Barbara Picht: HANS JONAS IM RADIOINTERVIEW

Am 10. Mai 2023 jährt sich der Geburtstag des Philosophen Hans Jonas zum 120. Mal, der 5. Februar war sein 30. Todestag. Dies soll Anlass sein, auf ein Interview mit ihm hinzuweisen, das 1988 erstmals im Radio ausgestrahlt wurde und seit kurzem wieder zugänglich ist. Geführt wurde das Gespräch von dem Journalisten Harald von Troschke (1924–2009), der für die Aufzeichnung einen Besuch des aus den USA angereisten Hans Jonas’ in Heidelberg nutzte. Von Troschke war vielen Radiohörerinnen und -hörern durch seine rund einstündigen Porträtsendungen bekannt, die in den 1960er bis 1980er Jahren vom Norddeutschen Rundfunk, dem Bayerischen Rundfunk und weiteren Sendern im In- und Ausland ausgestrahlt wurden. Da von Troschke, unterstützt zunächst von seiner Frau, später auch von seinen drei Kindern, seine Beiträge selbst produzierte, behielt er die Rechte an den Sendungen. Seit 2020 kann sein Audionachlass deshalb im digitalen Harald von Troschke-Archiv präsentiert werden, wo sich auch das Interview mit Hans Jonas nachhören lässt.[1]

Von Troschke interessierte sich aus mehreren Gründen für Lebensweg und Werk von Jonas, der nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 aus Deutschland geflohen war, unter anderem in London und Jerusalem gelebt und sich schließlich in New York niedergelassen hatte. Unter den Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Kultur im In- und Ausland, mit denen von Troschke sprach, waren viele, die von den Nationalsozialisten in die Emigration gezwungen worden waren. Die Liste der interviewten Emigrantinnen und Emigranten ist beeindruckend: Bruno Bettelheim, Max Born, Géza von Cziffra, Lisa Fittko, Therese Giehse (von Troschke, der selbst einmal Schauspieler werden wollte, befragte viele Prominente aus Theater und Film), René König, Annette Kolb, Hans Sahl, Fritz Stern, Friedrich Torberg, Joseph Weizenbaum und Elsbeth Weichmann sind nur einige von ihnen. Zu den wiederkehrenden Fragen, die von Troschke stellte, gehörte, ob die Zeitzeugen 1933 geahnt hatten, was der Machtantritt Hitlers und der Nationalsozialisten bedeuten werde. Auch der Weg ins Exil und die Emigrationserfahrungen sind Thema dieser Gespräche, ebenso wie das Leben in Deutschland bzw. Österreich vor der Flucht. Wer die Erinnerungen[2] von Hans Jonas gelesen hat, wird in diesem Radiointerview zwar nicht viel Neues erfahren. Es lohnt dennoch, es sich anzuhören, schon der lebendigen und zugleich präzisen Erzählweise wegen, in der Jonas von seinen Erfahrungen und politischen wie philosophischen Ansichten berichtet.

Hans Jonas (re.) und Harald von Troschke (li.), 1985 in Heidelberg, © Andrea von Troschke

Ein weiterer Grund von Troschkes, Hans Jonas um ein Interview zu bitten, war das Interesse des Journalisten an einer gelingenden Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Beitrag, den die Wissenschaft dazu leisten konnte. Jonas’ umweltethisches Grundlagenwerk Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation war 1979 erschienen. Der als Einspruch gegen Ernst Blochs Das Prinzip Hoffnung geschriebene Text war zugleich das erste Buch, das Jonas mehr als vierzig Jahre nach seiner Flucht wieder auf Deutsch geschrieben und das ihn rasch einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht hatte. Jonas entwickelt darin eine Ethik, die auf das moderne Ausmaß technischen Vermögens mit einer neuen Dimension von Verantwortung reagiert, die den Globus und auch die Nachgeborenen umfasst. Die Frage, ob Jonas’ »Prinzip Verantwortung« und Blochs »Prinzip Hoffnung«, das dieser nicht mit Zuversicht verwechselt wissen wollte, einander widersprechen oder sich ergänzen, beschäftigt die Forschung bis heute.[3] Über wissenschaftliche Kreise hinaus wird Das Prinzip Verantwortung im Kontext von Umweltschutz und Klimawandel rezipiert. Anfang des Jahres hielt die Klimaschutzaktivistin Luisa Neubauer die jüngste Ausgabe des Buches, zu der Robert Habeck das Nachwort verfasst hat, beim Protest in Lützerath in die Kameras

