Claude Haas: War da was? BEMERKUNGEN ZUM KAFKA-JAHR 2024

»Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer: das wiederholt sich immer wieder: schließlich kann man es vorausberechnen und es wird Teil der Ceremonie.«
Franz Kafka: Tagebücher

Die intellektuelle Ausbeute literarischer Jubiläen und Gedenkjahre fällt in der Regel mager aus. Viel Nippes wird zu solchen Anlässen auf den Markt geworfen. Runde Geburts- oder Todestage von Schriftsteller*innen zeugen so oft unfreiwillig von jenem vielfach beklagten Prestigeverlust der Literatur, gegen den ihre mediale Verwertung gerade anzurennen versucht. Große Namen sind für diese Schieflage besonders anfällig, nur selten erscheinen zu ihren Jahrestagen ambitionierte Neudeutungen ihrer Werke. Es dominiert die gediegene Traditionspflege und ein mitunter verschmitzter Respekt – der schlimmste von allen. Aus diesen Gründen haben Gedenkjahre aber stets eine seismographische Funktion, denn an ihnen lässt sich ablesen, wo ihre Jubilar*innen und deren – oder gar die – Literatur öffentlich gerade stehen. Das Kafka-Jahr 2024 macht hier keine Ausnahme.[1] „Claude Haas: War da was? BEMERKUNGEN ZUM KAFKA-JAHR 2024“ weiterlesen

Olga Romanova: WATCHING SOVIET CINEMA TODAY: “The Woman” (1932) by Yefim Dzigan and Boris Shreyber

For many years, I taught courses on Soviet culture and cinema to Belarusian students at the European College of Liberal Arts in Belarus (ECLAB) in Minsk. Unfortunately, due to political repressions, the college had to close down in 2020. Throughout the years of Belarusian independence, remnants from the Soviet Union have permeated the everyday lives of its citizens as well as the country’s colloquial and political rhetoric, often thoroughly detached from their original cultural contexts, discourses, and imaginaries. But what can we learn from watching Soviet movies today? „Olga Romanova: WATCHING SOVIET CINEMA TODAY: “The Woman” (1932) by Yefim Dzigan and Boris Shreyber“ weiterlesen

Dirk Naguschewski: Das Leben erinnern. DIE BERLINER BUCHHÄNDLERIN UND FEMME DE LETTRES FRANÇOISE FRENKEL

Im September 1945 erschien im Züricher Verlag J. H. Jeheber die auf Französisch verfasste Autobiographie von Françoise Frenkel (1889–1975), einer polnischen Jüdin, der es gelungen war, dem Nazi-Terror zu entkommen: Rien où poser sa tête (auf Deutsch: Nichts, um sein Haupt zu betten). Bis 1937 hatte Frenkel die einzige französische Buchhandlung in Berlin geführt. 1943 war sie mit etwas Glück illegal von Frankreich aus in die Schweiz gelangt, wo ein Neffe für ihren Unterhalt sorgte. All das lässt sich in ihrer schnörkellosen Lebensgeschichte nachlesen. Doch die Nachkriegsjahre waren nicht die Zeit, in der die Erinnerungen einer Überlebenden, in denen es nicht nur um Flucht und Vertreibung, sondern auch um die französische Kollaboration geht, große Resonanz erwarten durften. Scham und Schrecken wurden verdrängt und Rien où poser sa tête geriet schnell in Vergessenheit. In deutschen Bibliotheken findet sich heute nicht ein einziges Exemplar der Erstausgabe. Doch das Buch und seine Autorin wurden in den letzten Jahren wiederentdeckt und der jüngste Beleg dafür ist eine in Frankreich erschienene Biographie jener eigenwilligen Frau, die mit vollem Namen Frymeta Françoise Rolande Idesa Raichinstein-Frenkel hieß (Corine Defrance: Françoise Frenkel, portrait d’une inconnue, Paris: L’arbalète/Gallimard 2022). „Dirk Naguschewski: Das Leben erinnern. DIE BERLINER BUCHHÄNDLERIN UND FEMME DE LETTRES FRANÇOISE FRENKEL“ weiterlesen

