Tatjana Petzer: PARADOXIEN DER UNSTERBLICHKEIT

Im heutigen Russland knüpfen gesellschaftliche Akteure wieder offen an die sowjetische Politik des unsterblichen Kollektivs an. So erinnern neuerdings regionale Gedenkmärsche unter dem Banner des Unsterblichen Regiments (russ. Bessmertnyj polk) an Heldentum und Opfertod; Schlagworte, die im Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland kultiviert wurden, um das Überleben des Volkes gegen die nationalsozialistische Aggression zu sichern. Anstelle der roten Fahnen und Stalin-Porträts, die 1945 am Tag des Sieges die Militärparade flankierten, tragen die heutigen Teilnehmer:innen, darunter auch Staatschef Putin und hochrangige Politiker:innen, Fotos von Familienmitgliedern mit sich, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben. Das Vermächtnis der Kriegsgeneration wirkt aber nicht nur in Russland, sondern auch in anderen postsowjetischen Staaten identitätsstiftend fort, darunter in der Ukraine, wo ungeachtet einer aufgrund der Nazi-Kollaboration hiesiger Nationalisten gespaltenen Erinnerungskultur die transgenerationale Weitergabe der weltanschaulich konstruierten Unsterblichkeit auf fruchtbaren Boden fällt.

Dabei muss das Postulat sozialer Unsterblichkeit in Anbetracht einer schon seit Langem bestehenden transhumanistischen Bewegung, die ihre Bestrebungen auf die physische Unsterblichkeit der Menschheit und deren Vervollkommnung richtet, eigentlich antiquiert erscheinen. Denn bereits um 1900 versuchten russische  Wissenschaftler, ›Unsterblichkeitstechniken‹ der Natur (etwa die Kryobiose) auf den menschlichen Organismus zu übertragen und Methoden zur Lebensverlängerung, Verjüngung oder gar Überwindung des biologischen Todes zu entwickeln. Zu Zeiten des Kalten Krieges wies dann die Biokybernetik in ganz Osteuropa Wege zur Lebensoptimierung mit naturwissenschaftlich-technischen Mitteln. Vor diesem Hintergrund legten etwa der polnische Science-Fiction-Autor Stanisław Lem, der bulgarische Physiker Tanju Kolew und der belarussische Wissenschaftsphilosoph Alexej Manejew theoretische Überlegungen zur Bewusstseinsmigration vor, die mit Rekurs auf die KI-Forschung und die Quantenmechanik Möglichkeiten persönlicher Unsterblichkeit in Aussicht stellten. Und schließlich gibt es seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert in Russland Bemühungen um die Etablierung einer Immortologie (russ. immortologija) – einer Disziplin, die wissenschaftliche Forschungen zur Immortalität in Medizin, Biologie, Neurokybernetik, Informatik und Design mit dem Unsterblichkeitsdenken seit der Moderne verknüpft.

Das Streben nach Unsterblichkeit durchzieht die gesamte Geschichte der Menschheit, doch in Zeiten des beschleunigten gesellschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Wandels zeichnet es sich durch eine gesteigerte Intensität aus. Immer wieder wurde das Verständnis von Immortalität hinterfragt (physische vs. metaphysische Unsterblichkeit, todloses Leben vs. Auferweckung nach dem Tod, Langlebigkeit vs. ewiges Leben usw.), wurden ihre Spielarten neu definiert. Die Entwicklung der modernen Lebenswissenschaften in der westlichen Welt seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, die Erfolge der Immunologie, Juvenologie und Gerontologie eingeschlossen, sind hinlänglich bekannt. Auch dem radikalen Utopismus der russisch-sowjetischen Avantgarde wurde bereits viel Aufmerksamkeit zuteil. Dass der Unsterblichkeitsdiskurs in den USA von einer Reihe von Denkern angestoßen wurde, die wie Norbert Wiener, Mathematiker und Begründer der Kybernetik, der Biochemiker und Science-Fiction-Autor Isaac Asimov oder der Physiker und Kryonik-Pionier Robert Ettinger allesamt einen russisch-jüdischen Migrationshintergrund haben, hat hingegen in der Forschung kaum Beachtung gefunden. Welche Rolle religionskulturelle Faktoren beziehungsweise interkulturelle Wissensübertragungen in diesem Diskurs spielen, ist weitgehend unerforscht.

