Lukas Laier: EDIEREN AUS DEM NACHLASS. Zur Werkausgabe Hermann Borchardts

So abenteuerlich die Wege von deutschen Exilschriftstellerinnen und -schriftstellern des letzten Jahrhunderts waren, so verworren sind meist auch die Wege ihrer Nachlässe. Selten finden sich alle Manuskripte, Briefe und persönlichen Gegenstände an einem Ort versammelt. Häufig verteilen sich Nachlässe auf verschiedene Orte und Länder. Im schlimmsten Fall hat überhaupt niemand etwas aufbewahrt. Der Nachlass des Schriftstellers und Philosophen Hermann Borchardt (1888–1951) findet sich an zwei Standorten: im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 in Frankfurt am Main, wohin ihn der verdienstvolle Exilforscher John M. Spalek überführte, und in der Rubenstein Rare Book & Manuscript Library in Durham, North Carolina. Ein unerwarteter Fund, den mein Kollege Christoph Hesse und ich dort machten, veranlasste uns, Borchardt mit einer Werkedition als wichtigen Schriftsteller des Exils zu würdigen.

Der Unbekannte

Trotz einflussreicher Fürsprecher wie Bertolt Brecht, George Grosz, Thomas Mann, Max Reinhardt und Franz Werfel blieb Borchardt zeit seines Lebens weithin unbekannt. Seine Karriere als Bühnenautor im Berlin der Weimarer Republik mag er aus Angst, wegen der satirischen Darstellung von Deutschtümelei und Franzosenhass seine Stelle als Lehrer zu verlieren, selbst vereitelt haben.[1] Ein Romanprojekt musste Borchardt im sowjetischen Exil abbrechen, und als er später in den USA Stücke und Essays über den christlich-konservativen Widerstand gegen den Faschismus schrieb und seine eigenen Lagererfahrungen festhielt, traf er nicht den dortigen Publikumsgeschmack. So blieben die meisten seiner Texte zu Lebzeiten unveröffentlicht. Im Januar 1951 starb Hermann Borchardt in New York.

Ein erster Versuch, Borchardt posthum als Schriftsteller zu etablieren, wurde über 50 Jahre nach seinem Tod unternommen. Im Auftrag des Exilforschers Hermann Haarmann und des Verlegers Stefan Weidle edierte Uta Beiküfner Borchardts monumentalen Roman Die Verschwörung der Zimmerleute 2005 erstmals in deutscher Sprache.[2] Hans Sahl, ein Freund Borchardts im New Yorker Exil, hatte Weidle gefragt, ob er nicht Lust hätte, »zusammen finanziellen Selbstmord zu begehen«,[3] wohlwissend, dass nur wenige Leser bereit wären, einem unbekannten Schriftsteller 1000 Seiten eines Romans zu folgen, der dessen Enttäuschung über die Linken in der Emigration und seine daraus folgende konservative Wende auf großartige Weise schildert: Nicht Revolutionäre retten in diesem Roman die Republik vor den Faschisten, sondern eine konservative Partei im Verbund mit einem mittelalterlichen Zimmermannsorden. In der Tat blieb die satirische Auseinandersetzung mit dem Faschismus, figurenreich und »bösartig« (Brecht), wie schon 1943 in der gekürzten englischen Fassung, auch 2005 im deutschen Original ein Ladenhüter.

Abb. 1: Porträt Hermann Borchardts aus seinem Reisepass, mit dem er 1933 nach Frankreich flüchtete. Nachlass Hermann Borchardt, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main
Abb. 1: Seite aus Hermann Borchardts Reisepass, mit dem er 1933 nach Frankreich flüchtete. Nachlass Hermann Borchardt, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main

