Andreas Lipowsky: PERFORMANCE. OPER. FEMINISMUS. Bemerkungen zu »7 Deaths of Maria Callas« von Marina Abramović

Die Prominenz ist anwesend

Auf der Bühne der Deutschen Oper liegt eine Frau in einem Bett.[1] Wir blicken, so ist dem Programmheft zu entnehmen, in die Rekonstruktion eines historischen Schlafzimmers. Maria Anna Sofia Cecilia Kalogeropoulou soll hier gewohnt haben, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Maria Callas. Die Szene beginnt in ihrem Schlafgemach am Morgen ihres Todes. Nach einigen Minuten schlägt die Verstorbene ihre Augen auf, womit die Darstellerin eine immense Körperbeherrschung demonstriert, denn zuvor lag sie so regungslos, dass man nicht sicher sein konnte, ob sich unter der Totenmaske tatsächlich eine Performerin verbarg. Sie muss mehrfach in das direkt auf ihr Gesicht gerichtete Scheinwerferlicht blinzeln, verzieht aber ansonsten keine Miene. Minutenlang ist dieses Blinzeln die einzig wahrnehmbare Bewegung in dem großen Bühnenraum, während uns eine Tonspur mit dem Bewusstseinsstrom der Verstorbenen konfrontiert.

Als die Tote die Decke zurückschlägt, trifft uns diese Geste mit voller Wucht, denn unsere Aufmerksamkeit ist seit gut zehn Minuten darauf gelenkt, die kleinsten Regungen der Performerin wahrzunehmen. Sie reiht nun Alltagshandlungen aneinander, Bewegungen auf kleinstem Raum, die aufgrund unserer Konzentration aufs Minutiöse übermäßig bedeutsam erscheinen. Der Bewusstseinsstrom wird in der Zwischenzeit in Bewegungskommandos überführt, die wir umgehend ausgeführt sehen: »push the duvet aside – turn – legs over the side of the bed – look into the void – left hand on the mattress – right hand on the mattress – slowly slide down« etc. Die Inszenierung bedient sich teils theatraler, teils performativer Strategien. Mich beschleicht das ungute Gefühl, dass man sich nicht getraut hat, das »Hier und Jetzt«[2] der Performerin für sich wirken zu lassen. Die Tonspur ist jedoch das geringste Problem, das der Konzentration auf die Performance im Wege steht. Denn diese Performerin, es handelt sich um Marina Abramović, muss gegen den Nimbus ihrer eigenen Berühmtheit antreten.

In ihrem Manifest gegen die Interpretation beklagt Susan Sontag – frühe Beobachterin der Performancekunst – die Privilegierung des Intellekts in der westlichen Kultur »at the expense of energy and sensual capability«. Interpretation gilt ihr als »revenge of the intellect upon the world. To interpret is to impoverish, to deplete the world – in order to set up a shadow world of ›meanings‹«.[3] Als Protagonisten dieses Angriffs auf unsere Sensualität sieht sie Karl Marx und Sigmund Freud. Für diese, so Sontag, sei die Welt ohne Interpretation nicht intelligibel. Die von ihnen gelieferten universalistischen Matrizen träten nicht allein an, Welt zu erklären, sondern Welt zu ersetzen. »Manifest content must be probed and pushed aside to find true meaning […] beneath.«[4]

Mit dieser Inszenierung von Marina Abramović verschärft sich die Problemlage, denn die Performerin hat – in jahrzehntelang gepflegtem Personenkult – die Reduktion zum generativen Prinzip ihrer Kunst erhoben. Und so sitze ich im Rang des ausverkauften Hauses, redlich bemüht, mich auf das Geschehen einzulassen, aber alles, was ich denke, ist: »die Abramović, die Abramović, die Abramović«. Für eine Kunstform, deren Anliegen es ist, mit der Präsenz von Körpern im Raum zu arbeiten, kann man sich kaum etwas Verheerenderes vorstellen. Es entsteht förmlich eine Performance zweiten Grades, bei der sich an der eigenen Wahrnehmung beobachten lässt, wie der Erfolg der PR-Maschinerie der Performerin die Prämissen ihrer Arbeit konterkariert. Der Genrewechsel hin zum Celebrity-Kult wird so plakativ zur Schau gestellt, man möchte es für das eigentliche Konzept des Abends halten: zu demonstrieren, wie die Ikonisierung der Ikone das, wofür sie ikonisch steht, zu Grabe trägt. Denn nachdem die verstorbene Kalogeropoulou ins Jenseits abtritt – durch die große Flügeltür zur Rechten, hinein in das Gleißen der Flutlichtanlage – tritt die Abramović zur Linken wieder auf. In einem Abendkostüm aus goldenen Pailletten.

