Ernst Müller: LAZAR GULKOWITSCHS FRÜHE GRUNDLEGUNG DER BEGRIFFSGESCHICHTE

Die erste Monografie, die sich ausdrücklich und titelgebend mit der »begriffsgeschichtlichen Methode« befasste, stammt von dem jüdischen Religionswissenschaftler Lazar Gulkowitsch (1898–1941). Vier Jahre vor seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten veröffentlichte er 1937 Zur Grundlegung einer begriffsgeschichtlichen Methode in der Sprachwissenschaft in einer deutschsprachigen, der Wissenschaft des Judentums gewidmeten Reihe, die an der Universität Tartu (Dorpat), dem Ort seines estnischen Exils, erschien.[1] Obwohl sich in den letzten Jahren verschiedene Publikationen Gulkowitsch und seinem Werk widmeten,[2] ist seine Schrift zur Begriffsgeschichte selbst dem Fachpublikum dieser geisteswissenschaftlichen Methode unbekannt geblieben, ebenso wie die zahlreichen Untersuchungen, in denen er die Begriffsgeschichte auf den Begriff ›Chassid‹ (Frommer) sowie den Chassidismus[3] anwandte. Gulkowitsch entwickelte dort an Konzepten der jüdischen Geistesgeschichte eine speziell auf die Geschichte des Judentums bezogene Theorie der Begriffsgeschichte, die aber zugleich mit dem Anspruch einer universalistischen Metatheorie der Geistesgeschichte für verschiedene Kulturen antrat.

Die Begriffsgeschichte bildete für ihn das methodische Zentrum für die jüdische Geistesgeschichte und für die Beantwortung einer ganzen Reihe jüdisch-theologischer Fragen. Gleich im Vorwort seiner Grundlegung bezeichnete er den historischen Ort seines Unterfangens. Gulkowitsch sah zeitgenössisch »den Anbruch einer neuen Epoche in der Geschichte der Sprachen«, der sich dadurch auszeichne, »daß die Sprachentwicklung bewußt in den Dienst aktiver Geschichtsgestaltung gestellt« werde.[4] Deutlich erkennbar hatte er die »gegenwärtigen Bestrebungen zur Ausgestaltung des modernen Hebräisch« im Blick[5] und suchte in der Begriffsgeschichte auch nach Antworten, um die Zukunft eines geistigen Judentums zwischen Assimilation und Zionismus zu bestimmen.

Lange Zeit erschien die »German Begriffsgeschichte«, die in große begriffsgeschichtliche Wörterbücher wie die Geschichtlichen Grundbegriffe oder das Historische Wörterbuch der Philosophie mündete, in ihrem theoretischen Rückgriff auf Carl Schmitt, Otto Brunner oder Werner Conze als eine Tradition nicht nur eher konservativer, sondern auch deutschnationaler Intellektueller, die anderen Kulturen und anderen Sprachen kaum verständlich war.[6] Neben dieser Tradition gab es allerdings eine andere Linie oftmals ins Exil getriebener, in der Diskussion erst schrittweise ins Gedächtnis zurückgerufener oder eher untergründig wirkender jüdischer oder aus dem Judentum stammender Intellektueller, die sich direkt oder von der Sache her mit der Historizität von Begriffen beschäftigte: Sie lässt sich zurückführen bis auf Moritz Lazarus und reicht über Fritz Mauthner, Ernst Cassirer und Karl Mannheim bis zu den explizit begriffsgeschichtlich arbeitenden Romanisten Leo Spitzer und Erich Auerbach, dem polnischen Bakteriologen und Wissenschaftshistoriker Ludwik Fleck sowie dem Mediävisten und Begründer der Geschichtswissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem Richard Koebner. Unter Einbezug dieser Gelehrten, die unabhängig und meist in wechselseitiger Unkenntnis voneinander ihre Arbeiten zur Begriffsgeschichte nahezu gleichzeitig um die Mitte der 1930er Jahre veröffentlichten (Lazarus und Mauthner ausgenommen), erscheint diese kurze Spanne – um Reinhart Kosellecks Begriff umzumünzen – geradezu als ›Sattelzeit‹ der Begriffsgeschichte.

Warum aber interessierten sich jüdische Intellektuelle für die Begriffsgeschichte? Warum entwickelten sich die Begriffs- und auch die Ideengeschichte zu Favoriten ihrer Narration? Gulkowitsch spezifizierte seine begriffsgeschichtliche Methode an Besonderheiten der jüdischen und hebräischen Sprachgeschichte (ein Urtext, eine allein durch Sprache zusammengehaltene Diasporaexistenz): »Die Sprache ist immer die letzte Zuflucht einer von außen her bedrängten eigenständigen Kultur.«[7] Die »letzte Zerstörung des Tempels in Jerusalem«[8] erscheint bei Gulkowitsch wie ein Gleichnis auf seine unmittelbare Gegenwart und die erneute Vertreibung und Verfolgung der Juden. Die Grundlegung einer begriffsgeschichtlichen Methode lässt sich damit auch als Gulkowitschs unmittelbare Antwort auf die jüdische Gegenwartssituation verstehen. Begriffsgeschichte erweist sich als Fortsetzung der jüdischen Geschichte mit anderen Mitteln:

