ist die Zeit des Studiums und der ersten Liebe, steht aber auch für ein postmodernes Gefühl vom Ende der Geschichte. Moskau ist der Beginn der Emanzipation der Erzählerin von Vera, aber auch die Zeit, in der die russische Politik immer gewalttätiger wurde, und damit der Beginn der Entrussifizierung der Protagonistin. Berlin existiert nur im Prolog als der Ort, an dem ich diesen Roman veröffentliche, während ich den Krieg aus der Ferne erlebe.

NW Sprache spielt eine zentrale Rolle im Roman: Russisch ist die Muttersprache der Ich-Erzählerin, Ukrainisch die Staatssprache der Ukraine. So lebt die Erzählerin mit beiden Sprachen und zugleich steht sie zwischen ihnen: Einerseits wird Sprache für sie zum Mittel, um sich auf die politischen Veränderungen einzulassen, z.B. wenn sie sich hin und wieder ganz bewusst entscheidet, Ukrainisch zu sprechen, wenn auch fehlerhaft. Russisch wiederum ist nicht nur ihre Muttersprache, sondern auch die Sprache ihrer großen Idole: der russischen Dichterin Marina Zwetajewa (1892–1941) und der russischen Popsängerin Zemfira (*1976).[1] Daneben kommt auch Deutsch ins Spiel – etwa, wenn sie sich im Streit mit Vera in die deutsche Syntax als Halt gebendes Gerüst zurückzieht. Mir scheint, dass alle Situationen, in denen sie sich bewusst für eine Sprache entscheidet, wichtige Akte der Selbstvergewisserung in Momenten der Unsicherheit sind. Dem Roman sind drei Zitate vorangestellt, eines davon von Jorge Semprún: »Im Grunde ist meine Heimat nicht die Sprache, sondern das, was gesprochen wird.« Auch wenn wir diese Haltung zur Sprache als ein Ideal der Erzählerin begreifen können, kann sie sich natürlich der emotionalen und politischen Aufgeladenheit, die mit den jeweiligen Sprachen verbunden ist, nicht entziehen.

AM Nachdem mir klar wurde, dass das Buch auf Deutsch veröffentlicht wird, hatte ich zunächst die Sorge, dass in der Übersetzung vieles verloren gehen würde. Aber mir wurde klar, der Kern würde bleiben. Und ich kann das wahrscheinlich auch deshalb so sagen, weil ich hier in Deutschland bin und mich in verschiedenen Sprachen ausdrücken kann. Als der Krieg begann, konnte ich kaum Ukrainisch sprechen. Es fühlte sich an, als würde die Sprache sich rächen, weil ich sie so lange vermieden hatte. Jetzt, wo ich sie brauchte, sagte mir die Sprache: »Nein, nein, so einfach geht das nicht.« Ich habe das wirklich physisch gespürt. Es war, als könnte ich meine Zunge nicht bewegen. Trotzdem habe ich weiter versucht, mehr Ukrainisch zu sprechen, mit Ukrainer*innen, die ich hier getroffen habe, mit Freund*innen aus Kyjiw und Lwiw, die auf das Russische verzichtet haben. Mit ihnen habe ich mich auf diesen Sprachwechsel eingelassen.

Ich erinnere mich, wie meine Freundin Olja, die im Roman oft erwähnt wird, im Mai 2022 nach Kyjiw kam, nachdem sie die schwierige Situation in Irpin[2] durchlebt hatte. Zuerst haben wir Ukrainisch gesprochen, aber später in der Nacht fielen wir immer wieder ins Russische zurück, weil es einfacher war. Mittlerweile spielt es keine Rolle mehr, ob wir Wein trinken oder wie lang der Abend wird – wir sprechen nur noch Ukrainisch.

In öffentlichen Räumen und in meinen Texten benutze ich kein Russisch mehr. Aber natürlich spreche ich mit meinen Freund*innen, die Russland verlassen haben, immer noch Russisch. Welche Sprache sollten wir sonst verwenden? Ich merke allerdings, dass ich oft nach Worten suche und manchmal eher auf Deutsch oder Ukrainisch finde, was ich ausdrücken möchte.

