»Der Krieg war bisher nicht zu uns gekommen.« Mit diesem lakonischen Satz eröffnet Daniel Kehlmann seinen Roman »Tyll« (Berlin: Rowohlt 2017, 477 S.). Till Eulenspiegel, den berühmtesten Narren der deutschen Kulturgeschichte, nennt Kehlmann zwar altertümelnd Tyll Ulenspiegel, doch er verleiht ihm zugleich einen fast schon futuristischen Anstrich, wenn er ihn als Hauptfigur seines Buches vom 14. in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts vorverlegt. Mit dem Krieg im ersten Satz ist der Dreißigjährige Krieg gemeint. So stellt Eulenspiegel für Tyll denn auch lediglich eine unter anderen närrischen Vorlagen dar, eine weitere hat man teuflisch rasch in Grimmelshausens Simplicissimus ausgemacht. Denn Kehlmann nutzt dessen Kunstgriff, die Tradition des Schelmenromans anzuzapfen, um die Schrecken des Dreißigjährigen Kriegs in gespielter Naivität und weitgehend ›von unten‹ in den Blick nehmen zu können. „Claude Haas: ZUR AKTUALITÄT DES DREISSIGJÄHRIGEN KRIEGES (II): »Denn es ist alles nicht lang her«? Daniel Kehlmanns Roman »Tyll«“ weiterlesen
Kategorie: LEKTÜREN
Claude Haas: ZUR AKTUALITÄT DES DREISSIGJÄHRIGEN KRIEGES (I): Übungsplatz für strategisches Denken – Herfried Münklers Studie »Der Dreißigjährige Krieg«
Die Zucht der Wissenschaft und die Kriegsbeuten der Literatur
Anders als die Wissenschaft darf die Literatur mit historischen Stoffen einen denkbar freien Umgang pflegen. Schließlich steht sie beinahe schon in der Pflicht, diese immer auch zu aktualisieren. Wo etwa der Historiker sich einer (und sei es fantasmatischen) Objektivität verschreibt, er seine Gegenstände um ihrer selbst willen ordnet, verknüpft und sie behutsam auf Möglichkeiten einer kohärenten Entwicklung hin abklopft, darf der Schriftsteller den Laden der Geschichte hemmungslos plündern. Grundsätzlich stellt er die Vergangenheit in den Dienst der Darstellung zeitgenössischer Konstellationen oder Konflikte. Dies gilt in herausragender Art für literarische Anverwandlungen des Dreißigjährigen Kriegs (1618–1648). „Claude Haas: ZUR AKTUALITÄT DES DREISSIGJÄHRIGEN KRIEGES (I): Übungsplatz für strategisches Denken – Herfried Münklers Studie »Der Dreißigjährige Krieg«“ weiterlesen
Angus Nicholls: WHAT IS ‘PROGRESS’ IN THE HUMANITIES? (As Seen from the Perspective of Literary Studies)
If one thing can be learned from the recent boom in the apparently ‘new’ field of the ‘history of the humanities’, it is that, especially in the humanities, the history of an academic discipline is never mere history, because the research questions that inaugurate a discipline continue to subsist at its foundations. Knowledge in the humanities, it seems, develops differently. In many fields, ‘progress’ is far less linear than in the natural sciences; indeed, research programmes may shuttle back and forth between different epochs, with interpretations of the past continually shedding new light upon the present. „Angus Nicholls: WHAT IS ‘PROGRESS’ IN THE HUMANITIES? (As Seen from the Perspective of Literary Studies)“ weiterlesen
Claude Haas: FRÖHLICHE WISSENSCHAFT – TRAURIGE THEORIE? Lose Bemerkungen zu einem spannungsreichen Verhältnis
Ohne Theorie? Poetik und Hermeneutik
Im Rückblick auf seine langjährige Teilnahme an den Kolloquien von Poetik und Hermeneutik, der institutionell wie theoretisch in Deutschland sicher erfolgreichsten geisteswissenschaftlichsten Gruppierung nach 1945, kam der bekannte Romanist Karlheinz Stierle jüngst auf die gemeinsamen Wurzeln der ehemaligen Mitglieder zu sprechen. Gegenteiligen Bekundungen zum Trotz dürften solche nicht etwa in einer eigenständigen »Theorie«, sie müssten vielmehr in einem bestimmten Gebrauch des Deutschen als Wissenschaftssprache gesucht werden: „Claude Haas: FRÖHLICHE WISSENSCHAFT – TRAURIGE THEORIE? Lose Bemerkungen zu einem spannungsreichen Verhältnis“ weiterlesen
Eva Axer: #KleineFormen. Ein Sammelband eröffnet neue medien- und wissensgeschichtliche Perspektiven
Als Blogeintrag darf man diesen Text zu den sogenannten kleinen Formen zählen, die Wert auf Kürze und Prägnanz legen. Allerdings beklagte bereits Alfred Polgar, der den Begriff der kleinen Form in den 1920er Jahren prägte, das folgenreiche Missverständnis, dass ein Text, der sich in fünf Minuten lesen lässt, eine geeignete Lektüre sei, wenn man nur fünf Minuten Zeit hat (in der Straßenbahn etwa oder in der Mittagspause). Kleine Formen seien, so Polgar, keineswegs literarische ›Leichtgewichte‹, sondern zeitgemäße Literatur für ein hektisches Zeitalter. Dass literarische Verfahren der Verkürzung gerade auch gegenteilige Effekte für die Rezeption haben können, die dann sehr viel mehr Zeit in Anspruch nimmt als die bloße Lektüre, war ihm natürlich bewusst. „Eva Axer: #KleineFormen. Ein Sammelband eröffnet neue medien- und wissensgeschichtliche Perspektiven“ weiterlesen
Daniel Weidner: »DIE UNFÄHIGKEIT ZU TRAUERN« – Geschichte einer Abwehr?
