Die Gegenwart wurde in den vergangenen Jahrzehnten so oft diagnostiziert wie nie zuvor. Seit den 1980er Jahren, angefangen bei Ulrich Becks ›Risikogesellschaft‹, häufen sich entsprechende Zuschreibungen:[1] ›Erlebnisgesellschaft‹, ›Informationsgesellschaft‹, ›Postdemokratie‹, ›breite Gegenwart‹, ›Retrotopia‹ und dergleichen mehr. Wie der Begriff und die in ihm angelegte medizinische Semantik schon andeuten, geht mit der Zeitdiagnostik immer eine Kritik an der Gegenwart einher.
Bereits am Ende des 18. Jahrhunderts, als sie noch nicht so genannt, aber in geschichtsphilosophischen Abhandlungen schon praktiziert wurde, fiel die Diagnose der Gegenwart meistens schlecht aus. Von Rousseau über Kant bis hin zu Görres und Fichte wurde die eigene Zeit als Phase der Unordnung, Übergärung und Erschöpfung wahrgenommen – allerdings auch als Grundbedingung für einen Umschwung zum Besseren. Die Zukunft sollte Chaos in Ordnung, Fäulnis in Klarheit und Müdigkeit in Tatkraft transformieren, dessen waren sich die Gegenwartsdeuter der Aufklärung noch sicher. Auch um 1900, als Karl Mannheim den Terminus ›Zeitdiagnostik‹ prägte,[2] ging es darum, die zerrissene, stagnierende Zeit zu tadeln. Äquivalent zum Arzt, der eine Krankheit feststellt, sollte die noch junge Disziplin der Soziologie die Patientin ›Zeit‹ als »unsere gesamte Seins- und Denklage im Querschnitt« auf ihre Fehlstellungen überprüfen.[3] Anders als in der Aufklärung schien der Wandel zum Besseren im Fin de Siècle weniger wahrscheinlich und nur mehr mit radikalen Mitteln erreichbar zu sein, wie die Aufrufe zum Umsturz der Verhältnisse bei Nietzsche oder der Klassischen Avantgarde zeigen.
Die Zeitdiagnostik der Moderne hat also einen Hang zur Totalisierung und Defizitorientierung: Die ›Diagnose‹ war in den vergangenen Jahrhunderten dazu da, die Krankheit der gesamten Gesellschaft festzustellen, um im besten Falle in einem nächsten Schritt Therapiemöglichkeiten vorzuschlagen, auf jeden Fall aber durch die Kritik am Ist-Zustand verborgene Missstände und auch Fehlmedikationen zu entlarven. Diese Form der Kritik ist heute zunehmend in Verruf geraten. So unterzog Bruno Latour den modernen Gestus der kritischen Entlarvung einer grundlegenden Revision. Indem die Gesellschaftstheorie in einem selbstgerechten Herrschaftsmodus die Bedeutsamkeit, die Menschen den Dingen verleihen, entweder als Fetisch oder als physiologischen Zwang abgetan habe, sei sie ihrer sozialen Geltung verlustig gegangen: »Is it so surprising, after all, that with such positions given to the object, the humanities have lost the hearts of their fellow citizens, that they had to retreat year after year, entrenching themselves always further in the narrow barracks left to them by more and more stingy deans? The Zeus of Critique rules absolutely, to be sure, but over a desert.«[4] Für andere Stimmen, vornehmlich aus den Gender, Postcolonial und Queer Studies, ist es an der Zeit, die Kombination aus Verdacht, Selbstvertrauen und Entrüstung, die die Tradition der Kritik mit sich bringt,[5] zugunsten einer stärkeren Involviertheit und Nähe zu den besprochenen Gegenständen abzuschwächen, emotionale Reaktionen zuzulassen und Überforderungen einzugestehen.[6] Nicht nur die der Kritik inhärente Differenz von Subjekt und Objekt, sondern auch der Versuch einer Gesamtansicht muss heute – angesichts der gesteigerten Sensibilität für die gewaltsame Seite von Homogenisierung und Repräsentation – mit starkem Gegenwind rechnen. Wie ist, so kann man fragen, Zeitdiagnostik im ›Zeitalter der Postkritik‹ überhaupt noch möglich?[7]