Zur Aura des Reproduzierbaren

Bevor Abramović in Kalogeropoulous Schlafzimmer erwacht, gab es sieben Kurzfilme zu sehen, die als filmische Kommentare auf sieben Bühnentode des klassischen Opernrepertoires konzipiert wurden. In der Reihenfolge ihres Ablebens treten auf: Violetta, Tosca, Desdemona, Cio-Cio-San, Carmen, Lucia und Norma. In den Filmen lässt sich Abramović von deren jeweiligen Todesarten inspirieren: Abramović stürzt von einem Turm, Abramović wird von einer Schlange erwürgt, Abramović zertrümmert im Wahnsinn Mobiliar usw., alles bei ununterbrochenem Einsatz der Zeitlupe. Den Filmen wird die sie jeweils inspirierende Szene live musikalisch zur Seite gestellt, jede Figur dabei von einer anderen Sängerin verkörpert. Allerdings kommen in den meisten Fällen nicht die tatsächlichen Todesszenen der betreffenden Dramatis Personae zur Aufführung, sondern ein Potpourri ihrer vermeintlich schönsten Melodien. Im Falle Violettas scheint man das Addio bel passato noch für eingängig genug zu halten, schon bei Tosca hören wir das Vissi d’arte des zweiten Aktes und nicht das Finale des dritten, Presto! Su, Mario. Von Carmens Habanera bis Normas Casta Diva bleibt uns im Verlauf des Abends kein Kassenschlager erspart.

Das fundamentale dramaturgische Problem der 7 Deaths of Maria Callas erklärt sich aber erst mit Blick auf eine Installation, die Abramović auf Grundlage derselben Zusammenstellung von Film und Musik, allerdings unter Zuhilfenahme von historischen Aufnahmen von Kalogeropoulou präsentiert hat. In dieser Version, unter dem Titel 7 Deaths in der Londoner Lisson Gallery gezeigt,[5] entfaltet sich ein intimer Dialog zwischen deutlich voneinander zu unterscheidenden Medien und Stilen. Die Autonomie der musikalischen Darbietung geht in der Bühnenversion verloren, der Charakter der Installation verschiebt sich in Richtung Stummfilm mit Live-Musik. Letztere hat nur noch begleitende Funktion und kann weder von der Aura des Historischen noch von den stilbildenden Interpretationen der Callas profitieren. Noch in ihrer Abwesenheit stellt Kalogeropoulou aber an performativer Intensität alles zur Aufführung Kommende in den Schatten. Denn während Abramović bei dem Versuch scheitert, sich mit ihrer physischen Präsenz gegen ihren eigenen Celebrity-Status zu behaupten, treten die Sängerinnen des Abends mit dem Medienphänomen Maria Callas in Konkurrenz. Eine Übermacht völlig anderen Kalibers.