Allgemein ist festzustellen, dass bisherige historische Darstellungen die Einbeziehung des slawischen Osteuropas vermissen lassen. Gibt es Parallelen zwischen den bedürfnislosen, arbeitsamen Unsterblichen, die gemäß einem fiktionalen Entwurf des in den 1920er Jahren als Ingenieur für Elektrifizierung tätigen Schriftstellers Andrej Platonow in einem Labor für Anthropotechnik dank einer neuartigen Elektrosphäre hervorgebracht werden, und den Robotern oder dem Absolutum bei Karel Čapek? Ist angesichts der möglichen Existenz unsterblicher kybernetischer Organismen die anthropologische Neuerzählung der Schöpfungsgeschichte überzeugend, die Borislav Pekić 1980 vornahm, wohlgemerkt mit einem weiblichen Cyborg als Protagonistin, die sich biblisch als »Ich bin, die ich bin« zu erkennen gibt? Spiegeln programmatische Selbstentwürfe, die sich auf sogenannte höhere, esoterisch anmutende mathematisch-naturwissenschaftliche Konzepte stützen, regionale Formen wissenschaftlicher Religiosität oder den Versuch, die globale Logik des materialistischen Daseins zu durchbrechen, wider? All diese Fragen harren noch einer Antwort.

Die 2021 von mir bei Matthes & Seitz Berlin herausgegebene Anthologie Unsterblichkeit. Slawische Variationen tritt dem Ungleichgewicht in der Rezeption entgegen und möchte für die vielfältigen Unsterblichkeitskonzepte in Ost-, Mittel- und Südosteuropa sowie für die parallel zu offiziellen, politischen Diskursen geführten intellektuellen und künstlerischen Debatten sensibilisieren. Wenn Osten und Westen in Hinblick auf das Streben nach individueller vs. kollektiver Unsterblichkeit divergieren, so gibt es doch auch Konvergenzen. Darunter fallen beispielsweise Paradoxien des Unsterblichkeitsstrebens. Eine davon offenbart sich in einer Anekdote des Jugoslawen Samir Adanalić aus dem Jahr 1980 mit dem Titel Die Unsterblichkeitsmaschine, die Eingang in die Anthologie fand:

London, 2055. Der im gesamten Sonnensystem berühmte Wissenschaftler Jack Lenkson eröffnete seine Vorlesung. Er hielt sie über seine neueste Erfindung.
»Meine Herren, ich habe Sie heute eingeladen, Ihnen mein Lebenswerk zu präsentieren. Es ist eine Vorrichtung, mit deren Hilfe die Unsterblichkeit erreicht werden kann.«
Im Saal kam Unruhe auf.
»Wundern Sie sich nicht. In wenigen Augenblicken werden Sie sich überzeugen, dass ich recht habe. Meine Maschine macht nicht nur Menschen unsterblich, sondern auch alle Arten von Tieren und Insekten. Diesem Umstand verdankt es sich, dass ich Ihnen jetzt eine Insektenart vorführen kann, die eigentlich nur ganze drei Tage lebt. Ich habe genau berechnet, dass dieses Insekt noch etwa eine halbe Stunde zu leben hätte. Jetzt werde ich es in diese Blackbox legen und die Maschine einschalten. Genau so. Nun nehme ich es heraus und lege es in dieses Glaskästchen. Dann sehen wir, ob es nun in einer halben Stunde sterben wird. In der Zwischenzeit werde ich Ihnen darlegen, wie es mir gelungen ist, diese Maschine zu erschaffen.«
Nach einer halben und auch nach einer ganzen Stunde war das Insekt noch am Leben. Applaus brach aus. Der renommierte Gelehrte war überglücklich und sagte am Ende seiner Präsentation: »Jetzt, da ich mein Lebenswerk vollendet habe, kann ich ohne Bedauern sterben!«