Wenn ich jetzt als Drehbuchautorin für Dreharbeiten in Kyjiw bin, spreche ich mit dem Filmteam natürlich nur Ukrainisch und übersetze auch alles für meine Frau Isabelle Stever, die Regie führt. Der Film ist eine deutsch-ukrainische Koproduktion – auf deutscher Seite sind Tom Tykwer und Uwe Schott als Produzenten beteiligt. Er erzählt die Geschichte eines ukrainischen queeren Paares und ihrer Auseinandersetzung mit den Folgen des großen Krieges, unter anderem damit, wie der Krieg das Bild von Männlichkeit beeinflusst.

Wenn ich mit meinem Vater per Zoom rede, mache ich manchmal Pausen, weil ich nach den richtigen Worten suche, und ich sehe, wie er nervös wird. Er hat natürlich Angst, dass ich die russische Sprache vergesse. Ich finde es bedeutsam, dass der Roman auf Deutsch erscheint, in einer dritten Sprache. Im Prolog beschreibe ich meine Dankbarkeit für diese Sprache, die mir gewissermaßen Schutz geboten hat. Für mich ist es eine Erleichterung, dass mein Vater das Buch nicht lesen kann.

DN Das für dich wichtige Prinzip der Dreisprachigkeit wird im fertigen Roman durch typografische Setzungen und Markierungen hervorgehoben. Wir haben also einen formal einsprachigen Text vor uns, dem seine mehrsprachige Entstehungsgeschichte sichtbar eingeschrieben ist. Wie stellst du dir deine weitere sprachliche Zukunft als Schriftstellerin vor? Wirst du auf Deutsch, also ›exophon‹,[3] weiterschreiben?

AM Ja, ich werde meinen zweiten Roman, für den ich das Stipendium des Berliner Senats und das Alfred-Döblin-Stipendium bekommen habe, auf Deutsch schreiben. Denn mit einer Übersetzung werde ich immer unglücklich sein. Ich bin zu kritisch und würde damit ständig die Übersetzer*innen verrückt machen – das habe ich verstanden. (Lacht.) Ich schreibe ja auch Drehbücher, und die schreibe ich schon länger auf Deutsch. Aber das ist natürlich eine ganz andere Art zu schreiben. Mein Prosastil wird sich verändern, wenn ich in einer anderen als meiner Muttersprache schreibe. Ich bin gespannt, was daraus entsteht.

DN Ein Thema, das im Roman auch immer wieder anklingt, ist die postmoderne Sprachskepsis, also die Frage, ob und wie man überhaupt davon ausgehen kann, dass ein Wort exakt das bezeichnet, was man ausdrücken möchte. Später wird dann die politische Seite der Sprache wichtiger, wenn die Erzählerin über ihr Verhältnis zum Russischen und Ukrainischen reflektiert. Die eher philosophische Haltung einer postmodernen Sprachskepsis strahlt aber in die gesamte Romanhandlung hinein und wird von dir sogar auf die Struktur des Textes übertragen: Die gleichen Ereignisse werden aus zwei Perspektiven erzählt, mit unterschiedlichem zeitlichem Abstand. Dabei wird die Unmöglichkeit, etwas eindeutig auszudrücken, nicht nur sprachlich, sondern auch literarisch und performativ vorgeführt.

AM Das Buch reflektiert diese postmoderne Sprachskepsis und verkörpert sie gleichzeitig. Ich glaube, dass eine solche Sprachskepsis in der postmodernen Literatur immer aus traumatischen Erfahrungen in Krisen- und Kriegszeiten erwächst: Das steht in meinem Roman natürlich in enger Verbindung zur Ich-Erzählerin, die mit ihren eigenen Traumata zu kämpfen hat. Zuerst ist es das Liebes-Trauma, bei dem sie irgendwann versteht, dass die Sprache als solche sehr begrenzt ist. Sprache ist immer kontextabhängig und instabil. Sie und die andere Figur können dieselben Wörter benutzen, aber sie bedeuten völlig unterschiedliche Dinge.

