Alexandra Heimes: DER EINSATZ NEUER TECHNOLOGIEN IM HUMANITARISMUS UND DIE ›FRAGE NACH DER MORAL‹

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben rasante technologische Entwicklungen die Seefahrt insgesamt und damit auch das nautische Rettungswesen von Grund auf verändert. Mit motorisierten Booten, Funk- und Radartechnik – und später Rettungsflugzeugen – wird es möglich, neue notlindernde und lebensrettende Praktiken zu etablieren, die Effizienz der Maßnahmen zu steigern und zudem den geografischen Radius der Einsätze erheblich auszuweiten. Weniger offenkundig ist, in welcher Weise diese Entwicklungen auf das Gefüge der Normen und Werte zurückwirken, das der humanitären Seenotrettung zugrunde liegt, und inwiefern sie daran beteiligt sind, den Schiffbruch als einen bestimmten »Situationstyp« zu definieren.[1] Diese Aspekte bilden den Ausgangspunkt meiner Untersuchung, die der Frage nachgeht, wie sich die Herausbildung von Normen und normsetzenden Paradigmen alternativ zu den großen Erzählungen des Humanitarismus beschreiben lässt.

Das Wort ›Situation‹ bezeichnet zunächst ein bestimmtes räumlich-zeitliches Setting, das als Ort einer potenziellen oder einer bereits eingetretenen Gefahr markiert ist. In den 1930er und 1940er Jahren avanciert es, so Anselm Haverkamp, zum »Aktualitätsbegriff par excellence«[2] und wird zum Ausdruck eines akuten Krisenzustands, der einer umgehenden und entschlossenen Reaktion bedarf – ohne jedoch stabile Handlungsrichtlinien zu liefern. Situationen, betrachtet als ein »komplexes Ensemble von Relationen«[3], haben insofern einen höchst ambivalenten Charakter, als in ihnen Momente von Freiheit und Unfreiheit, Zwang und Möglichkeit aufeinandertreffen und ein Handeln erfordern, das innerhalb einer gegebenen Konstellation und zugleich gegen sie erfolgt. 

Hinzu kommt, dass der Situationstyp ›Schiffbruch‹ eine konstitutive Heterogenität aufweist. Die normative Ordnung des Rettungshandelns überschneidet und durchmischt sich mit Normen und Wertsetzungen, die beispielsweise dem politischen oder militärischen Feld entstammen (z.B. hinsichtlich der Markierung territorialer Ansprüche oder der Disziplinierung der Seeleute der eigenen Nation). Dies führt nicht selten zu offenen oder latenten Spannungen, die wiederum ein fortlaufendes Revidieren und Nachjustieren der normbildenden Kriterien erfordern, und zwar gleichermaßen auf symbolischer, diskursiver und praktischer Ebene. Besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei die wechselhaften Dynamiken zwischen moralischer Normativität auf der einen und technischen Innovationen auf der anderen Seite, an denen sich das notorisch strittige Verhältnis zwischen allgemeinen Prinzipien und situativen Faktoren aus einem veränderten Blickwinkel zeigen lässt.

Wenn, wie in den letzten Jahren häufiger der Fall, Formeln wie »humanitäre Maschinerie« – oder, zugespitzter: »humanitär-industrieller Komplex«[4] – zirkulieren, so ist deren polemische Stoßrichtung kaum zu verkennen. Die Polemik zielt vor allem auf solche Entwicklungen, bei denen sich die humanitäre Hilfe, gestützt auf weitreichende technische Infrastrukturen, mehr und mehr in bloße Management- und Ingenieursaufgaben verwandelt oder sich für zweckfremde (monetäre, nationale, militärische) Interessen einspannen lässt. Historisch sind diese Tendenzen eng mit einem epistemischen Wandel verbunden, der seit der Neuzeit mit einem programmatisch rationalen Anspruch auftritt und sich nicht zuletzt darin manifestiert, dass vormoderne Vorstellungen von (singulärer und unverfügbarer) Gefahr zunehmend durch das Konzept eines (abstrakten und rationalisierbaren) Risikos abgelöst werden. Risikotechnologien, d.h. das weitläufige Netz von Sekuritäts- und Vorsorgesystemen, sind in erster Linie Prognosewerkzeuge, die dazu dienen, Kontingenz als solche zu operationalisieren, so dass vormals unabsehbare Gefahren zu kalkulierbaren Größen im Horizont des probabilistisch Erwartbaren werden.[5]