Es mag abwegig erscheinen, dass ein Experiment mit Insekten in der Zukunft als Beweis für die Wirksamkeit einer Apparatur gilt, die bei komplexeren Organismen zum Einsatz kommen soll. Lenksons Maschine gleicht einem Experimentierkasten für Wundergläubige. Indem die entscheidende Transformation in einer Blackbox erfolgt, bleiben nicht nur das exakte Verfahren im Dunkeln und die für die Menschheit folgenschwere Erfindung vor unerlaubtem Zugriff geschützt. Zudem ist das Publikum Teil einer psychologischen Versuchsanordnung, mit der sein Glaube an wissenschaftliche Autorität und an die Maschine auf die Probe gestellt wird; eine Probe, die das Publikum besteht. Der Applaus bestätigt den Technikoptimismus und die Unsterblichkeitsgewissheit der Wissenschaftscommunity, die, ungeachtet der Tragweite der Erfindung, weder Lenksons Berechnung noch seine Behauptung hinterfragt. Warum ein Wissenschaftler, der zumindest experimentell den natürlichen Kreislauf von Geburt und Sterben überwunden zu haben meint, paradoxerweise den (physischen) Tod bejaht, bleibt hingegen offen.

Eine mögliche Interpretation wäre, dass der Lebenszweck erfüllt und damit das Nachleben, sprich: unsterblicher Ruhm, gesichert ist. Die ewige Fortexistenz ohne Grund und Ziel erscheint demgegenüber beängstigend und in der ständigen Wiederholung zu mühevoll. Der russische Mediziner, Monist und Schriftsteller Alexander Bogdanow hatte in einer Zukunftserzählung von 1912 ein anderes Szenario skizziert: Der Erfinder eines Unsterblichkeitsserums, das der Menschheit Immortalität garantiere, inszeniert just am Tag des tausendjährigen Jubiläums des Serums seine Selbstauslöschung mittels Selbstverbrennung im Kosmos.[1] Zur gleichen Zeit argumentierte ganz ähnlich auch der Immunologe Ilja Metschnikow, der nicht die Unsterblichkeit, sondern eine Lebensverlängerung anvisierte, dass sich nach einhundertfünfzig Jahren eine Lebenssättigung einstellen und der reife, vom langen Leben erfüllte oder überdrüssige Mensch dann ohne Angst aus dem Leben scheiden würde. Ist der Todestrieb letzten Endes stärker als der Wunsch nach Unsterblichkeit?

Forscher und Ingenieure, die sich gegenwärtig mit dem Unsterblichkeitsproblem befassen, setzen weniger auf die Verlängerung der biologischen Lebensdauer, als vielmehr auf die Befreiung des Körpers von der Sterblichkeit durch den Übergang in ein postbiologisches Leben, das heißt auf eine Transformation des menschlichen Organismus in kybernetische und virtuelle, nichtkörperliche und entmaterialisierte Existenzformen. Als Teil der globalen Bewegung des Trans- und Posthumanismus begründete der russische Medienmagnat und Milliardär Dmitri Izkow 2011 unter Beteiligung von Experten für neuronale Schnittstellen, Robotik, künstliche Organe und Systeme die Initiative Russia 2045, deren Name sich auf das Konzept der technologischen Singularität bezieht. Gemeint ist damit ein erwarteter Qualitätssprung der Technosphäre, den der US-amerikanische Google-Ingenieur Raymond Kurzweil für das Jahr 2045 vorausgesagt hatte; zu diesem Zeitpunkt sollen komplexe intelligente Systeme autonom und selbstorganisierend sein. Auch wenn Izkow bereits eine Roboter-Kopie von sich konstruieren ließ und nun an der Interfacetechnik gefeilt wird, die eine Übertragung seines Bewusstseins in diesen künstlichen Körper ermöglichen soll, zielt sein Zukunftsprogramm weniger auf seine persönliche Unsterblichkeit als vielmehr auf die der Allgemeinheit. Die Rhetorik seiner auf der Webseite 2045.com veröffentlichten Manifeste, in denen unter anderem die Schaffung einer Neomenschheit (russ. neočelovečestvo) postuliert wird, erinnert dabei an jene Vertreter der russisch-sowjetischen Avantgarde, die den revolutionären Aufbruch in eine Zukunftsgesellschaft unterstützten, sprich: das allseitige Projekt einer Neuen Menschheit (russ. novoe čelovečestvo) mittels der Kunst der Proklamation und einer neuen Transformationsästhetik mitgestalteten.[2] Politische Relevanz erhielt Izkows Initiative zusätzlich durch ein Spin-off: die 2012 gegründete Partei Evolution 2045. Voller Ehrgeiz und Ambition wurde der russischen Regierung angeboten, die Idee des evolutionären Transhumanismus zur neuen Ideologie des postsowjetischen Staates zu machen. Damit würde Russland die sinnentleerte postsowjetische Konsumgesellschaft überwinden und als herausragende wissenschaftliche und strategische Denkfabrik – nach dem Vorbild des US-amerikanischen Silicon Valley – die globalen Geschicke mitgestalten können.