»Einem künstlichen Ersatz des Tempelkultes wäre es niemals gelungen, Wirkungen in der Geschichte hervorzubringen. Nur dadurch, daß der Eingriff von außen her die Explikation der Begriffe nicht radikal abschneiden konnte, sondern ihr bloß eine andere, aber dem Wesen dieser Kultur durchaus adäquate Richtung gab, wurde der Fortbestand der jüdischen Kultur als solcher garantiert, fand ihre Geschichte nicht etwa ein Ende, wie dies von der Geschichtsforschung des Öftern behauptet worden ist. Es ist für das Wesen eines solchen Eingriffes von außen her ohne Belang, ob ein sichtbares Symbol, wie ein Tempel, zerstört wird. Jeder Eingriff gegen geistige Werte ist eine solche Tempelzerstörung. In solchen Fällen ist es von entscheidender Bedeutung, ob das in Frage gestellte geistige Prinzip stark genug ist, um in neuen Formen anstelle der zerstörten einen adäquaten Ausdruck zu finden.«[9]

Die Diasporasituation legt es nahe, Geschichte vor allem als Geschichte von Sprache und Auslegung zu fassen. Der Zeitlosigkeit des göttlichen Gesetzes, die im Zentrum alles Jüdischen steht und um die herum sich konzentrisch profanere Gebiete gruppieren, trifft auch die Voraussetzungen, unter denen Gulkowitsch dachte. »Die das Judentum tragenden, sakral durchdrungenen Begriffswelten«, so Dan Diner »gelten zu allen Zeiten und über alle Räume jüdischer Existenzerfahrung hinweg. Dabei sind sie religionsgesetzlich begründeten Anpassungen unterworfen«.[10] Diese Perspektive macht deutlich, warum in Gulkowitschs Schriften mitunter eine merkwürdige Raum- und Ortlosigkeit herrscht, in der er das »Kontinuum der Entwicklung von der Entstehung des Judentums an bis zum heutigen Tage« ansiedelt.[11]

Sein ambitionierter Versuch, in den 1930er Jahren auf einem noch unbestellten Feld eine Begriffsgeschichte von der oder für die jüdische Geschichte zu entwerfen, ist in Kenntnis wichtiger sprachwissenschaftlicher und sprachphilosophischer Strömungen der Zeit verfasst. Dabei verwendete er eine Reihe methodischer Begriffe, die für das Jahr 1937 erstaunlich modern klingen: Latenz, Spur, Emergenz, Sprechakt, Begriff des Unbegrifflichen.

Die Edition von Gulkowitschs Schriften bietet nun Gelegenheit, sich die Modernität dieses frühen Begriffshistorikers zu vergegenwärtigen.

Der Philosophiehistoriker Ernst Müller leitet das ZfL-Schwerpunktprojekt »Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur historischen Semantik in Deutschland«. Von 2018–2022 arbeitete er, gefördert durch die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, am ZfL gemeinsam mit Annett Martini (Freie Universität Berlin) an der Edition von Gulkowitschs begriffsgeschichtlichen Schriften.

Der Beitrag ist eine geringfügig modifizierte Fassung des ersten Teils der von Ernst Müller zusammen mit Annett Martini verfassten Einleitung zur Edition von Lazar Gulkowitsch: »Schriften zur begriffsgeschichtlichen Methode 1934–1940/41« (Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, [Bibliothek jüdischer Geschichte und Kultur/Library of Jewish History and Culture, 3], 2022). Die Edition ist im Open Access verfügbar und enthält neben »Zur Grundlegung einer begriffsgeschichtlichen Methode in der Sprachwissenschaft« Arbeiten zu den Begriffen ›Chassid‹ und ›Chassidismus‹.

 

[1] Lazar Gulkowitsch: Zur Grundlegung einer begriffsgeschichtlichen Methode in der Sprachwissenschaft, Tartu 1937 (Acta Seminarii Litterarum Judaearum Universitatis Tartuensis).

[2] Vgl. vor allem den auf umfassenden Quellenmaterialien basierenden Gesamtüberblick bei Anu Põldsam: Lazar Gulkowitsch. Eine vergessene Stimme der Wissenschaft des Judentums, Dissertation, Universität Tartu 2011; dies.: »Von Leipzig nach Dorpat. Lazar Gulkowitsch und die deutschsprachige Wissenschaft des Judentums«, in: Arndt Engelhardt/Susanne Zepp (Hg.): Sprache, Erkenntnis und Bedeutung. Deutsch in der jüdischen Wissenstradition, Leipzig 2015, S. 87–102.

[3] Vgl. hierzu Glenn Dynner: »Chassidismus«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig herausgegeben von Dan Diner, 7 Bde., Weimar/Stuttgart 2011–2017, hier Bd. 1, S. 489–498.

[4] Lazar Gulkowitsch: »Zur Grundlegung einer begriffsgeschichtlichen Methode«, in: ders.: Schriften zur begriffsgeschichtlichen Methode 1934–1940/41, hg. von Ernst Müller in Zusammenarbeit mit Annett Martini, Göttingen 2022, S. 91–412, hier S. 97.

[5] Ebd., S. 98.

[6] Vgl. den Gesamtüberblick Ernst Müller/Falko Schmieder: Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Berlin 2016.

[7] Gulkowitsch: »Zur Grundlegung« (Anm. 4), S. 217.

[8] Ebd., S. 127.

[9] Ebd., S. 128.

[10] Dan Diner: »Einführung«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (Anm. 3), Bd. 1, S. VII–XVIII, hier S. X.

[11] Lazar Gulkowitsch: Die Bildung des Begriffes Ḥāsīd I. Der Begriff Ḥāsīd in der Gattung der Ma’aśijjōt. 1. Ḥāsīd und Wunder, Tartu 1935; jetzt in: Gulkowitsch: Schriften (Anm. 4), S. 454–488, hier S. 455.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Ernst Müller: Lazar Gulkowitschs frühe Grundlegung der Begriffsgeschichte, in: ZfL Blog, 21.12.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/12/21/ernst-mueller-lazar-gulkowitschs-fruehe-grundlegung-der-begriffsgeschichte/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20221221-01

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