Als von Troschke 1985 in Heidelberg mit Hans Jonas sprach, ging es noch nicht um den Klimawandel, auch wenn Jonas im Prinzip Verantwortung den Treibhauseffekt und die Notwendigkeit sparsamer Energiewirtschaft thematisiert. Als Folge der technologischen Zivilisation stand von Troschke weit mehr die Bedrohung durch die militärische Nutzung der Atomtechnik vor Augen, worüber er mit Max Born, Werner Heisenberg, Robert Jungk, Linus Pauling, Edward Teller, Carl Friedrich von Weizsäcker und anderen sprach. Für alle, die sich für die Stimmen des Exils und die Geschichte der Bundesrepublik interessieren, bieten die etwa 250 Zeitzeugengespräche im Harald von Troschke-Archiv wertvolles Quellenmaterial. Da sich das Archiv nach Namen, Themen, Berufen und Orten durchsuchen lässt, ergeben sich vielfältige Möglichkeiten der Kontextualisierung der Gespräche. Zu zentralen Debatten der Zeit erhält man so einen aufschlussreichen Querschnitt an Stellungnahmen und profitiert dabei davon, dass sich von Troschke sehr sorgfältig auf die Gespräche vorbereitete und die jeweiligen Werke und Positionen seines Gegenübers gut kannte. Gezielt suchte er diejenigen auf, die sich mit drängenden Gegenwartsfragen befassten.

Über die Vereinbarkeit technologischen Fortschritts mit dem Schutz der Natur sprach er außer mit Jonas ebenfalls mit dem norwegischen Ethnologen und Umweltaktivisten Thor Heyderdahl, dem es 1947 gelungen war, mit einem nach indigenen Vorbildern gebauten Floß von Peru aus den Pazifischen Ozean zu überqueren. Fragen der Ethik diskutierte er auch mit dem Gründer der Paneuropa-Union Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, dem Schweizer Anthropologen und Zoologen Adolf Portmann, der Ärztin und Spezialistin für Plastische Chirurgie Ursula Schmidt-Tintemann oder dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz. Über Heideggers Rolle im Nationalsozialismus unterhielt sich von Troschke außer mit dem Heidegger-Schüler Jonas mit dem Politologen und Publizisten Dolf Sternberger, der bei Paul Tillich mit einer Arbeit über Heideggers Sein und Zeit promoviert worden war, sowie dem Journalisten Werner Rings, dessen Relegation von der Freiburger Universität Heidegger unterzeichnet hatte. Die im Audioarchiv enthaltenen kurzen Inhaltsangaben zu den Interviews sowie die verlinkten Schlagworte erlauben es, die entsprechenden Gesprächsstellen im direkten Vergleich anzuhören.

Auch in einer weiteren Hinsicht ist Hans Jonas im Troschke-Archiv in aussagekräftiger Gesellschaft. Sein Interesse für die Naturwissenschaften, das in seiner Militärzeit entstand, als er angesichts von Verstümmelung und Tod um ihn herum über das Leben nachzudenken begann,[4] teilt er mit vielen der Interviewpartnerinnen und -partnern von Troschkes. Neben den genannten (Atom-)Physikern sind unter den befragten Naturwissenschaftlern der Begründer der modernen Hormonforschung Adolf Butenandt, der Biophysiker und Nobelpreisträger Bernard Katz und der Evolutionsbiologe Ernst Mayr, um nur diese drei zu nennen. Wie mit Jonas unterhielt sich von Troschke auch mit ihnen unter anderem über wissenschaftsethische Fragen. Ist der Forscher verantwortlich zu machen für das, was mit den Ergebnissen der Wissenschaft geschieht? Welche Grenzen hat sich die wissenschaftliche Forschung selbst aufzuerlegen? Welche ethischen Konzepte hat sie selbst zu entwickeln, welche Folgenabschätzung zu leisten?