Um dieses Ziel zu erreichen, greift die russische Regierung gegenwärtig offensichtlich zu anderen Mitteln. Doch was wäre möglicherweise geschehen, wenn die sowjetischen Machthaber sich die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sukzessive erarbeiteten, (bio-)kybernetischen, KI- und digitalen Lösungen für das Unsterblichkeitsproblem angeeignet hätten? Der russische Kultautor Wiktor Pelewin hat dazu in seinem jüngsten Roman mit dem englischen Titel Transhumanism Inc.[3] ein dystopisches Zukunftsszenario entwickelt. Darin wird Russland, nun in »Guter Staat« umbenannt, bereits seit siebenhundert Jahren von der Partei der »Sozialistischen Eurasischen Revolutionären Demokratischen Wächter (Bolschewiki)« regiert. Das ist möglich, weil die Gehirne der Bolschewiki in der Bank des titelgebenden Unternehmens, Transhumanism Inc., aufbewahrt und künstlich am Leben erhalten werden.[4] Außerdem lagern dort die Köpfe von Oligarchen, die es sich zu Lebzeiten leisten konnten, ihre Gehirne von den alternden Körpern zu trennen und die Miete für ihr postkorporales Leben im unterirdischen Bankfach zu begleichen. Die Vorteile einer Teilhabe an der Technosphäre liegen auf der Hand. Die Vernetzung greift nicht nur innerhalb der virtuellen Sphäre unbegrenzter simulierter Identitäten, sondern bezieht auch die Menschen der Biosphäre mit ein. Letzteres ermöglichen Gehirnchips mit individuellen Codes (an derartigen Schnittstellen arbeitet im wahren Leben etwa die Neuralink Corporation unter prominenter Beteiligung von Tesla-Chef Elon Musk). Ihr Implantat ist für alle verpflichtend und erlaubt eine umfängliche Steuerung und Manipulation der Bevölkerung. In dem von Pelewin imaginierten primitiven, konsum-technologischen Kapitalozän der Zukunft ist die Bevölkerung darauf konditioniert, bedingungslos und jederzeit für das Privileg der Unsterblichkeit zu sterben bereit zu sein, so paradox dies auch sein mag.

Die Slawistin Tatjana Petzer arbeitete bis 2021 als Dilthey-Fellow der VolkswagenStiftung mit dem von ihr geleiteten Projekt »Wissensgeschichte der Synergie« am ZfL.

[1] Aleksandr A. Bogdanov: »Prazdnik bessmertija« (Tag der Unsterblichkeit), in: Letučie al’manachi 14 (1914), S. 53–70 (Erstveröffentlichung 1912 unter dem Titel »Bessmertnyj Fride. Fantastičeskij rasskaz« [Der Unsterbliche Fride. Eine phantastische Erzählung]). Vgl. dazu Interjekte 12 (2018) = Tatjana Petzer (Hg.): Unsterblichkeit. Geschichte und Zukunft des Homo immortalis, passim.

[2] Vgl. Boris Groys/Michael Hagemeister (Hg.): Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2005.

[3] Viktor Pelevin: Transhumanism Inc., Moskau 2021.

[4] Das ist eine Anspielung auf das Pantheon der konservierten und in Vitrinen ausgestellten Gehirne herausragender verstorbener Persönlichkeiten der UdSSR, das der Psychoneurologe Wladimir Bechterew 1927 vorschlug.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Tatjana Petzer: Paradoxien der Unsterblichkeit, in: ZfL Blog, 4.10.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/10/04/tatjana-petzer-paradoxien-der-unsterblichkeit/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20221004-01

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