Katja Schicht: ALEXANDER VON HUMBOLDT, EIN PIONIER DER KLIMAFORSCHUNG

Alexander von Humboldt war der Erste, der jahrelang systematisch Messwerte aus verschiedenen Regionen der Erde sammelte, bearbeitete, miteinander verglich und auswertete. Er konnte dadurch das Klima statistisch bestimmen und in seinem Lebenswerk Kosmos, dessen fünf Bände ab 1845 erschienen, eine umfassende Klimadefinition vorstellen. Bereits 1844 hatte er in seiner Abhandlung zu den Gebirgsketten in Zentralasien festgestellt, dass der Mensch das Klima »durch das Fällen der Wälder, durch die Veränderung der Vertheilung der Gewässer und durch die Entwicklung großer Dampf- und Gasmassen an den Mittelpunkten der Industrie«[1] beeinflusse. Ein Jahr später wies er im ersten Band des Kosmos erneut auf die »Vermengung [der Atmosphäre] mit mehr oder minder schädlichen gasförmigen Exhalationen«[2] hin. Mit seinen Beschreibungen des Klimas in den von ihm bereisten Regionen, seiner bereits 1817 erschienenen Abhandlung über die Isothermen und der von ihm konstruierten Jahresisothermenkarte gilt er als Begründer der modernen vergleichenden Klimatologie.[3] Dabei hat Humboldt nie eine meteorologische oder klimatologische Ausbildung genossen, sondern war auf dem Gebiet ein Autodidakt. So gibt es auch keine monografische Gesamtdarstellung zum Klima von ihm;[4] statt dessen publizierte er seine Erkenntnisse in Zeitschriften und Zeitungen oder einzelnen Buchkapiteln. „Katja Schicht: ALEXANDER VON HUMBOLDT, EIN PIONIER DER KLIMAFORSCHUNG“ weiterlesen

Matthias Schwartz: IN DER WELT DER WILDEN KERLE. Eine populäre Serie im Zeichen des russisch-ukrainischen Krieges

Zum Jahreswechsel 2023/2024 gelang einer russischen Fernsehserie, was während Russlands Krieg gegen die Ukraine eigentlich unvorstellbar scheint: Innerhalb weniger Tage entwickelte sich Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt (Slowo pazana. Krow na asfalte, 2023) beiderseits der Schützengräben zur populärsten Serie des Jahres. Die Zuschauer- und Klickzahlen erreichten Rekordhöhen und der Titelsong Pyjala (dt. Glas‹) der tatarischen Band Aigel schaffte es an die Spitze diverser Hitparaden in beiden Ländern.[1] In der Russischen Föderation war die Serie zwar mit der Altersgrenze »18+« versehen und nur bei den privaten Streamingdiensten Wink und START zu sehen.[2] Doch schon während der Ausstrahlung der acht Folgen der ersten Staffel vom 9. November bis 21. Dezember 2023 verbreitete die Serie sich blitzschnell über Telegram und andere digitale Kanäle. Sätze wie »Kerle entschuldigen sich nicht« oder »Denk dran, du bist jetzt ein Kerl, du bist jetzt auf der Straße, und ringsherum sind Feinde« wurden zu geflügelten Worten. Pädagogen und Politikerinnen schlugen Alarm, als in der Presse Berichte auftauchten, die von durch die Serie inspirierten Schlägereien berichteten, und zwar sowohl in Russland als auch in der Ukraine.[3] „Matthias Schwartz: IN DER WELT DER WILDEN KERLE. Eine populäre Serie im Zeichen des russisch-ukrainischen Krieges“ weiterlesen

Jakob Moser: »DAS DÄMONISCHE BERLIN«: WALTER BENJAMIN ÜBER E. T. A. HOFFMANN

Wie die Literatur- und Theoriegeschichte zeigt, wurde das Dämonische im Gefolge von Goethe auf wirkmächtige Weise von den Dämonen entkoppelt.[1] Walter Benjamin brachte vor diesem Hintergrund E. T. A. Hoffmann ins Spiel, einen Schriftsteller, dessen »fieberhafte Träume« Goethe verschmähte.[2] Unter dem Titel Das dämonische Berlin sprach Benjamin im Februar 1930 in der Kinderstunde des Berliner Rundfunks über Hoffmann als Dichter der Großstadt.[3] Obwohl das Wort »dämonisch« nur im Titel fällt, eröffnet der Vortrag eine neue Sicht auf das post-goethesche Dämonische, denn die Medialität des Dämonischen wird darin auf mehreren Ebenen reflektiert, die das Radio selbst involvieren. „Jakob Moser: »DAS DÄMONISCHE BERLIN«: WALTER BENJAMIN ÜBER E. T. A. HOFFMANN“ weiterlesen

Falko Schmieder: SOZIODIZEE DES KAPITALISMUS

In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Glossare zu Leitvokabeln der Gegenwart entstanden, auffällig oft konzipiert von Soziolog*innen. Mit diesem flexiblen Genre lässt sich auf die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen reagieren, die auch in der Sprache ihren Niederschlag finden. Die Transformationen der Semantik indizieren tiefgreifende Wandlungen kollektiver Wahrnehmungsweisen, Erwartungshaltungen sowie Zeitvorstellungen; ihre Analyse dient so einer historischen Selbstaufklärung der Gegenwart, die sich mit wachsender Geschwindigkeit selbst überholt und ins Präzedenzlose vorstößt. Armin Nassehis Buch zu gesellschaftlichen Grundbegriffen setzt diese Reihe soziologischer Standortbestimmungen im Medium der Sprachreflexion fort (Armin Nassehi: Gesellschaftliche Grundbegriffe. Ein Glossar der öffentlichen Rede, München: Beck 2023). „Falko Schmieder: SOZIODIZEE DES KAPITALISMUS“ weiterlesen