Nicht gesprochen hat von Troschke mit Jonas über die Möglichkeit einer Remigration (anders als beispielsweise mit dem Physiker Max Born, der 1954 nach Deutschland zurückgekehrt war). Möglicherweise hätte er sonst erfahren, was in dem 2022 erschienenen Briefwechsel zwischen Hans Jonas, der 1993 in New York starb, und Hans Blumenberg detailliert nachzulesen ist: dass sich Blumenberg wiederholt darum bemüht hatte, Jonas durch einen Ruf an eine deutsche Universität zur Rückkehr zu bewegen. Seine Wertschätzung galt dabei weniger dem Umweltethiker.[5] Blumenberg warb vielmehr um den Religionshistoriker Jonas, der über das Wesen der Gnosis mit summa cum laude bei Martin Heidegger und Rudolf Bultmann promoviert worden war und dessen als Habilitation geplante Schrift Gnosis und spätantiker Geist in ihrem ersten Teil 1934, im Jahr nach seiner Flucht, noch in Deutschland erscheinen konnte. 1945, als er als Soldat der Jüdischen Brigade der britischen Armee nach Deutschland zurückkehrte, erfuhr Jonas, dass der Vandenhoeck & Ruprecht Verlag den bereits gesetzten zweiten Teil aufbewahrt hatte, so dass er 1954 veröffentlicht werden konnte (der geplante dritte Teil ist nie erschienen). Jonas’ Schilderung seines ersten Nachkriegsbesuches bei seinem ehemaligen Lehrer Rudolf Bultmann in Marburg gehört zu den bewegenden Stellen des Interviews. Jonas hielt bei diesem Wiedersehen im Jahr 1945 ein Buch in der Hand, das der Verleger Günther Ruprecht ihm für Bultmann mitgegebenen hatte (der Postverkehr funktionierte noch nicht wieder). Bultmann deutete darauf und fragte: »Darf ich hoffen, dass dies der zweite Teil der Gnosis ist?« Für Jonas war diese Frage der erste Moment der Versöhnung mit Deutschland, die er sich bis dahin nicht hatte vorstellen können. Auch der Neutestamentler Bultmann bemühte sich um eine Berufung des ehemaligen Schülers. Jonas hätte eine Rückkehr nach Deutschland auch nicht grundsätzlich abgelehnt. Seine Verpflichtungen an der New School for Social Research in New York und die Verwurzelung seiner drei Kinder in den Vereinigten Staaten ließen ihn eine geteilte Professur vorschlagen, so dass er im Sommersemester in Deutschland, im Wintersemester in den USA hätte lehren können. Dazu kam es aber nicht.[6]

Zu den Eigenarten der von-Troschke-Interviews gehört die jeweils letzte Frage, die er seinen Interviewpartnerinnen und -partnern stellt. Er verlässt mit ihr das Feld von Zeitgeschichte und Politik und fragt grundsätzlicher nach ihrem Menschenbild, der Rolle des Glaubens in ihrem Leben oder ihren Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod. Der Gnosisforscher Hans Jonas, dessen Mutter in Auschwitz ermordet wurde, wollte seine Antwort ausdrücklich als ein persönliches Bekenntnis, nicht als eine Botschaft verstanden wissen. Er habe angesichts der Shoah den jüdischen Allmachtsbegriff fallen gelassen. Er glaube, wie er es in Der Gottesbegriff nach Auschwitz dargelegt hat, stattdessen an einen Gott, der sich der Welt gegenüber seiner Macht begeben habe und der es den Menschen überlasse, die göttliche Sache in der Welt zu vertreten.

 

Die Historikerin Barbara Picht arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im ZfL-Schwerpunktprojekt »Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur politisch-sozialen und kulturellen Semantik in Deutschland«.

 

[1] Das Harald von Troschke-Archiv wurde von Kerstin Schoor und Barbara Picht am Axel Springer-Lehrstuhl für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, Exil und Migration an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) eingerichtet.

[2] Hans Jonas: Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander, hg. und mit einem Nachwort versehen von Christian Wiese, Frankfurt a.M./Leipzig 2003.

[3] Vgl. Rainer E. Zimmermann: »Bloch«, in: Michael Bongardt u.a. (Hg.): Hans Jonas Handbuch, Stuttgart 2021, S. 35–39.

[4] Vgl. Lore Jonas: »Geleitwort«, in: Jonas: Erinnerungen (Anm. 2), S. 7–9, hier S. 8.

[5] In Blumenbergs Augen hatte Jonas den kategorischen Imperativ missverstanden. Er hielt auch nicht viel von Jonas’ Heuristik der Furcht, die im Übrigen auch von Robert Habeck als politisches Mittel abgelehnt wird. Vgl. Hans Blumenberg/Hans Jonas: Briefwechsel 19541978 und weitere Materialien, hg. von Hannes Bajohr, Berlin 2022, S. 282; »Robert Habeck über Hans Jonas und ›Das Prinzip Verantwortung‹«, Suhrkamp DISKURS #9.

[6] Vgl. Blumenberg/Jonas: Briefwechsel (Anm. 5), S. 100.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Barbara Picht: Hans Jonas im Radiointerview, in: ZfL Blog, 8.5.2023 [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/05/08/barbara-picht-hans-jonas-im-radiointerview/]
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20230508-01

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