EIN FORSCHUNGSPROJEKT ZU ERNST JÜNGERS BRIEFARCHIV. Detlev Schöttker im Gespräch

Detlev Schöttker antwortet auf Fragen von Alexander Pschera, Publizist und Vorsitzender der Ernst und Friedrich Georg Jünger Gesellschaft e.V.. Das Interview erschien im April 2017 auf der Webseite der Ernst und Friedrich Jünger Gesellschaft e.V.

Alexander Pschera: Sie haben in den vergangenen Jahren mehrere kleinere Briefwechsel Ernst Jüngers veröffentlicht, darunter mit Gershom Scholem, Dolf Sternberger und dem kommunistischen Pressefotografen Otto Storch. 2010 ist außerdem der von Ihnen und Anja Hübner herausgegebene Band »Autoren schreiben Ernst Jünger« erschienen. Inzwischen leiten Sie ein Forschungsprojekt zu Jüngers Briefnachlass, der seit 1996 im Deutschen Literaturarchiv in Marbach liegt. Können Sie das Projekt kurz skizzieren?

Detlev Schöttker: Ich möchte zunächst einige Fakten mitteilen, da sie nicht bekannt sind: Jünger hat sein Leben lang täglich Briefe bekommen und geschrieben. Wie seine Sekretäre berichtet haben, nahm die Erledigung der Korrespondenz mehrere Stunden pro Tag ein. Darüber hinaus sammelte Jünger die Schreiben in Archivkästen, die in seinem Wohnhaus in Wilflingen heute noch (ohne Inhalt) zu sehen sind. Den Bestand übergab er etwa zwei Jahre vor seinem Tod mit dem gesamten Nachlass an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach (DLA). Es handelt sich um ca. 130.000 Schreiben, davon 90.000 Briefe an den Autor und ca. 40.000 Briefe von ihm (jeweils in Abschriften oder Durchschriften bei Verwendung einer Schreibmaschine). Damit ist Jüngers Briefnachlass vermutlich das größte private Briefarchiv.

Die Schreiben sind im Marbacher Archiv mit den Grundinformationen erfasst worden: Name des Absenders bzw. Empfängers, Datum und Ort. Diese Informationen sind online über die Homepage zugänglich. Die Briefe selbst können vor Ort mit einigen Einschränkungen bei noch lebenden Personen bestellt und eingesehen werden. Außerdem gibt es ein maschinenschriftliches, allerdings nicht vollständig erhaltenes Verzeichnis der Korrespondenten mit ca. 5000 Namen, das Jüngers Sekretär Heinz Ludwig Arnold Mitte der 1960er Jahre erstellt hat; es wurde von Jüngers zweiter Ehefrau Liselotte später handschriftlich ergänzt.

Eine inhaltliche Erfassung der gesamten Korrespondenz (Regesten) wäre nur im Rahmen eines umfassenden Langzeitprojekts möglich; nach Berechnungen eines EDV-Experten am Marbacher Archiv würde man dafür ca. 30 Jahre mit 10 Mitarbeitern benötigen. Da dies in absehbarer Zeit nicht möglich ist, versuche ich, die Besonderheiten des brieflichen Nachlasses im Rahmen einer Monografie darzustellen. Der Arbeitstitel lautet »Korrespondenz und Nachleben – Ernst Jüngers Briefarchiv«. Dafür hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanzielle Mittel für drei Jahre (2015-2018) auf der Basis eines Antrags gewährt.

AP: Welche Ziele verfolgt das Projekt?

DS: Ich beschränke mich nicht auf den Briefbestand allein, sondern bemühe mich um einen Zugang, der poetologisch, literaturhistorisch und kulturtheoretisch ausgerichtet ist. Deshalb ist das Projekt am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin angesiedelt, auch wenn in Marbach das Material liegt.

Ich möchte drei Hauptanliegen der Untersuchung nennen: Erstens stelle ich dar, welche Funktion Briefe für Jünger hatten; zweitens geht es um ihre Rolle in seinen Werken, und drittens sollen die Besonderheiten des Briefarchivs charakterisiert werden.