Die gegenwärtige Wahrnehmung der Callas ist maßgeblich durch das 1997 von der Plattenfirma EMI begonnene Projekt geprägt, Liveaufnahmen, an denen die Sängerin beteiligt war, unter ihrem Namen zu veröffentlichen. Vor diesem Hintergrund ist die Wahl der vermeintlich populärsten Melodien zur Begleitung der Bühnentode bei Abramović besonders ärgerlich. Wer Callas’ Norma auf das Casta Diva reduziert, das Abramović als Kontrapunkt ihres Films The Fire wählt, ist, kurz gesagt, nicht auf der Höhe der Zeit. Die Live-Mitschnitte erlauben Einblicke in die Bühnenpräsenz der Interpretin, wie sie in den zuvor erhältlichen Studioeinspielungen nicht zur Geltung kommen konnte. Dies gilt insbesondere für Szenen und Rezitative, in denen Kalogeropoulou eine spontane Gestaltungskraft beweist, die ihresgleichen sucht. Ikonisch für diese, seit 1997 im digitalen Remastering wieder hörbare Dimension ihres sängerischen Erbes ist das Finale II: Dammi quell ferro! in Norma. Niemand hat es je so gesungen wie sie – in der Aufführung an der Mailänder Scala 1955 unter Antonio Votto.[6]

Norma klagt sich in dieser Szene selbst des Hochverrats an, wobei Kalogeropoulou anno 1955 mitten in einer dreieinhalbstündigen Aufführung alle handwerklichen Sicherheiten über Bord warf und stattdessen darauf vertraute, dass sie die Ungeheuerlichkeit der Selbstbezichtigung ihrer Figur in ihrer Tonführung verkörpern kann. Die Szene kulminiert in den Worten »son io« (›ich bin es‹), wobei Kalogeropoulou mit dem ›io‹ auf dem g, dem Wort, mit dem sie ihr Schicksal besiegelt, den musikalischen und theatralen Raum um sich herum förmlich implodieren lässt. Die Obertonzusammensetzung des Tones ändert sich, während Kalogeropoulou ihn erst crescendieren und dann ersterben lässt. Dabei entsteht eine vierteltönige Schwebung, die den Klang kurzzeitig der Tonalität des Stückes entrückt. Über der Generalpause des Ensembles schwebt ihr Glissando auf den Grundton zurück und mit seinem Erreichen hat sie die Zeit ebenso stillstehen lassen, wie sie sich zuvor für den Bruchteil eines Augenblicks der harmonischen Zusammenhänge des Stückes entledigte. »Hier sang jemand um sein Leben«, wie Jens Malte Fischer mit Blick auf einen anderen dieser ›Callas-Momente‹ treffend schreibt.[7] Das Publikum der Scala war sprichwörtlich außer sich. Neben gequälten Brava-Rufen hört man auf dem Mitschnitt hundertfaches Zischen, das die Beifallsbekundungen zum Verstummen bringen will. Als der Chor mit den Worten »Tu? Norma« (›Du? Norma‹) die Szene wieder aufnimmt, lässt sich nicht mehr sagen, ob die auf der Bühne dargestellte oder die im Raum herrschende Fassungslosigkeit die größere ist. So sah Performancekunst aus, zwanzig Jahre bevor sich Abramović in Innsbruck vor entsetztem Publikum mit einer Rasierklinge den Bauch aufschlitzte.[8]

Der Mythos der Ausnahmeinterpretin, der die Callas umgibt, speist sich heute aus einem anderen medialen Archiv als in der prädigitalen Zeit. Ihre Spotify-Discographie etwa verzeichnet 177 veröffentlichte Alben seit dem Jahr 1997, größtenteils Live-Mitschnitte einzelner Aufführungen. Keine faire Ausgangslage für die Sängerinnen der 7 Deaths of Maria Callas. Denn wer im Jahr 2022 Filmkunst auf Opernbühnen stellt, diese mit dem Namen »Maria Callas« bewirbt und dann aber zu scheinbar beliebigen Interpretinnen greift, um einen bunten Arienstrauß zur Aufführung zu bringen, hat keine Chance gegen die Präsenz von Kalogeropoulou auf meiner Spotify-Playlist. Die Selbstmarterungen, mit denen Abramović in den 1970er Jahren die Performanceszene aufmischte, bleiben aus. Das Gesangsensemble hat sich nichts zuschulden kommen lassen, aber ›um ihr Leben‹ sang keine der Darstellerinnen, was mit Blick auf einen Abend, der antritt, die Oper vom Tod ihrer Protagonistinnen her zu erschließen, einer gewissen Ironie nicht entbehrt.