Dieser Herausforderung stellten sich unlängst die beiden Soziologen Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa mit ihrem Buch Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie?.[8] Ausgehend von der Beobachtung, dass aktuell und ausgelöst von den Krisen der letzten Jahre ein großes öffentliches Bedürfnis nach Gegenwartsdeutung herrsche, die Soziologie aber erstaunlich nachlässig mit ihrer Aufgabe der Zeitkritik umgehe, formulieren Reckwitz und Rosa in einer gemeinsamen Einleitung ihren Anspruch, ein »big picture« zu entwerfen (S. 11). Dazu dient ihnen die Gesellschaftstheorie, die dann auch die Soziologie in ihre angestammte Position als »Krisenwissenschaft« zurückrücken soll (S. 15). Ihrem Vorhaben widmen Reckwitz und Rosa jeder ein großes Kapitel, in dem sie zuerst ihre Theoriebegriffe klären, dann ihre jeweiligen Deutungsansätze vorstellen und im Anschluss die Reichweite ihres Ansatzes reflektieren bzw. – »therapeutisch-transgressiv« – Alternativen zum kritikwürdigen Zustand der Gegenwartsgesellschaft formulieren (S. 224).
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Wie zu erwarten war, schlägt Andreas Reckwitz einen praxeologischen Ansatz der Gesellschaftsanalyse vor. Sozialtheorien müssen demnach verschiedene Ebenen kultureller Praktiken mit einbeziehen, vor allem die Interaktion zwischen Körpern und Artefakten, die Prozesse der Subjektivierung sowie die Wissensordnungen, die den Handlungen der Menschen Sinn verleihen (vgl. S. 53–59). Für Reckwitz sind (Gesellschafts-)Theorien keine in sich geschlossenen Systeme, sondern flexible Werkzeuge, die an ihrer »Inspirationsfähigkeit« gemessen werden können (S. 46). Ohne den Anspruch, mit einer einzigen Theorie systematisch alle Aspekte der konkreten gesellschaftlichen Realität erfassen zu können, plädiert er unter dem Leitgedanken ›Theorie als Werkzeug‹ für die Kombination der flexiblen und wandelbaren Praxistheorie mit anderen Theorien (vgl. S. 49). Eine praxeologische Theorie diene vor allem dazu, im Vergleich mit anderen Gesellschaften grundlegende gesellschaftliche Dynamiken zu erkennen, die sich in Praktiken, Diskursen, Subjektkonzepten und Lebensformen materialisieren bzw. in diesen ausgebildet und verstetigt werden. Die Moderne habe drei dominante Grundmechanismen ausgebildet, mit denen sich ihre Ambivalenzen erklären und ihre Transformationen von der bürgerlichen zur Spätmoderne beobachten ließen: die Öffnung und Schließung von Kontingenz, die Spannung zwischen Allgemeinem und Besonderem und die paradoxe Zeitlichkeit, in der sich Fortschrittsglaube und Verlustangst komplementär zueinander verhalten.
(I) In Anlehnung an seine früheren Schriften bestimmt Reckwitz die bürgerliche Moderne anhand dieser drei Grundmechanismen als das dominante Gesellschaftsmodell des langen 19. Jahrhunderts, das industrielles, epistemologisches und technisches Wachstum mit der Normierung einer bürgerlichen Lebensform verknüpft, die wiederum eine sozialistische und gegenkulturelle Kritik hervorruft. Die Bürokratisierung als »doing generality« korreliere mit der Feier des kreativen Subjekts (»doing singularity«), die sich beispielsweise im Geniekult der modernen Literatur ausdrücke (S. 102 f.). Die Zeit der bürgerlichen Moderne sei insofern paradox strukturiert, als sich der Wert von Innovation und Neuigkeit mit einer beharrlichen Verlustangst paare, die durch das Schwinden der Gemeinschaft, der Religion oder der dörflichen Ordnung ausgelöst werde.