Dann gibt es das Trauma nach dem Verlust der Mutter. Das ist ein stark autobiografisches Moment: Ich kann mich erinnern, dass ich nach dem Tod meiner Mutter zwei oder drei Jahre lang überhaupt nicht geschrieben habe. In dieser Zeit hatte ich das Gefühl, dass Sprache mit Metaphern ›infiziert‹ sei, und das hat mich wahnsinnig gestört. Ich hörte überall, wie die Sprache nicht das ausdrückt, was sie eigentlich ausdrücken soll, und dass sie immer übertreibt. Im Alltag verwenden wir natürlich ständig Metaphern, oft, ohne es zu merken. Aber in dieser großen persönlichen Tragödie konnte ich das nicht ertragen. Es ging nicht um Russisch, Ukrainisch oder Deutsch, sondern einfach um Sprache im Allgemeinen.

In dem Kapitel über den Maidan habe ich versucht, den Satzbau so zu gestalten, dass er das Gefühl von jemandem widerspiegelt, der sich in einem Textgewebe verliert und stottert. Selbstverständlich bekommt Sprache auch eine politische Dimension. Wer Kontrolle über die Sprache hat, kann auch die Wahrnehmung der Realität beeinflussen. Die Sprache ist für Russland zu einem Vorwand geworden, um den Krieg 2014 im Donbas zu beginnen. Wenn man mit den Menschen auf der Krim sprach, war immer das Erste, was sie sagten: Putin schützt unsere russische Sprache vor dem Ukrainischen. Dieses absurde Argument hat mich fertig gemacht.

Ich empfinde meine Beziehung zur Sprache an sich als einen Kampf. Jetzt ist dieser Kampf noch offensichtlicher und zusätzlich durch den politischen Kontext aufgeladen.

Lesung im KVOST, 7.12.2022: Anna Melikova (li.), Nina Weller (re.), Foto (c) Dirk Naguschewski

NW Ich würde gerne auf die Form des Romans zurückkommen. Wir haben schon über die typografischen Hervorhebungen ukrainischer Wörter im Text gesprochen. Darüber hinaus bekommt der Roman durch die Montage unterschiedlicher Textsorten eine besondere Dynamik: tagebuchartige Sequenzen der Ich-Erzählerin, ein Vorwort und ein Epilog, die die Romanhandlung aus einer anderen Erzählzeit her rückblickend rahmen. Außerdem hast du zahlreiche SMS- und Chatverläufe und E-Mail-Korrespondenzen zwischen der Ich-Erzählerin und Vera integriert, die sich ebenfalls typografisch abheben. Und es sind ungeheuer viele intertextuelle Verweise in den Roman eingeflochten: auf postmoderne Theorien und Autor*innen, auf Filme und literarische Texte und immer wieder Zitate von Marina Zwetajewa und Zemfira, die beide für die Erzählerin eine geradezu existenziell wichtige Bedeutung haben.

AM Mich hat vor allem Maggie Nelson inspiriert und das Genre der Autotheorie, in dem persönliche Erfahrungen mit theoretischen Diskursen verbunden werden und die Grenzen zwischen subjektiver Wahrnehmung und intellektueller Reflexion verwischen. Ich wollte den Kampf zwischen Vera und der Erzählerin auch auf der Zitatebene darstellen. Vera war Poststrukturalistin, besonders beeinflusst von Jacques Derrida, und ich hatte eine pathetische Liebe zu den Zitaten von Zwetajewa. Diese beiden Welten wollte ich auch im Text bewahren.

Ein Wort noch zur Korrespondenz zwischen Vera und der Ich-Erzählerin: Als ich meine über Jahre entstandenen Texte zusammengestellt habe, hatte ich das Gefühl, dass es ein bisschen zu spät und überraschend käme, wenn ich die politische Ebene erst im letzten Kapitel einbringe. Deshalb habe ich sie in der Korrespondenz untergebracht, in deren Hintergrund sich immer politische Ereignisse abspielen, wie zum Beispiel der fünftägige Kaukasuskrieg in Georgien 2008, Putins Aussage im selben Jahr, die Krim sei der Ukraine »ungerecht geschenkt« worden, oder seine Behauptung 2010, Russland hätte den Zweiten Weltkrieg auch ohne die Ukraine gewonnen. Damit wollte ich zeigen, wie die Protagonistin in ihrer Liebesgeschichte gefangen ist – als würde sie in einem abstrakt-poetischen Vakuum leben, in dem nur Gefühle zählen. Doch währenddessen nimmt die Weltgeschichte ihren Lauf: Russland weigert sich, die Ukraine aus seinen Narrativen zu entlassen und bereitet Schritt für Schritt einen Krieg vor, um sie ›zurückzugewinnen‹.