Mitnichten Nur der Schönheit

Für das Programmheft hat die Deutsche Oper Berlin Elisabeth Bronfen gebeten, die Verbindung »Tod, Weiblichkeit und Ästhetik« [9] mit Bezug auf Maria Callas und Marina Abramović zu beleuchten. In Nur über ihre Leiche, ihrer überarbeiteten Habilitationsschrift aus den frühen 1990er Jahren, gelang es Bronfen, die vielfach auf den ersten Blick haarsträubenden Thesen über Frauen und Weiblichkeit der von ihr untersuchten Künstler zunächst als Artikulationen ästhetischer Programme plausibel zu machen, um sie dann schonungslosen psychoanalytischen Deutungen zu unterziehen. Diese virtuose Gratwanderung wird dem Publikum der Deutschen Oper Berlin nicht zugemutet. Im Programmheft ist daher zu lesen:

Die ästhetische Inszenierung des Sterbens einer Heldin hingegen wirkt im Kino wie auf der Theaterbühne ergreifend und ruft Mitleid hervor. Für den erbauenden Effekt ist sowohl Fiktionalisierung entscheidend als auch, dass der Körper, dessen Sterben mit Genuss bekundet werden kann, ein weiblicher ist.[10]

In ihrer einflussreichen Monografie machte Bronfen plausibel, wie weiblicher Schönheit in ästhetischen Praktiken die Funktion zukommt, über menschliche Sterblichkeit hinwegzutäuschen – etwa im Falle der 70 Portraits, die Ferdinand Hodler von der sterbenden Valentine Godé-Darel gemalt hat, deren ästhetisierte Darstellung des Weiblichen den realen Tod des Modells im wahrsten Sinne des Wortes überlebt. Den aus solchen Werken resultierenden Konnex von Tod, Weiblichkeit und Ästhetik nun in den Bühnentod als solchen hineinzuprojizieren, wie es Bronfen im Programmheft tut, entspricht weder ihrer früheren, sehr viel fundierteren Kritik, noch trifft es das Korpus, das Abramović sich aneignet.

Denn letztere, obwohl sie am vorderen Bühnenrand in Blütenweiß gebettet das Titelbild von Bronfens Monografie förmlich zu zitieren scheint (Paul Delaroches La jeune martyre von 1855), hat noch einmal ganz eigene Ansichten über den Tod ihrer Opernheldinnen:

Ich habe Tode ausgesucht, die letztlich aus Liebe erfolgten, durch Strangulation, Erstechen oder Verbrennen, durch einen Sturz, Harakiri, Tuberkulose und Wahnsinn.[11]

Bei ihr muss ›die Liebe‹ als universeller Grund weiblichen Sterbens auf Opernbühnen herhalten. Susan Sontag würde sich im Grab umdrehen. Im Angesicht dieser fragwürdigen Einschätzung scheint es geboten, das zur Aufführung kommende Repertoire noch einmal genauer zu betrachten. In chronologischer Reihenfolge der Uraufführungen gehören die von Abramović unter das Sterben aus Liebe subsumierten und von Bronfen unter dem Topos der schönen Leiche betrachteten Figuren zu folgenden Opern:

Bellini, Norma, 1831
Donizetti, Lucia di Lammermoor, 1835
Verdi, La Traviata, 1853
Bizet, Carmen, 1875
Verdi, Otello, 1887
Puccini, Tosca, 1900
Puccini, Madame Butterfly, 1904