(II) Das auf das bürgerliche Gesellschaftsmodell folgende Modell der Industriemoderne habe seit seiner Emergenz im frühen 20. Jahrhundert mehrere Schübe der Kontingenzöffnung, aber auch der Gleichschaltung hervorgebracht. In der nie dagewesenen »Totalrationalisierung und Mobilisierung« der Gesellschaft drückten sich zugleich der Wunsch nach einzelstaatlicher Souveränität und permanenter Erneuerung aus (S. 106). Der auf medientechnologische Fortschritte reagierende Starkult des 20. Jahrhunderts habe einen Ausweg aus der massenkulturellen Konsumästhetik geboten. Und schließlich sei an Gegenkulturen wie der Klassischen Avantgarde am besten abzulesen, wie sich Zeitkritik und ‑emphase wechselseitig befruchteten (vgl. S. 107 f.).
(III) In der Spätmoderne, die sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts aus ihren Vorläufermodellen entwickelt habe, sieht Reckwitz eine nochmalige Öffnung der Kreativitäts- und Emotionskultur, die mit der ebenfalls gesteigerten Gleichschaltung im kapitalistischen Wettbewerb in einem Spannungsverhältnis stehe. Insgesamt herrscht im spätmodernen Gesellschaftsmodell nach Reckwitz eine Logik der Komplementarität: Die kreative Selbstentfaltung wird zum kollektiven Zwang; die Bildung einer singulären oder kollektiven politischen Identität wird zum Mainstream (vgl. S. 114–117). Die Zeitlichkeit der Spätmoderne zehrt einerseits von den utopischen Zukunftsversprechungen der Digitalisierung, ist angesichts der drohenden Klimakatastrophe andererseits aber auch von einem Zukunftsverlust geprägt. In einem Unterkapitel bespricht Reckwitz die »Krisenmomente der Spätmoderne« als Verlängerung der modernen »Dauerkrise« (S. 119), er bemerkt jedoch auch, wie sich die Krisenkonstellationen in den letzten Jahrzehnten verdichtet hätten: »Verlusterfahrungen werden in der Gegenwart gleichsam selbst zu einem identitätsstiftenden Element, was dem Fortschrittsnarrativ der Moderne […] eklatant widerspricht.« (S. 128)
Um die Krisen der Spätmoderne zu erklären, sucht Hartmut Rosa im zweiten Teil des gemeinsamen Buches nach dem »Best Account« (S. 165) der Gesellschaftstheorie. Er findet ihn in der Zusammenschau von Sozialformationen und Antriebsenergien. Strukturelle und kulturelle Dynamiken, die Perspektiven der dritten und ersten Person, müssten in einer gesellschaftstheoretischen Metaperspektive immer zusammenwirken, denn nur so seien die Entwicklungen, Paradoxien und Krisen der modernen Formation angemessen beschreibbar (vgl. S. 174 f.). Auch Rosa knüpft an frühere Schriften an und bezieht die Konzepte ›Beschleunigung‹ und ›Resonanz‹ in seine Argumentation mit ein. Reckwitz nicht unähnlich identifiziert er makroepochale Dynamiken der Moderne, wenn er die »dynamische Stabilisierung« als Grundbewegung moderner Gesellschaften vorschlägt (vgl. S. 179). Demnach seien Gesellschaften seit dem späten 18. Jahrhundert darauf verwiesen, sich durch Fortschritt und Innovation permanent zu verbessern, um ihren Status quo zu wahren. Die fortwährende Steigerung sei keine Reaktion auf äußeren Druck, sondern »die endogene Systemlogik selbst« (S. 187). Damit diese gesamtgesellschaftliche Optimierung überhaupt umgesetzt werden könne, bedürfe die moderne Sozialformation bestimmter Antriebsenergien. Nach Rosa vollzieht das moderne Subjekt die permanente Leistungssteigerung, weil es – im Negativen – Angst vor dem Abstieg und dem Überwundenwerden verspürt und – im Positiven – das Begehren nach einer größeren individuellen Reichweite (vgl. S. 191–200).