Ein Zufall brachte den Autor einige Jahre später erneut ins Gespräch. Mitte der 1920er Jahre hatte Borchardt sich in Berlin mit Bertolt Brecht angefreundet und war dessen Mitarbeiter geworden (u.a. bei der Heiligen Johanna der Schlachthöfe). Bei der Arbeit an der 2014 erschienenen Edition der Briefe an Bertolt Brecht im Exil 1933–1949[4] stießen Hermann Haarmann und Christoph Hesse auf zwölf Briefe Borchardts, die er aus dem Exil in Frankreich, der Sowjetunion und den USA an Brecht geschrieben hatte. Im April 1933 hatte Borchardt nämlich wegen einer angeblich antideutschen Abituraufgabe, die er seinen Schülern gestellt hatte, aus Berlin flüchten müssen. Zunächst kam er in Beauchamp nahe Paris unter, entschloss sich dann aber Anfang 1934, eine Professur für Deutsch als Fremdsprache im sowjetischen Minsk anzunehmen, obwohl er schon ahnte, dass er sich in »pauvreté, Kälte, Verstellung und Maulhalten« begeben werde.[5] Die »Verstellung« machte Borchardt allerdings nur mit, bis er aufgefordert wurde, die deutsche Staatsbürgerschaft gegen die sowjetische einzutauschen, was einen deutlich niedrigeren Lebensstandard und die Gefahr der Verhaftung nach sich gezogen hätte. In der Not ging er mit Frau und Kindern im Januar 1936 zurück nach Berlin, wo er ein halbes Jahr später als gebürtiger Jude und Re-Emigrant verhaftet und in den Konzentrationslagern von Esterwegen, Sachsenhausen und Dachau interniert wurde. Ein Jahr lang kämpfte Dorothea Borchardt für die Entlassung ihres Mannes und erhielt dabei finanzielle Hilfe von Brecht. Eva und George Grosz, die noch vor der Machtübertragung an Hitler im Januar 1933 in die USA emigriert waren, besorgten schließlich Schiffsfahrkarte und Affidavit, so dass Borchardt aus dem KZ Dachau freigelassen wurde und mit seiner Familie in New York ein neues Leben beginnen konnte.

Mehr als Briefe

Erst im Zuge der Rechteklärung für die Briefe an Brecht stellte sich heraus, dass der Rettungsaktion eine schon lange währende Freundschaft mit George Grosz vorausgegangen war. Borchardts damals noch lebender Sohn Hans (1930–2015) meldete sich aus Delaware mit der Nachricht, es existiere ein umfangreicher Briefwechsel seines Vaters mit dem ebenfalls aus Berlin stammenden Künstler. Ob wir nicht Lust hätten, ihn zu edieren? Hermann Haarmann und Christoph Hesse sagten prompt zu und ich stieß im Sommer 2015 dazu, als es zunächst darum ging, die in Kurrentschrift geschriebenen Briefe Borchardts zu entziffern. Zum Abschluss des Projekts reisten Christoph Hesse und ich nach Durham in North Carolina, um sicherzugehen, dass uns kein Brief von Grosz oder Borchardt entgangen war, denn schließlich hielten wir mit dem Briefwechsel das Zeugnis einer außergewöhnlichen Freundschaft in den Händen, die auch die Nöte des Exils überstand.

Wie aber war dieser Teil des Nachlasses nach Durham gelangt? An der dortigen Duke University war Borchardts jüngster Sohn Frank (1938–2007), der sich von den drei Kindern am meisten für das Werk des Vaters interessierte, bis zu seinem Tod Professor für Germanistik. In einem 1989 publizierten und bis heute wegweisenden Porträt machte er den Schriftsteller Hermann Borchardt der Exilforschung erstmals näher bekannt.[6] Demgegenüber hatte der älteste Sohn Hans, der in Delaware als Chemiker arbeitete, mit dem Werk seines Vaters nichts zu schaffen, wie er in seiner Autobiographie einräumte. Doch nach dem Tod seines Bruders, so erzählt er in der Trauerrede, habe sich etwas Merkwürdiges zugetragen: Über drei Monate hinweg habe jeden Tag ein Vogel wild an die Fensterscheiben seines Hauses gepickt. Das habe ihn und seine Lebensgefährtin dazu bewegt, im Haus seines Bruders doch noch einmal alles durchzusehen. Wäre der Vogel nicht gewesen, so Hans Borchardt, wären zahlreiche Schriften seines Vaters vernichtet worden. Stattdessen werden sie nun – zu unserem Glück! – in der Rubenstein Rare Book & Manuscript Library der Duke University verwahrt.

Tatsächlich fanden wir im dortigen Nachlass Briefe von Grosz und Borchardt, die in der uns vorliegenden Liste nicht verzeichnet waren, außerdem Fragmente aus Borchardts verschollenem »Lagerbuch« und ein uns bis dahin nicht bekanntes Theaterstück über das Scheitern eines christlich-konservativen Aufstands gegen Hitler. Das war schon weit mehr als erwartet, doch der Inhalt der fünften von insgesamt sechs Boxen übertraf alles: Zwei schwarze Kladden mit zerknitterten Etiketten, darin 400 maschinenschriftliche Seiten, durchgehend paginiert und mit einem Inhaltsverzeichnis versehen, über dem mit Bleistift notiert steht: »Geschichte einer Edelfrau. Liebesroman aus deutscher Vergangenheit« – Borchardts nie veröffentlichter zweiter Roman, in vollständiger Überlieferung!