Liest man heute, fünfzig Jahre nach der Erstveröffentlichung, Alexander und Margarete Mitscherlichs Die Unfähigkeit zu trauern, so kann man überrascht werden. Das Buch ist ein Klassiker und sein Titel zum Schlagwort geworden: für die Verzögerung der Vergangenheitsbewältigung, für die Verspätung, mit der sich die Deutschen mit den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinandergesetzt haben, für den Unwillen, deren Opfer anzuerkennen. Im Buch liest sich das allerdings etwas anders, denn dass die Deutschen nicht getrauert hätten, bezieht sich nicht primär – wie wir wohl erwarten würden – auf die Opfer: „Daniel Weidner: »DIE UNFÄHIGKEIT ZU TRAUERN« – Geschichte einer Abwehr?“ weiterlesen
Daniel Weidner: DIE WELT IST NICHT GENUG. Ottmar Ette über die »Literaturen der Welt«
›Weltliteratur‹ ist heute in aller Munde. Längst bezeichnet der Ausdruck nicht mehr einfach eine Menge von Texten, sondern steht für einen Diskurs über das Selbstverständnis der Literaturwissenschaft jenseits der Nationalphilologien. Vor allem im angloamerikanischen Raum wird world literature heiß diskutiert, und inzwischen nimmt die Diskussion auch in Deutschland Fahrt auf: Das nächste DFG-Symposium der Literaturwissenschaft, Flaggschiff der Disziplin, wird den Titel »Vergleichende Weltliteraturen« tragen. Verhandelt werden dabei wohl kaum die Literaturen verschiedener Welten – Romane der Marsianer … –, auch wird hoffentlich nicht einfach das Thema über den komparatistischen Leisten gezogen, sondern es werden verschiedene Konzepte und Diskurse der Weltliteratur verglichen werden. Ein solches Konzept entwirft auch Ottmar Ettes jüngster Band WeltFraktale. Wege durch die Literaturen der Welt (Stuttgart: Metzler, 2017). „Daniel Weidner: DIE WELT IST NICHT GENUG. Ottmar Ette über die »Literaturen der Welt«“ weiterlesen
Moritz Neuffer: »GEGEN DIESES 68«. Zu Robert Stockhammer: 1967. Pop, Grammatologie und Politik
1967 veröffentlicht die im New Yorker Chelsea Hotel lebende Schriftstellerin Valerie Solanas die ersten Mimeographien ihres Manifests zur Gründung der Society for Cutting Up Men. Darin ruft Solanas dazu auf, »die Regierung zu stürzen, das Geldsystem abzuschaffen, umfassende Automation einzuführen und das männliche Geschlecht zu vernichten«.[1] Ihre radikale Kritik patriarchaler Verhältnisse verbindet sie mit Ankündigungen von Arbeitssabotage (»SCUM wird die verschiedensten Jobs annehmen und nicht arbeiten«) bis Mord (»SCUM wird alle Männer töten, die nicht Mitglieder der Männerhilfstruppe sind«).[2] Gefragt, wie ernst sie das meine, antwortet Solanas einem Journalisten, sie sei »dead serious«.[3]
Der literaturwissenschaftlichen Diskussion gibt diese Antwort die Erörterung der Gattungsfrage auf: „Moritz Neuffer: »GEGEN DIESES 68«. Zu Robert Stockhammer: 1967. Pop, Grammatologie und Politik“ weiterlesen
Falko Schmieder: VON ENGELN UND TOREN. Zu Gloria Gaynors »I will survive«
Es war nicht das erste Mal, dass der Begriff des Überlebens in die Welt des Entertainments eingeführt wurde, aber Gloria Gaynors Disco-Hit I Will Survive aus dem Jahr 1978 markiert doch eine Zäsur. Wie Titel, Leitmotiv und Formsprache des Songs verweist auch das Vokabular, in dem sein durchschlagender Erfolg beschrieben worden ist, auf die Aktualität eines unheimlich gewordenen Erbes. Der Beginn der modernen Geschichte, die den Konnex von Fun und Survival stiften hilft, lässt sich datieren auf Darwins Ersetzung der Bezeichnung »natural selection« durch den Ausdruck »survival of the fittest«, der ihm »besser und zuweilen ebenso bequem« wie jener erschien. Dies wird für lange Zeit das letzte Mal gewesen sein, dass die Verwendung des Ausdrucks »survival« als »bequem« angesehen wurde. Mit seiner Übertragung auf das Feld der Kultur und des Sozialen wurde er zu einem biopolitischen Kampfbegriff, der im Namen der Vollstreckung natürlicher Gesetze Praxen der Ausgrenzung oder Ausrottung von Menschen legitimieren half. „Falko Schmieder: VON ENGELN UND TOREN. Zu Gloria Gaynors »I will survive«“ weiterlesen
Ernst Müller: WIEDERGELESEN: Werner Mittenzweis Brecht-Biographie
Die zweibändige Brecht-Biographie »Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln« des DDR-Germanisten Werner Mittenzwei (1927–2014) gilt bis heute als Standardwerk. Seit ihrem Erscheinen 1986 im Aufbau-Verlag und ein Jahr später im westlichen Suhrkamp Verlag erlebte sie mehrere Auflagen. In der zeitgenössischen bundesrepublikanischen Kritik fand sie ein eher verhaltenes Echo. Das hatte politische und wissenschaftsgeschichtliche Gründe. „Ernst Müller: WIEDERGELESEN: Werner Mittenzweis Brecht-Biographie“ weiterlesen