Festhalten lässt sich zunächst, dass im Zuge eines stetigen Anwachsens der Handlungsspielräume auch die Frage nach der normativen Pflicht zum Handeln neu zu stellen ist. Denn in dem Maße, wie sich die Möglichkeiten des Eingreifens dank der verfügbaren technischen Mittel und des professionellen Know-hows ausweiten, steigt auch die Verpflichtung, in Notsituationen von ihnen Gebrauch zu machen. So wird der moralische Imperativ zur Rettung einerseits noch verschärft, andererseits aber, was seine Praktikabilität und mithin Zumutbarkeit betrifft, gemildert. Das gängige Narrativ jedoch, wonach mit jeder technischen Errungenschaft die Widrigkeiten und Gefahren der Rettungspraxis immer weiter zurückgehen, muss fraglich erscheinen. Ihm steht zum einen der Befund entgegen, dass technische Innovationen in aller Regel höchst mehrdeutige und oftmals gegenläufige Effekte erzeugen: Selbst wenn es mit ihrer Hilfe gelingen mag, bestimmte Anforderungen besser zu bewältigen, so können sie auch wieder neue Gefahrenpotenziale generieren.[6] Abgesehen davon zeigt sich gerade am Beispiel der Seenotrettung, dass auch die beste technische Ausstattung nicht verhindert, dass die Retter unter Umständen selbst ihr Leben riskieren oder während ihrer Aktivitäten zu schwierigen Entscheidungen (wie der Priorisierung bestimmter Hilfsbedürftiger zu Ungunsten von anderen) gezwungen sind.

Angesichts dieser intrikaten Verhältnisse scheint es wenig überzeugend, die handlungsleitenden Normen mehr oder minder direkt aus dem Grad des faktisch Machbaren abzuleiten, was letztlich auf eine merkwürdige Umkehrung des Kant’schen »Du kannst, denn du sollst« in ein »Du sollst, denn du kannst« hinausliefe. Dennoch wird man dieser Argumentation kaum dadurch begegnen können, dass man im Gegenzug auf der schieren Singularität des Einzelfalls beharrt. Der Situationsbegriff eröffnet einen anderen Zugang, mit dem sich die in Rede stehenden Phänomene, hier also: maritime Unglücke und Notlagen, auf einer mittleren Ebene ansiedeln lassen. Damit wird die vermeintliche Alternative, sich dem komplexen Problemfeld entweder mit strikten (und gegebenenfalls vorschnellen) Generalisierungsansprüchen zu nähern oder aber sich an die je partikularen Umstände zu halten, umgangen. Unter diesen Vorzeichen wird es allerdings umso diffiziler, die Bedingungen der Genese und Geltung von normativen Ordnungen genauer zu bestimmen.

Augenfällig ist, dass der Situationsbegriff (oder, mit einer stärker militärischen Konnotation, derjenige der Lage) und korrespondierende Begriffe wie Haltung und Ethos seit dem frühen 20. Jahrhundert ein beachtliches philosophisches Interesse auf sich ziehen. Es sind ganz verschiedene Denker – namentlich Walter Benjamin, Kurt Lewin, Martin Heidegger, Theodor W. Adorno, Karl Jaspers oder Jean-Paul Sartre –, die sich an diesen Auseinandersetzungen beteiligen. Und auch wenn sich die Debatten kaum mit humanitären Anliegen im engeren Sinn befassen, entfalten sie eine Reihe von Fragestellungen, die den Humanitarismus im Kern betreffen.