NW Du hast sogar Auszüge aus Zeitschriftenartikeln oder ganze Filmkritiken, die du selbst in früheren Jahren (zum Beispiel auf der unabhängigen Plattform Colta.ru[4]) veröffentlicht hast, ohne Veränderung in den Roman integriert.

AM Ja, das war für mich eine Möglichkeit, Dinge beim Namen zu nennen, die ich in den literarischen Texten selbst nicht direkt benenne. Ich fand es besonders für das deutschsprachige Publikum wichtig, bestimmte Konzepte deutlicher zu erklären.

NW Lässt sich diese komplizierte, man könnte auch sagen toxische oder obsessive Liebesgeschichte, die letztlich auf eine Befreiungsgeschichte der Ich-Erzählerin hinausläuft, ohne zu einer wirklichen Lösung zu kommen, auch als eine große Metapher für das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine verstehen?

AM ›Obsessiv‹ trifft es tatsächlich viel besser als ›toxisch‹ …  Ja, ich habe die Erzählung bewusst in diese Richtung gelenkt und diesen Faden konsequent durch den ganzen Roman gezogen. Deshalb würde ich ihn letztendlich als eine Geschichte über eine lesbische, coabhängige Beziehung und den langen, schmerzhaften Trennungsprozess beschreiben – vor dem Hintergrund der Separation der Krim von der Ukraine und Russlands Weigerung, die Ukraine als unabhängigen Staat anzuerkennen. Es geht um eine enge, oft erdrückende, manipulative Verbundenheit, eine gemeinsam getragene, schwer aufgeladene Vergangenheit und den Wunsch nach Befreiung – sowohl auf der privaten als auch auf der politischen Ebene.

 

Der Sprach- und Kulturwissenschaftler Dirk Naguschewski ist Redaktionsleiter des ZfL Blog, zuletzt erschien von ihm dort »Das Leben erinnern. Die Berliner Buchhändlerin und Femme de lettres Françoise Frenkel«.

Die Slawistin und Komparatistin Nina Weller arbeitet im ZfL-Projekt »Anpassung und Radikalisierung. Dynamiken der Populärkultur(en) im östlichen Europa vor dem Krieg«. Auf dem ZfL Blog erschien von ihr zuletzt »Wissenschaftsaktivismus und Osteuropaforschung in Zeiten des Krieges«.

 

[1] Zemfira ist eine der erfolgreichsten Sängerinnen der russischen Pop- und Rockmusik der 1990er Jahre und gilt als Ikone der Queer-Szene. Aufgrund ihrer öffentlichen Positionierung gegen den Krieg hat sie Russland 2022 verlassen und wurde zur ›ausländischen Agentin‹ erklärt.

[2] Irpin ist neben Butscha, Mariupol, Jahidne und anderen Orten zum traurigen Symbol für die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine geworden. 2022 verübten russische Armeeangehörige dort Massaker an der Zivilbevölkerung und richteten verheerende Zerstörungen an.

[3] Der Begriff Exophonie beschreibt das Phänomen, dass Autor*innen in einer Sprache schreiben, die nicht ihre Muttersprache ist, vgl. Susan Arndt, Dirk Naguschewski, Robert Stockhammer (Hg.): Exophonie. Anders-Sprachigkeit in der Literatur, Berlin 2007. In Deutschland wird oft Yoko Tawada als Beispiel genannt, die sowohl auf Japanisch als auch auf Deutsch schreibt – und in beiden Sprachen erfolgreich ist.

[4] Die russische Plattform Colta.ru (Chefredakteurin: Maria Stepanova) veröffentlichte seit 2012 kritische Texte zu Kultur, Gesellschaft und Wissenschaft. Im März 2022 stellte sie ihre Arbeit bis auf Weiteres ein.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: »Zwischen uns herrscht nun Krieg«. Dirk Naguschewski und Nina Weller im Gespräch mit Anna Melikova über ihren Roman »Ich ertrinke in einem fliehenden See«, in: ZfL Blog, 19.3.2025, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2025/03/19/zwischen-uns-herrscht-nun-krieg-dirk-naguschewski-und-nina-weller-im-gespraech-mit-anna-melikova-ueber-ihren-roman-ich-ertrinke-in-einem-fliehenden-see].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20250319-01