Dazu lässt sich bisher Folgendes sagen:
– Erstens hat Jünger seit den frühen zwanziger Jahren durch Briefe und Briefwechsel Netzwerke mit Freunden und Weggenossen geschaffen, die zur Verbreitung seiner Schriften und Auffassungen beigetragen haben.
– Zweitens hat er seit Ende der dreißiger Jahre in den Tagebüchern – von den »Strahlungen« bis hin zu »Siebzig verweht« immer wieder auf Briefe zurückgegriffen, um sich als Autor und Weltdeuter in Szene zu setzen. Die brieflichen Aktivitäten waren also nicht nur eine Ergänzung der literarischen Arbeiten, sondern Bestandteil seiner Autorschaft.
– Drittens hat Jünger das Briefarchiv nicht nur für den eigenen Bedarf, sondern auch für die Nachwelt aufgebaut, um Biographen, Editoren und Interpreten mit Material zu versorgen, wie eigene Äußerungen bestätigen. Ich bezeichne Jünger deshalb als Archiv-Autor und sein Briefarchiv als zweites Werk. Nur so ist erklärbar, warum ein Autor täglich derart viel Zeit in das Schreiben, Lesen und Sammeln von Briefen investiert.

AP: Welche Publikationen und Editionen sind zu erwarten?

DS: Es gibt viele Jünger-Forscher, die sich mit einzelnen Briefwechseln oder Briefkomplexen beschäftigen und diese für Studien zu Werk und Biographie nutzen. Über geplante Editionen und Untersuchungen bin ich nicht im Einzelnen informiert. Doch erscheinen inzwischen häufig einschlägige Publikationen, zuletzt u.a. die Briefe von Armin Mohler, Jüngers erstem Sekretär, an den »Chef«. Im Rahmen meines Projekts beschäftige ich mich neben der Untersuchung der genannten Aspekte mit drei Briefwechseln bzw. Briefkomplexen, zu denen ich Editionen vorbereite:

– Briefe ehemaliger Frontsoldaten zu den Kriegsbüchern des Ersten Weltkriegs (es handelt sich um mehrere hundert Schreiben der zwanziger und frühen dreißiger Jahre, auch von Soldaten aus Ländern, die Gegner Deutschlands waren und die Jüngers Bücher aus den frühen Übersetzungen ins Spanische und Englische kannten);

– der Briefwechsel zwischen Ernst und Gretha Jünger (es handelt sich um ca. 2000 Briefe mit einem Schwerpunkt auf dem Zweiten Weltkrieg, die Einblicke in die private Dimension des Krieges geben, von dem die Ehefrau Jüngers durch die Bombardierungen Hannovers und seiner Umgebung stärker betroffen war als der Autor in Paris);

– der Briefwechsel zwischen Jünger und dem Historiker Joseph Wulf, der als polnischer Jude das Konzentrationslager Auschwitz überlebte und zum Begründer der Holocaust-Forschung in Deutschland wurde (er steht beispielhaft für die politischen Debatten zum Nationalsozialismus seit den sechziger Jahren).

AP: Welche weiteren Briefbestände in Jüngers Nachlass sollten bearbeitet werden bzw. von welchen versprechen Sie sich am meisten?

DS: Eine Hierarchisierung bzw. qualitative Bewertung ist nicht möglich, weil niemand in absehbarer Zeit über 130.000 Briefe lesen oder gar beurteilen kann. Nicht selten hat man es hier mit schwierigen Handschriften zu tun, und nicht selten muss man in anderen Archiven arbeiten, um Jüngers eigene Briefe zu lesen, wenn keine Ab- oder Durchschriften von ihm angefertigt wurden. Darüber hinaus tauchen immer wieder kleinere Briefwechsel mit unbekannten oder kaum bekannten Korrespondenten auf, die Aufschlüsse über Jüngers Biographie oder die Entstehung seiner Werke geben. Einzelbriefe können ebenfalls interessant sein, wie die anfangs erwähnte Anthologie »Autoren schreiben Ernst Jünger« zeigt.