Ein vergessener Roman

Abb. 2: Titelverzeichnis des Typoskripts von Borchardts nachgelassenem Roman »Geschichte einer Edelfrau«. Hermann Borchardt Papers, David M. Rubenstein Rare Book & Manuscript Library, Duke University, Durham (North Carolina)
Abb. 2: Titelverzeichnis des Typoskripts von Borchardts nachgelassenem Roman »Geschichte einer Edelfrau«. Hermann Borchardt Papers, David M. Rubenstein Rare Book & Manuscript Library, Duke University, Durham (North Carolina)

Nur gelegentlich, in Briefen an Franz Werfel und dessen Frau Alma Mahler-Werfel sowie gegenüber seinem Literaturagenten Rudolf Kommer, hat Borchardt selbst von der Geschichte einer Edelfrau gesprochen. Sein Sohn Frank hingegen hat den Roman nie erwähnt. Wir wissen mittlerweile, dass Borchardt die Arbeit daran im Mai 1942 begann, als er noch damit beschäftigt war, Die Verschwörung der Zimmerleute für die amerikanische Ausgabe zu kürzen. Denn trotz geringer Verkaufszahlen von The Conspiracy of the Carpenters hatte der Verlagsvorschuss Borchardt einen Geldsegen beschert, weshalb er darauf bedacht war, gleich den nächsten Roman fertigzustellen. »Wenn Ihnen der Roman gefällt, bitte helfen Sie nur noch einmal!«, bat Borchardt Franz Werfel, der für den ersten Roman ein Vorwort verfasst hatte [7]. Doch dieser starb kurz darauf, und so blieb der Roman, der eine Geschichte vom Ende des 19. Jahrhunderts erzählt, bis heute unveröffentlicht. Daran änderte auch ein wohlwollendes Gutachten des österreichischen Schriftstellers Robert Neumann für die englische Literaturagentin Juliet O’Hea nichts:

»Es ist ein fascinierendes, langes und reiches Buch. Viel leichter zugänglich als Borchardt’s anderer Roman: ›Die Verschwörung der Zimmerleute‹, es ist höchst unterhaltsam, randvoll mit prächtig gezeichneten Charakteren, mit phantastischer Würze und Geschmack erzählt. Da ist mehr Würze und Substanz in diesem Buch als in den Romanen eines gackernden Hühnerhofes von kompetenten und mittelmäßig erfolgreichen Schriftstellern zusammen. Diese Würze bringt beinahe Borchardt’s ganzes Werk in Unordnung, er zersplittert sich leicht, es gibt keinen Charakter an der Peripherie, in dessen Hintergrund und Verästelung er nicht folgen möchte. Die Bühne ist dicht bevölkert, überfließend an Leben und Lebensfreude. Ich sage mit aller Verantwortung, daß Borchardt […] sehr nahe an einen großen Schriftsteller herankommt.«[8]

Möglicherweise lag Neumann mit seiner Befürchtung richtig, dass deutsche Eliten 1945 nicht als liebenswerte Protagonisten, sondern nur als Schurken vorstellbar waren.

Abb. 3: Lukas Laier sortiert das Manuskript des Romans im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 in Frankfurt am Main. Bild: Deutsche Nationalbibliothek / Katrin Kokot
Abb. 3: Lukas Laier sortiert das Manuskript des Romans im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 in Frankfurt am Main. Bild: Deutsche Nationalbibliothek / Katrin Kokot