Somit fällt die Wahl auf ein erstaunlich kohärentes Segment der über 400-jährigen europäischen Operngeschichte. Man könnte so weit gehen, zu sagen, dass diese Werke eine musikhistorische Entwicklung nachzeichnen. Abramović verwendet kanonisierte Werke des (vornehmlich) italienischen Repertoires, die vom Belcanto der 1830er Jahre über die mittlere Schaffensperiode Verdis sowie Bizets Carmen in den Verismo Puccinis führen. Dass Abramović für die Diversität dieser historischen Ästhetiken kein Interesse aufbringt, fällt durch den Vergleich mit den Aufnahmen Kalogeropoulous ins Auge. Denn während Abramovićs filmische Arbeiten jedweden Affekt durch die Zeitlupe glätten, bietet Kalogeropoulou zwischen Bellinis Norma und Puccinis Tosca das volle Arsenal stilistischer Differenzierung aus 70 Jahren italienischer Operngeschichte auf. Dies ist besonders eklatant im Verismo der Tosca und Madame Butterfly, der bekanntlich nach Wegen suchte, das Reale in den Theaterraum einbrechen zu lassen. Während also Abramović in The Leap, dem auf Toscas Vissi d’arte basierenden Film, statuesk vom Hochhaus stürzt, zelebriert Kalogeropoulou an Puccini das Zerbrechen ihres Schönklangs indem sie ihre beiden letzten Atemzüge in Schluchzen überführt. Tosca hat ihr Leben also mitnichten ›nur der Schönheit‹ geweiht, wie es in der deutschen Nachdichtung der Arie heißt. Auf eine vergleichbare Reflektion der eigenen ästhetischen Sprache wartet man bei Abramović vergeblich.

Der Umstand, dass spätestens mit dem Verismo das Hässliche programmatisch Einzug in die musikdramatische Ästhetik hält, betrifft auch den von Bronfen diagnostizierten Zusammenhang von ›Tod, Weiblichkeit und Ästhetik‹. Dieser ist für das zur Aufführung kommende Repertoire kaum haltbar, denn spätestens wenn in Carmen die Protagonistin auf offener Opernbühne erstochen wird, ist mit der Verdrängung des Todes durch die schöne Darstellung der Leiche Schluss. Wer wie Bronfen in diesem Zusammenhang von der ›Erbaulichkeit‹ des Sterbens spricht, belegt allenfalls die fortgeschrittene Domestizierung dieses Repertoires.

Auch wenn am Ende aller der von Abramović zitierten Stücke die weibliche Protagonistin stirbt, lassen sich die Geschlechterpolitiken aus 70 Jahren (vornehmlich) italienischem Opernrepertoire nicht auf die patriarchale Abwehr eines weiblichen Anderen reduzieren – oder gar den symbolischen Femizid, der sich durchaus auch als Lesart aufdrängt. Historisch beginnt diese Serie gleich mit einem unpassenden Fall, denn wie der gemeinsame Tod Normas und Polliones unter dem Topos der schönen weiblichen Leiche zu verhandeln wäre, erschließt sich ja nun wirklich nicht. (Ist hier nur Normas Tod ›erbaulich‹, Polliones aber nicht?) Auch ist Weiblichkeit auf der Opernbühne mit einer Vielzahl von Topoi besetzt. In Norma begegnet uns das Motiv der Kindsmörderin, Carmen hat wie keine Zweite die Rede von der Femme fatale geprägt. Beide kommen als ›schöne Leichen‹, gerade im Sinne einer feministisch-informierten Kritik, schwerlich in Frage.

Am schwersten wiegt die Eliminierung der historischen Verhandlungen von Weiblichkeit aber mit Blick auf Tosca. Denn diese stürzt sich gerade nicht in glühender Hoffnung auf die Wiedervereinigung mit ihrem Geliebten von der Engelsburg, sondern zitiert mit den Worten »O Scarpia, avanti a dio« den von ihr ermordeten politischen Widersacher zum jüngsten Gericht. Sie stirbt als Republikanerin. Es ist natürlich möglich, das Vissi d’arte aus dem Revolutionsdrama im Umfeld der napoleonischen Kriege herauszulösen, dem es entstammt, und zum Soundtrack einer multimedialen Meditation über Schönheit, Weiblichkeit und Tod zu degradieren. Abramovićs Produktion kann sich aber nur deshalb als feministische Aneignung des vermeintlich konservativen Operngenres gebärden, weil sie die Aushandlungen von Weiblichkeit in dem angeeigneten Korpus ignoriert. Im Falle der Tosca tritt dabei zynischer Weise die weibliche Protagonistin nicht länger als politische Akteurin in Erscheinung.