Magdalena Gronau/Martin Gronau: PHYSIKER IN DER (ALB-)TRAUMFABRIK. Christopher Nolans Oppenheimer

Oppenheimer (Regie: Christopher Nolan, USA 2023) hat diverse Rekorde gebrochen. Er zählt zu den erfolgreichsten Filmen mit R-Rating; schon jetzt konnte er sich unter den ganz oder in wesentlichen Teilen vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs spielenden Filmen den vordersten Platz sichern. Das 180 Minuten lange Biopic über den sogenannten ›Vater der Atombombe‹ stellt selbst langjährige Spitzenreiter wie Dunkirk (Regie: Christopher Nolan, USA 2017) oder Saving Private Ryan (Regie: Steven Spielberg, USA 1998) in den Schatten. Mit einem erlesenen Star-Ensemble und einem Budget von 100 Millionen US-Dollar hat Nolan ein dunkles Historienspektakel geschaffen, das angesichts revolutionärer KI-Entwicklungssprünge, menschengemachter Klimaveränderungen und wiederaufkeimender geopolitischer Bedrohungen erschreckend aktuell ist. Wieder einmal sieht sich die Menschheit mit ihren selbstzerstörerischen Kräften konfrontiert. „Magdalena Gronau/Martin Gronau: PHYSIKER IN DER (ALB-)TRAUMFABRIK. Christopher Nolans Oppenheimer“ weiterlesen

Pola Groß: KINDER KRIEGEN. KINDER HABEN. Zu zwei Neuerscheinungen

Kinderbetreuung, Hausarbeit und Pflege älterer Menschen gehören nicht zu den Tätigkeiten, die in der Literatur bislang viel Raum eingenommen haben.[1] Seit einiger Zeit ändert sich das und es erscheinen zunehmend Texte, die Sorgearbeit ins Zentrum rücken. Einen Schwerpunkt bilden Veröffentlichungen, die von den Anstrengungen von Mutter- und Elternschaft erzählen. Internationale Bekanntheit erlangte 2001 Rachel Cusks autobiographischer Essay A Life’s Work: On Becoming a Mother, der als einer der ersten Muttersein radikal und schonungslos schildert. Aber auch im deutschen Sprachraum sind Texte entstanden, die Mutter- und Elternschaft jenseits romantischer Verklärungen beschreiben: Essays, Romane und literarische Experimente beispielsweise von Antonia Baum (Stillleben, 2018), Mareice Kaiser (Das Unwohlsein der modernen Mutter, 2021), Julia Friese (MTTR, 2022), Maren Wurster (Eine beiläufige Entscheidung, 2022) oder dem Kollektiv Writing with CARE / RAGE (Rhizom – Offene Worte, 2021). Sie problematisieren etwa die fehlende Anerkennung für die häufig von Frauen ausgeführten und noch häufiger schlecht oder gar nicht bezahlten Sorgetätigkeiten oder reflektieren die enorme, vor allem an Mütter gestellte gesellschaftliche Erwartungshaltung. Viele der Texte beschreiben die Diskrepanz, die zwischen selbstbestimmten weiblichen Lebensentwürfen einerseits und traditionellen Rollenbildern und gesellschaftlichen Bedingungen andererseits besteht und umso deutlicher zutage tritt, sobald ein Kind da ist. „Pola Groß: KINDER KRIEGEN. KINDER HABEN. Zu zwei Neuerscheinungen“ weiterlesen

Oliver Precht: AUCH EINE GESCHICHTE DER THEORIE

»Das Folgende«, stellt Morten Paul gleich zu Beginn seiner Studie über Suhrkamps (mehr oder weniger) graue Bände klar, »ist keine Geschichte der Theorie, sondern eine Geschichte der Theorie-Reihe« (Morten Paul: Suhrkamp Theorie. Eine Buchreihe im philosophischen Nachkrieg, Leipzig: Spector Books 2023, 18). Vielleicht hatte er beim Verfassen dieses Warnhinweises noch den Vorwurf im Ohr, den Gerhard Poppenberg in seinem Essay Herbst der Theorie an Philipp Felschs viel gelesenes Buch Der lange Sommer der Theorie gerichtet hat: Felsch verenge die komplexe, an eine Vielzahl von Orten, Institutionen, Produktions- und Rezeptionsmilieus gebundene Theoriegeschichte auf die spezifischen von ihm untersuchten Kontexte, nämlich auf »die Verlage Suhrkamp und Merve, die Berliner FU und die Subkultur der Siebziger- und Achtzigerjahre«.[1] Hinter diesem etwas wohlfeilen Vorwurf steht eine Vorstellung von Theoriegeschichte, die sich keineswegs von selbst versteht. „Oliver Precht: AUCH EINE GESCHICHTE DER THEORIE“ weiterlesen