Die Kosten dieser Steigerungsdynamik bestünden erstens in der potenziellen Überlastung der Systeme, wobei hier Institutionen und Individuen gleichermaßen betroffen seien. Zweitens mache sich früher oder später eine auf die stetige Akkumulation folgende soziale Ungleichheit breit, die zu einer verminderten Zustimmung unter den Subjekten des Fortschritts führe (vgl. S. 204 f.). Und drittens werde die so schmerzlich begehrte ›Weltreichweite‹ mit Ohnmacht und Entfremdung bezahlt, die sich einstellen, wenn moderne Allmachtsfantasien auf die Porosität von Natur und Politik oder auf die Unkontrollierbarkeit technologischer Errungenschaften wie der Atomkraft prallen (vgl. S. 215–220). Bis hierhin liest sich diese Klassifikation der modernen Entwicklungsdynamik wie eine weitere Modernethese, die noch nichts Spezifisches über die Konstellationen der Gegenwart verrät. In Übereinstimmung mit seinem Kollegen beobachtet Hartmut Rosa nun allerdings in der Spätmoderne eine ansteigende Verdichtung struktureller und kultureller Krisen: Die Finanzkrise, die Krise der Demokratie, der Ökologie und der psychischen Gesundheit (Stichwort: Burnout) zeigen, dass die Spätmoderne sukzessive ausbrennt. Sein abschließendes Kapitel widmet er dann auch, in Übereinstimmung mit seinen früheren Erkenntnissen, der Resonanz als einem Modus der Therapie.
Für die strukturelle Dimension schlägt Rosa eine Mentalität des Postwachstums vor: Mit der Erneuerung der Produktionsverhältnisse und der Umpolung der ökonomischen Aufmerksamkeit – von den Konsument:innen auf die Produzent:innen – könne Weltentfremdung bekämpft werden. Hinzukommen müsse dann nur noch die Minderung der Angst als negativer Antriebsenergie des modernen Subjekts durch Modelle wie das bedingungslose Grundeinkommen und die Umwertung der positiven Antriebsenergie, die von Verfügbarmachung auf Resonanz gestellt werden solle. Resonanz anzustreben bedeute dann nämlich, seine Energien auf einen Zustand zwischen aktiv und passiv zu richten, auf einen Zustand der Relationalität mit der Welt und ihren Dingen, der echte und tiefgreifende Erfahrungen zulasse. Mit Rekurs auf Maurice Merleau-Ponty und Bruno Latour bedient sich Rosa der Resonanz zur Plausibilisierung des Unverfügbaren als einer Art post-spätmoderner Utopie. Diese setze »voraus, dass das Gegenüber als Differentes erfahren und akzeptiert wird, und in der Begegnung mit diesem Differenten liegen unaufhebbar auch Spannung und Irritation; in der Berührung liegt das Wagnis des Verletzens und Verletztwerdens, und in der Transformation liegt auch Gefahr: Resonanz ist niemals risikofrei« (S. 246).
Bringt man Rosas Worte in ein Verhältnis zur Performanz seiner Aussagen, vergleicht man also Semantik und Argumentationsstruktur, könnte man stutzig werden: Rosa vertritt in seiner gesamten Argumentation die typische Haltung der modernen Zeitdiagnostik, die im selben Kontext entstand wie die Geschichtsphilosophie und die Kulturkritik[9] und die notwendigerweise von einer Distanz zwischen urteilendem Subjekt und der ›Zeit‹ als Objekt der Beurteilung ausgeht.[10] Seine Blickposition macht er auch mehrfach transparent, etwa wenn er kritikwürdige Zustände, die »Pathologien« der Zeit und das »Leiden der Subjekte« als Ausgangspunkt seiner »Irritation« benennt, die ihn zu »Diagnose« und »Therapie« veranlassen (S. 177 f.). Trotz der problematischen Implikationen sei die Haltung des Diagnostikers notwendig, um den »Best Account« der Gesellschaftsanalyse leisten zu können.