Mit dem Roman-Fund war Hermann Haarmann, Christoph Hesse und mir klar, dass wir aufs Ganze gehen müssen. Wir wollten Hermann Borchardts Werke edieren (mit Ausnahme der Verschwörung der Zimmerleute, die ja bereits in einer exzellenten Ausgabe vorlag). Fördermittel gab uns zunächst die Fritz Thyssen Stiftung. Nachdem wir in den ersten Jahren unserer Arbeit an der Freien Universität Berlin aus den an unterschiedlichen Orten überlieferten Fragmenten Borchardts sogenanntes Lagerbuch rekonstruiert (Band 1, 2021) und so manches verschollen geglaubte Theaterstück doch noch ausfindig gemacht haben (Band 2, 2022),[9] steht im kommenden Jahr die Edition der Geschichte einer Edelfrau an. Dabei sollen auch die »Geheimen Querverbindungen« (so der Titel eines Kapitels von Borchardts ebenfalls in Band 1 veröffentlichter Autobiographie Der Club der Harmlosen) nachgezeichnet werden, die sich von diesem Roman weit in Borchardts Werk ebenso wie in sein Leben hinein erstrecken. Aufschluss darüber versprechen wir uns von den in Durham zahlreich archivierten Vorarbeiten, deren Entstehung bis ins Jahr 1933 nach Berlin zurückreicht, und von dem im Frankfurter Exilarchiv verwahrten Manuskript, das ich dort jüngst aus einer losen Blattsammlung zusammengesetzt habe. In den noch folgenden Bänden 4 und 5 werden wir Borchardts politische Schriften (u.a. zum Totalitarismus) sowie sein philosophisches Vermächtnis, den Traktat über die Unsterblichkeit, über dem er selbst verstarb, veröffentlichen.

 

Der Kultur- und Kommunikationswissenschaftler Lukas Laier arbeitet am ZfL gemeinsam mit Christoph Hesse an der von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur geförderten »Edition der Werke Hermann Borchardts«.

 

[1] Hinweise darauf finden sich in Hermann Borchardt: »Der dicke Mann, der große Sergeij und die materialistische Ehefrau« [ca. 1943], in: Hermann Borchardt Papers, Rubenstein Rare Book & Manuscript Library, Duke University, Durham (North Carolina), und ders.: »Curriculum Vitae II«, in: Hermann Borchardt: Werke, Bd. 1, Autobiographische Schriften, hg. von Hermann Haarmann, Christoph Hesse und Lukas Laier, Göttingen 2021, S. 237.

[2] Die dramatische Urfassung der Verschwörung der Zimmerleute befindet sich heute im Deutschen Exilarchiv in Frankfurt. Dort befinden sich u.a. ebenfalls die fragmentarische Autobiographie Der Club der Harmlosen und die im amerikanischen Exil entstandenen Theaterstücke Die Brüder von Halberstadt, Der verlorene Haufe und Die Frau des Polizeikomissars sowie das unvollendete Stück Befreiung des Pfarrers Müller, das Borchardt als Ghostwriter für Ernst Toller schrieb und von diesem zu Pastor Hall (1939) umgearbeitet wurde. Zum daraus entstandenen Streit siehe Lukas Laier: »Das klingt doch nicht nach Toller!«, in: Jungle World , 2.12.2022.

[3] Stefan Weidle: »Notiz«, in: Hermann Borchardt: Die Verschwörung der Zimmerleute. Rechenschaftsbericht einer herrschenden Klasse, hg. von Uta Beiküfner, Bonn 2005, Bd. 1, S. 8.

[4] Briefe an Bertolt Brecht im Exil 1933–1949, hg. von Hermann Haarmann und Christoph Hesse, 3 Bde., Berlin 2014.

[5] Brief an George Grosz vom 28. Januar 1934, in: Hermann Borchardt, George Grosz: »Lass uns das Kriegsbeil begraben!« Der Briefwechsel, hg. von Hermann Haarmann und Christoph Hesse unter Mitwirkung von Lukas Laier, Göttingen 2019, S. 92. Vgl. hierzu die Besprechung in der Süddeutschen Zeitung.

[6] Frank L. Borchardt: »Hermann Borchardt«, in: John M. Spalek/Joseph Strelka (Hg.): Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, Bd. 2: New York, Berlin 1989, S. 120–131.

[7] Brief von Hermann Borchardt an Franz Werfel, ohne Datum, vermutlich Februar oder März 1945. Alma Mahler and Franz Werfel Papers, Annenberg Rare Book & Manuscript Library, University of Pennsylvania, Philadelphia.

[8] Robert Neumann an Juliet O’Hea: Undatierter Brief, Nachlass Hermann Borchardt, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Deutsche Nationalbibliothek, Frankfurt am Main.

[9] Vgl. hierzu Besprechungen in der taz und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Bezahlschranke).

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Lukas Laier: Edieren aus dem Nachlass, in: ZfL Blog, 6.11.2023, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/11/06/lukas-laier-edieren-aus-dem-nachlass-zur-werkausgabe-hermann-borchardts/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20231106-01