Wenn auch nicht immer explizit, so zieht sich die ›Frage nach der Technik‹ einem roten Faden gleich durch die Debatten zur Situation. Dieser Umstand gibt nicht nur ein wachsendes Bewusstsein dafür zu erkennen, dass die moderne Lebenswelt dem Prozess einer stetig voranschreitenden Technisierung untersteht. Er signalisiert darüber hinaus einen theoretischen Reflexionsbedarf, der diesen Befund an Fragen der lebensweltlichen Orientierung und der moralischen Normsetzungen zurückbindet. Auf die akute Dringlichkeit einer Reflexion über diesen Prozess hat Walter Benjamin bereits 1930 hingewiesen, als er eine »klaffende Diskrepanz zwischen den riesenhaften Mitteln der Technik auf der einen« und »ihrer winzigen moralischen Erhellung auf der anderen Seite« feststellte.[7] In Krisensituationen treten solche Missverhältnisse auf mitunter dramatische Weise zutage, und gerade im Kontext der Seefahrt – nicht zuletzt aufgrund ihrer technischen Voraussetzungen – wird deutlich, dass in dieser Frage so leicht kein fester Boden zu gewinnen ist. Aus denselben Gründen lässt sich nun allerdings auch die These vertreten, dass Seenot-Situationen sich in besonderer Weise eignen, um die Frage nach dem Zusammen- und Widerspiel von moralischen Ansprüchen und technischen Konditionen weiter auszuarbeiten und zu vertiefen. Seenot als Situationstyp fungiert insofern nicht lediglich als ein Beispiel, das relativ umstandslos durch andere Beispiele ersetzt werden könnte. Sie zeigt vielmehr einen systematischen Ort an, um jene Bedingungen theoretisch zu reflektieren, die der Konstitution von Normen in der Moderne zugrunde liegen.

Die Literaturwissenschaftlerin Alexandra Heimes ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZfL im Projekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800«. Der Text basiert auf ihrem englischsprachigen Beitrag zu dem Faltplakat »Archipelagic Imperatives. Shipwreck and Lifesaving in European Societies since 1800« (2022), wo alle Projektmitarbeiter*innen ihre aktuellen Forschungen vorstellen.

[1] Zu diesem Begriff vgl. Henning Trüper: Seuchenjahr, Berlin 2021, S. 28 ff.

[2] Anselm Haverkamp: »Das Skandalon der Metaphorologie. Hans Blumenbergs philosophische Initiative«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57.2 (2009), S. 187–205, hier S. 192.

[3] Pierre Macherey: »Figures of Interpellation in Althusser and Fanon«, in: Radical Philosophy 173 (2012), S. 9–20, hier S. 18 (Übersetzung A.H.).

[4] Volker Heins: »Humanitäre Intervention«, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2004, S. 118–124, hier S. 123. Vgl. auch Eyal Weitzman: The Least of All Possible Evils. A Short History of Humanitarian Violence, London 22017; Alberto Toscano: »The Tactics and Ethics of Humanitarianism«, in: Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism, and Development 5.1 (2014), S. 123–147.

[5] Wie Susanne Krasmann anmerkt, lassen sich Risikotechnologien durchaus als »genuin moralische Technologien« begreifen, allerdings in dem spezifischen Sinn, dass im Fall des Schadenseintritts die Verantwortlichkeiten geregelt werden müssen. Vgl. Susanne Krasmann: »Der ›Gefährder‹ – kriminalpolitisch und epistemologisch gelesen«, in: Archiv für Mediengeschichte 9 (2009), S. 139–148, hier S. 144.

[6] Ein einschlägiges, in seinen Konsequenzen aber vergleichsweise überschaubares Beispiel ist die bis dahin ungekannte Gefahr von Feuerbrand und Explosionsunfällen, die im Zuge der Einführung von motorisierten Rettungsbooten auftrat.

[7] Walter Benjamin: »Theorien des deutschen Faschismus. Zu der Sammelschrift ›Krieg und Krieger‹. Herausgegeben von Ernst Jünger« [1930], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. III, hg. von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a.M. 1991, S. 238–250, hier S. 238.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Alexandra Heimes: Der Einsatz neuer Technologien im Humanitarismus und die ›Frage nach der Moral‹, in: ZfL Blog, 26.1.2023, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/01/26/alexandra-heimes-der-einsatz-neuer-technologien-im-humanitarismus-und-die-frage-nach-der-moral/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20230126-01

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