Diese Haltung verbindet er nun jedoch mit dem Sprechmodus der aktuellen Theorieströmungen, die eine Überwindung der modernen Subjekt-Objekt-Differenz und eine Dezentrierung des kritischen Individuums anstreben. Fest verankert in der Tradition der modernen Soziologie, die ja die Zeitdiagnostik als kritische Analyse der gesellschaftlichen Totalität sowie als Entlarvung abzulehnender Zeittendenzen fasste, plädiert Rosa für die Relationalität allen Seins, in der seine beanspruchte souveräne Sprechposition überhaupt nicht eingenommen werden könnte. In anderen Worten: Mit der Referenz auf Latour und die Semantik des ontological turns[11] verstrickt sich Hartmut Rosa in einen performativen Widerspruch, wenn er genau die Prämissen der Kritik umsetzt, gegen die sich Latour so emphatisch zur Wehr setzt.[12]
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Wie lässt sich dieser performative Widerspruch erklären? Meine These lautet, dass er auf eine tiefe gegenwärtige Krise der Zeitdiagnostik verweist. Der Versuch, einen Modus des Urteilens, der auf einer subjektiven Gesamtsicht sowie auf Distanz und Abwertung des Beurteilten aufbaut, in eine Zeit zu integrieren, in der intensiv über Alternativen zum Hochmut, Zynismus und Fatalismus akademischer Kritik diskutiert wird,[13] hat notgedrungen ein Legitimationsproblem. In einer Abwandlung des Böckenförde-Diktums könnte man sagen: Die gegenwärtige Zeitdiagnostik lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht mehr gutheißen kann.
Dass Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa über die aktuellen Revisionen der Kritik gut informiert sind, erklärt ihre stellenweise etwas zögerliche Kombination von Zeitdiagnostik und Postkritik, etwa dort, wo Reckwitz die Kritik an der Kritik mit seinem Interesse für die kritisierten Gegenstände entkräften will. Latours Einwand, statt einer kritischen eine Haltung der Wertschätzung für die ›Dinge von Belang‹ zu kultivieren, begegnet Reckwitz mit der Versicherung, sich seinen Objekten durchaus »mit einer anhaltenden positiven Faszination« zu nähern (S. 141). Mit Bezug auf seine Untersuchungen des spätmodernen Kreativitätskults räumt er ein: »Die kritische Sorge um die Verabsolutierung der Norm der Kreativität geht vielmehr Hand in Hand mit einem prinzipiellen Verständnis für den Wert des Schöpferisch-Originellen in der Moderne.« (Ebd.)
Doch sind »kritische Sorge« und »prinzipielle[s] Verständnis« tatsächlich Haltungen der Kritik, die einer postkritischen Revision standhalten würden? Latour geht es in seiner Kritik an der Kritik schließlich nicht nur um eine Wertschätzung der Gegenstände, sondern um die fundamentale Einsicht in die Relation, die zwischen dem vermeintlich souveränen Kritiker und dem Kritisierten besteht, sowie um die Bedeutsamkeit der kritisierten Gegenstände für die Lebensformen der Menschen um sie herum.[14] Mit seinem im Schlussgespräch geäußerten »Verdacht«, »dass die spätmoderne Kultur zu stark auf Affizierung setzt«, und seinem Plädoyer »für Abkühlung und Entemotionalisierung« verortet sich Reckwitz letztlich doch sehr eindeutig in einer präpostkritischen Tradition, die mit Distanz und Ratio genuine Modi der modernen Zeitdiagnostik reaktiviert (S. 305).