Natürlich gibt es auch umfangreiche und sehr bedeutende Briefwechsel, die bisher nicht ediert wurden, darunter die Korrespondenz zwischen Ernst und Friedrich Georg Jünger. Es ist mir aber wichtig zu betonen, dass die kleineren Briefwechsel mit weniger bekannten oder unbekannten Partnern für die Biographie, das Werk und die Zeitgeschichte Jüngers ebenso wichtig sind wie die Korrespondenzen mit prominenten Partnern, die in den letzten zwanzig Jahren publiziert wurden, darunter mit Carl Schmitt, Martin Heidegger, Friedrich Hielscher, Gerhard Nebel und anderen.

AP: Welchen Aufschluss über Jünger und sein Werk geben die noch nicht veröffentlichten Briefbestände? Können Sie unser Jünger-Bild verändern?

DS: Für Editoren, Biographen und Interpreten bietet der Briefnachlass umfassende Möglichkeiten der Recherche, die unsere Kenntnis von Werk und Biographie zweifellos ergänzen und vertiefen werden. Immer wieder beeindruckend ist, wie unterschiedlich die Personen waren, die Jünger geschrieben haben: einfache Leser mit Fragen zu Büchern, junge Schriftsteller auf der Suche nach Publikationsmöglichkeiten, Redakteure von Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunkanstalten mit der Bitte um Beiträge, Publizisten und Historiker mit der Bitte um Auskünfte zu Personen oder Ereignissen und Aktivisten linker und rechter Bewegungen mit der Bitte um Unterstützung. Die meisten bekamen eine Antwort. Briefe, auf die Jünger nicht reagierte oder die er wegwarf, kennt man freilich nicht. Und einige Korrespondenzen mit prominenten Partnern, darunter Ernst Niekisch und Erich Mühsam, hat Jünger aus Angst vor der Gestapo bekanntlich vernichtet, wie er in den »Strahlungen« berichtet.

Durch die Vielzahl der Korrespondenzen mit Freunden, Gegnern, Verlagen, Zeitschriften, Zeitungen und unterschiedlichen Institutionen ist Jüngers Briefarchiv ein Spiegel der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte des gesamten 20. Jahrhunderts: vom Ersten Weltkrieg über die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg bis hin zur Nachkriegszeit, die in diesem Falle mit Jüngers Tod im Jahr 1998 endet. Als Fundament literatur- und zeithistorischer Forschung ist Jüngers Briefarchiv bisher kaum genutzt worden.

AP: Wie viele Briefe befinden sich nicht in Marbach, sondern in Privatbesitz, und lassen sie sich erschließen?

Es gibt Tausende, vermutlich sogar Zehntausende von Briefen Jüngers, die nicht in seinem Nachlass sind, weil er keine Abschriften oder Durchschriften angefertigt hat. Von diesen Briefen befinden sich viele in Archiven anderer Autoren oder Publizisten wie Carl Schmitt, Martin Heidegger oder Joseph Wulf. Solche Archive sind überwiegend bekannt und meist zugänglich; eine Übersicht gibt es allerdings nicht. Über die große Zahl von Briefen in privaten Nachlässen, die inzwischen im Autographen-Handel oder sogar bei Ebay angeboten werden, weiß man kaum etwas. Da das Deutsche Literaturarchiv nicht alles kauft oder kaufen kann, was im Handel angeboten wird, wäre es gut, private Sponsoren oder eine Stiftung zu gewinnen, die hier einspringt, damit Jüngers Briefarchiv komplettiert werden kann.

 

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Ein Forschungsprojekt zu Ernst Jüngers Briefarchiv. Detlev Schöttker im Gespräch, in: ZfL BLOG, 15.6.2017, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/06/15/ein-forschungsprojekt-zu-ernst-juengers-briefarchiv-detlev-schoettker-im-gespraech/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20170615-01