Mit Sicherheit würde sich Bronfen gegen die Reduktion von Kunst auf ein feministisches Identifikationsangebot verwahren, zumal anno 1993, als die Implikationen des massiven Plausibilitätsgewinns dieses Diskurses noch völlig unabsehbar waren. Die folgenden Sätze leiten ihre Monografie ein:

Das direkt Sichtbare […] steht nicht nur für sich selbst, sondern es steht auch für etwas anderes, gerät damit aber gleichzeitig aus dem Blickfeld. Denn sobald eine ästhetische Darstellung dem Betrachter eine tropische, d. h. sinnbildliche Deutung abverlangt, ist sie für ihn als Wirkliches nur noch mit Mühe sichtbar. Möglicherweise sieht er das Wirkliche, während er sich auf die verborgene, die übertragene Bedeutung konzentriert, gar nicht mehr. Das ästhetische Substitut ersetzt das buchstäblich Dargestellte tatsächlich. Das Vorstellungsmuster wird zur Wirklichkeit. Entstellungen sind die Folge.[12]

Gemeint ist damit die weibliche Leiche. Dass sich die Passage im Jahr 2022 ebenso gut auf den von Abramović in die Oper projizierten Zusammenhang von Weiblichkeit, Tod und Ästhetik beziehen lässt, darf zu denken geben. Feministische Kritik ist hier selbst das zur Wirklichkeit gewordene Vorstellungsmuster, das sich – im Beisein eines Massenpublikums – zum Substitut der Oper als musikalischem Genre erhebt.

Der Kultur- und Musikwissenschaftler Andreas Lipowsky verfolgt am ZfL  sein Dissertationsprojekt »Metadeskription. Zur Geschichte der ethnografischen Beschreibung«.

[1] 7 Deaths of Maria Callas. Ein Opernprojekt von Marina Abramović mit Musik von Marko Nikodijević und Szenen aus Werken von Vincenzo Bellini, Georges Bizet, Gaetano Donizetti, Giacomo Puccini und Giuseppe Verdi. Uraufführung am 1. September 2020 im Nationaltheater München. Meine Bemerkungen beziehen sich auf die Aufführung vom 10. April 2022 an der Deutschen Oper Berlin.

[2] So die im Programmheft nachzulesende Minimaldefinition der Performancekunst, vgl. Benedikt Stampfli: »Marina Abramović im Gespräch«, in: Deutsche Oper Berlin (Hrsg.): 7 Deaths of Maria Callas [Programmheft], Berlin 2022, S. 7–13, hier S. 7.

[3] Susan Sontag: »Against Interpretation«, in: Dies.: Essays of the 1960s & 70s, New York 2013, S. 10–20, hier S. 14.

[4] Ebd., S. 13.

[5] Der von Toscas Sturz von der Engelsburg inspirierte Clip The Leap ist auf der Homepage der Galerie zu sehen.

[6] Der Mitschnitt ist unter anderem 2015 bei Mytho erschienen. Die Passage findet sich in allerdings schlechter Tonqualität auf Youtube (2:17:25).

[7] Jens Malte Fischer: Große Stimmen, Frankfurt a. M. 1993, S. 332.

[8] Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 1.

[9] So der Untertitel ihrer Studie. Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, Deutsch von Thomas Lindquist, München 1996 [1993].

[10] Elisabeth Bronfen: »Diven in der Kunstgeschichte«, in: 7 Deaths of Maria Callas [Anm. 1], S. 20–26, hier S. 22.

[11] Stampfli: »Marina Abramović im Gespräch« [Anm. 1], S. 9.

[12] Bronfen: Nur über ihre Leiche [Anm. 9], S. 10.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Andreas Lipowsky: Performance. Oper. Feminismus. Bemerkungen zu »7 Deaths of Maria Callas« von Marina Abramović, in: ZfL Blog, 26.8.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/08/26/andreas-lipowsky-performance-oper-feminismus-bemerkungen-zu-7-deaths-of-maria-callas-von-marina-abramovic/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220826-01

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