Nach der Lektüre des Buches, inklusive des abschließenden Gesprächs, in dem Reckwitz und Rosa über ihre soziologischen Ziehväter Weber und Durkheim, über die Aktualität der Kritischen Theorie und über die Relevanz Foucaults und Bourdieus sinnieren, drängt sich dann doch der Eindruck auf, dass sich die hier vertretene Gesellschaftstheorie postkritische Argumente anverwandelt, die sich schlichtweg nicht mit ihrem Ansatz vertragen. Die Postkritik ist sicherlich nicht das Maß aller Dinge und Reckwitz’ Postulat einer stärkeren analytischen Distanz in unserer Gegenwart durchaus zu bedenken. Hinzu kommt, dass Vertreter:innen der Postkritik immer wieder betonen, die Kritik nicht bekämpfen, sondern erneuern und damit sogar stärken zu wollen.[15] Was allerdings nicht funktioniert, ist die Einverleibung postkritischer Kritik an der Haltung des Diagnostikers zugunsten seiner Zeitdiagnose, die sich ansonsten jeder postkritischen Transformation verwehrt. Wie die Steine im Bauch des Wolfs klappern die einverleibten Debatten der Gegenwart in einer zeitdiagnostischen Argumentation, die selbst fest im 20. Jahrhundert verankert ist.
Die Literaturwissenschaftlerin Eva Stubenrauch arbeitet am ZfL mit dem Projekt »Die Einverleibung der Innovation. Theorie- und Literaturwissenschaftsgeschichte eines Strukturmoments (1870/1970)«.
[1] Vgl. Manfred Prisching: »Die Etikettengesellschaft«, in: ders. (Hg.): Modelle der Gegenwartsgesellschaft, Wien 2003, S. 13–32.
[2] Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, Bonn 1929, S. 49.
[3] Ebd.
[4] Bruno Latour: »Why Has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern«, in: Critical Inquiry 30 (2004), S. 225–248, hier S. 239.
[5] Vgl. Rita Felski: The Limits of Critique, Chicago/London 2015, S. 188.
[6] Vgl. ebd., S. 192.
[7] Siehe dazu Elizabeth S. Anker/Rita Felski: »Introduction«, in: dies. (Hg.): Critique and Postcritique, Durham/London 2017, S. 1–28.
[8] Andreas Reckwitz/Hartmut Rosa: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie?, Berlin 2021. Alle Zitate hieraus werden direkt im Text unter Angabe der Seitenzahl nachgewiesen.
[9] Vgl. Klaus Lichtblau: Zwischen Klassik und Moderne. Die Modernität der klassischen deutschen Soziologie, Wiesbaden 2017, S. 57–79.
[10] Vgl. Alf Christophersen: »Zeitgenossenschaft – ein geistreiches Phänomen. Überlegungen zu Badiou, Agamben und Sloterdijk«, in: Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hg.): Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 2014, S. 175–194.
[11] Vgl. Caroline Arni: »Nach der Kultur. Anthropologische Potentiale für eine rekursive Geschichtsschreibung«, in: Historische Anthropologie 26.2 (2018), S. 200–223, hier insb. S. 206.
[12] Vgl. Latour: »Why has Critique Run out of Steam?« (Anm. 4).
[13] Vgl. Anker/Felski: »Introduction« (Anm. 7), S. 12 .
[14] Vgl. Latour: »Why has Critique Run out of Steam?« (Anm. 4), S. 243.
[15] Vgl. Felski: The Limits of Critique (Anm. 5), S. 194.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Stubenrauch: Die Krise der Zeitdiagnostik. Reckwitz, Rosa und die Gesellschaftstheorie der Gegenwart, in: ZfL Blog, 20.9.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/09/20/eva-stubenrauch-die-krise-der-zeitdiagnostik-reckwitz-rosa-und-die-gesellschaftstheorie-der-gegenwart/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220920-01