Von den vielen Vorwürfen an die Adresse der Geisteswissenschaften trifft derjenige ins Herz unserer Fächer, der behauptet, dass wir das Streiten verlernt haben und diskussionsmüde den Konsens suchen. Wenn die Diagnose wirklich zutreffen sollte, dass wir uns nicht mehr streiten können oder wollen, dann wäre das in der Tat ein Armutszeugnis. Denn wir sind es doch, die sich Kritik und Dissens auf die Fahnen geschrieben haben. Deshalb und weil es in unseren Kontexten zwar gute und weniger gute Argumente gibt, aber keinen letzten Beweis, ist der Streit so etwas wie unser Lebenselixier. „Eva Geulen: STREIT UND SPIEL“ weiterlesen
Falko Schmieder: MEHR DISSONANZ WAGEN!
Eine Rezension zu Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Es kommt selten vor, dass eine soziologische Habilitationsschrift zum Bestseller wird. Hartmut Rosa ist das 2005 mit seinem Buch zur Beschleunigung gelungen. Getragen vom Erfolg hat der Autor nachgelegt. Mit dem schnell zum Label gewordenen Begriff der Beschleunigung im Titel erschienen zwei weitere Bücher, in denen er seine Kritik an der kapitalistischen Steigerungsmoderne vertieft und popularisiert hat. Rosa führt damit die kritische Theorie vom ätherischen Abweg der Verständigungstheorie wieder auf ihr ursprüngliches Kernprojekt der Auseinandersetzung mit den Grundstrukturen und Triebkräften der modernen Gesellschaft zurück. In zeitgemäßen Analysen erneuert er die gern verdrängte Einsicht, dass die entfesselte, einer blinden Wachstumslogik folgende Dynamik alles andere als zukunftsfähig ist.
Nach drei Monographien zu Pathologien des Kapitalismus macht sich Rosa nun in seinem neuen Buch daran, seiner Kritik ein normatives Fundament zu verschaffen. „Falko Schmieder: MEHR DISSONANZ WAGEN!“ weiterlesen
Ulrich Plass: REALISMUS FÜR DAS 21. JAHRHUNDERT (II): Serielle Gewalt in Roberto Bolaños Roman 2666
„Die Tote erschien auf einer kleinen Brache in der Siedlung Las Flores. Sie trug ein weißes, langärmeliges Hemd und einen gelben, knielangen Rock höherer Konfektionsgröße.“[1]
So beginnt der „Teil von den Verbrechen“ in Roberto Bolaños Roman 2666. Hinter diesen zwei sachlich klingenden Sätzen verbirgt sich eine ambitionierte realistische Poetik. Durch den unbeirrbaren Blick auf eine Serie von horrenden Gewaltverbrechen soll die komplexe Struktur einer transnationalen, spätkapitalistischen Wirklichkeit ans Licht gebracht werden, die sich einer rein gegenständlichen Anschauung entzieht und bestenfalls in Metaphern von Kreisläufen, Transaktionen und Kapitalflüssen (136) vorstellbar ist. Die realistische Leistung des „Teils von den Verbrechen“ besteht nun darin, dass eine Schicht dieser sozio-ökonomischen Wirklichkeit, die in beinahe sofortige Vergessenheit zu fallen droht (688), den Leser_innen immer wieder aufs Neue interessant gemacht wird – und zwar allein durch ihre minimal variierte Wiederholung.
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Natalie Moser: REALISMUS FÜR DAS 21. JAHRHUNDERT (I): Die Wiederkehr der Dorfgeschichte
Aktualität und Relevanz realistischer Schreibverfahren in der Gegenwartsliteratur anhand einer Dorfgeschichte zu veranschaulichen, klingt erst einmal nicht nach einer guten Idee. Gerade die Dorfgeschichten haben der realistischen Prosa des 19. Jahrhunderts den Ruf eingetragen, altbacken, naiv und kitschig zu sein. Schauplatz der Handlungen ist üblicherweise ein bäuerlich-dörfliches Milieu, das detailreich und mit Rückgriff auf Oppositionspaare wie gut vs. böse beschrieben wird. Als formprägend gelten die heute kaum noch bekannten Schwarzwälder Dorfgeschichten Berthold Auerbachs (1843 ff.). Aber die Literaturwissenschaft hat gerade dieses Thema jüngst neu für sich entdeckt.[1]
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Eva Geulen: REALISMUS REVISITED
Während sich unsere Wirklichkeit medial, technologisch und politisch rasant wandelt, macht Realismus wieder von sich reden. In der Philosophie liest man vom spekulativen oder neuen Realismus, Politiker werben um mehr Realismus, in den Sozialwissenschaften beginnt man am Primat des Konstruktivismus zu zweifeln, und auch in der Literatur hat Realismus Konjunktur. Das Semesterthema des ZfL widmet sich der Rückkehr des Realismus und seinen unterschiedlichen Manifestationen. Dabei geht es uns nicht nur um Sichtung und Analyse der aktuellen Realismus-Diskurse, sondern auch um ihre mehr oder weniger latenten Vorgeschichten. In ihnen spielt der künstlerische Realismus seit langem eine besondere Rolle.
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Eva Geulen: Editorial
Das ZfL meldet sich mit einem Interim zurück. Wo die Leserschaft ein weiteres Exemplar der von der Designerin Carolyn Steinbeck stets wunderbar gestalteten Trajekte erwartet haben mag, gibt es im Augenblick nur Nachrichten von einer Baustelle, Neues aus der laufenden Arbeit und beides in entsprechend bescheidener Aufmachung.
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