Yoko Tawada: ARIADNEFÄDEN ALS HARFENSAITEN DES DENKENS

Die Ausgabe Nr. 17 vom Oktober 2022 der chilenischen Kulturzeitschrift Papel Máquina ist der Arbeit der ehemaligen Direktorin des ZfL Sigrid Weigel gewidmet. Wir danken der Schriftstellerin Yoko Tawada für die Erlaubnis, ihren dort in spanischer Übersetzung erschienenen Beitrag im ZfL BLOG erstmals in der deutschen Originalfassung veröffentlichen zu dürfen.

Neulich nahm ich ein Buch von Sigrid Weigel in die Hand, das 1982 erschienen ist. Normalerweise bleiben alle Buchtitel auf einer Publikationsliste brav in einer chronologischen Reihe, und selbst wenn die Schlange sehr lang ist, was bei Weigel zweifellos der Fall ist, springt keiner von ihnen aus der Reihe und rennt nach vorne, in Richtung Zukunft. Aber es kommt doch vor, dass man, zum Beispiel bei einem Umzug, eines der Frühwerke in die Hand nimmt und darin blättert. Man wird überrascht von schillernden Denkbildern, die von heute sein könnten. Ansätze und Zusammenhänge, die man einer späteren Phase zugeordnet hätte, oder solche, die man jetzt erst begreift, stehen bereits in den älteren Büchern schwarz auf weiß. Gerade im digitalen Zeitalter, in dem die historischen Rahmen verschwimmen, gefällt mir die Unbestechlichkeit des Papiers, das die Zeit nie schleichend verfälscht.

In der Forschung gibt es stets Fortschritt, aber wenn ich mir erlaube, Weigels Schriften nicht nur als wissenschaftliche Texte, sondern als Texte in ihrer gattungsfreien Nacktheit zu lesen, gibt es keinen Satz darin, der überholt ist. Die zeitliche Ordnung bleibt, verliert aber ihren hierarchischen Charakter. Wo ich eine alte Erinnerung erwarte, entdecke ich eine neue Möglichkeit, die Gegenwart zu verstehen. So entstand in mir der Wunsch, die jüngere Vergangenheit durch das Fenster der älteren zu betrachten. Ich rede hier nicht von der magischen Glaskugel einer Wahrsagerin, sondern von einer soliden Relektüre.

Das Buch, das ich in der Hand hielt, trug den Titel ›Und selbst im Kerker frei …!‹ Schreiben im Gefängnis. Ich starrte wie gebannt auf das geheimnisvolle Schwarzweißfoto einer Gefängniszelle, das auf dem Umschlag abgebildet war. Benjamins Kleine Geschichte der Photographie kam mir in den Sinn, besonders der dort erwähnte Fotograf Eugène Atget. Benjamins Worte über ihn – »beispielloses Aufgehen in der Sache, verbunden mit der höchsten Präzision«[1] – könnte man leihen, um Weigels Arbeit zu charakterisieren. Aber das war nicht der erste Grund, warum diese Fotografie, die übrigens nicht von Atget stammte, sondern Bakunins Beichte entnommen war, mich nicht losließ. Die Zelle, in die durch ein vergittertes Fenster Licht hineinströmt, ist menschenleer. Das schlichte Bettgestell sowie eine Tischplatte sind kurz davor, vom Häftling, der nicht mehr da ist, zu erzählen, aber sie haben weder eine Stimme noch eine Sprache. Sie strahlen in ihrer Sprachlosigkeit, ein wichtiges Thema, dem man in Weigels weiteren Arbeiten begegnen wird. Es muss einen Zeugen geben, der noch an der Schwelle zwischen der Zelle und dem Flur oder zwischen dem Objekt und seinem Beobachter steht. Ohne diese Schwelle würde dieses Foto nicht existieren. Sie zu finden und zu versuchen, dort zu stehen, gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Wissenschaft.

Die Voraussetzung für diese Fotografie ist die Abwesenheit des Häftlings. Eigentlich steht dieser menschenleere Raum im krassen Widerspruch zu Weigels Arbeit, in der zahlreiche Autoren der Gefängnisliteratur untersucht werden.

Die Rolle der Autoren, die darin behandelt oder erwähnt werden, ist heterogen. Zum ersten Mal denke ich über die Präsenz und die Rolle der Autoren in einer Forschungsarbeit nach.

Ich möchte mit einer eher ungewöhnlichen Rolle des Autors beginnen, und zwar der Rolle des Negativs. Gemeint ist hier nicht ein Autor, der negativ bewertet wird, sondern, dass er als Forschungsobjekt aussortiert wird, damit der Umriss der Forschung deutlicher wird.

Der erste Autorname, der im Vorwort des Gefängnis-Buches auftaucht, ist erstaunlicherweise Dostojewski, ein Autor, der meine Jugend prägte, aber in Weigels Forschung kaum eine Rolle spielt. Als ein Autor, der den Freud’schen Ödipuskomplex mitschreibt, steht er im Schatten von Sophokles. Als russischer Gefängnis-Autor steht er weit hinter Warlam Schalamow, dessen Werke ich übrigens dank Weigel kennenlernte und schätze.

Dostojewski war mein Sibirien, wo die europäische Aufklärung aufhört und der Schamanismus beginnt. Sibirien ist ein Riesengebiet zwischen Europa und Japan, das ich nicht ignorieren kann, egal wie lange ich schon in Westeuropa arbeite und außerhalb Japans lebe. Es bietet jedem, der dort in der Kultur gräbt, einen einmaligen Bodenschatz, besitzt eine starke Anziehungskraft. Man kann dort aber verloren gehen.

Wenn Weigel mir nicht immer wieder aufs Neue einen facettenreichen, humanen und intellektuellen Umgang mit Geistern, Rausch, Obsession, Krankheiten oder Traumata gezeigt hätte, hätte meine lange Bindung zu Dostojewski meine Sicht eher beengt als beflügelt.

Das Gefängnis-Buch erschien in dem Jahr, in dem ich aus Tokio nach Hamburg übersiedelte. Wenn ich mir Weigels Arbeit als eine Metropole vorstelle, sehe ich mehrstöckige Gebäude nebeneinander stehen, die mit Straßen und durch die Kanalisation miteinander verbunden sind. Man könnte über jedes Gebäude oder jede Straße einen Aufsatz verfassen, wozu ich nicht fähig bin. So beschloss ich, in dieser Großstadt zu flanieren wie ein Surrealist in Paris. Und wenn ich schon mit meinen Gedanken nicht mehr in Sibirien, sondern in Frankreich bin, kann ich darauf aufmerksam machen, dass die Namen, die in jenem Vorwort Dostojewski folgen, Genet und de Sade sind. Sie spielen hier auch die Rolle des Negativs. Neben den beiden Franzosen gibt es einen dritten, der eine ganz andere Rolle spielt: Michel Foucault, der den Blick der Geisteswissenschaft auf das Gefängnis lenkte. Seine Rolle in Weigels Arbeit ist vielleicht die eines Stadtplaners, der nicht an der Gestaltung der einzelnen Gebäude beteiligt war, aber beim großen Entwurf mitgewirkt hat.

Im Zeitalter der transnationalen Literaturwissenschaft ist es unangemessen, von ›Franzosen‹ zu sprechen. Die Autoren können wie Jacques Derrida in Nordafrika geboren sein oder ihre Muttersprache ist – wie bei Julia Kristeva und Tzvetan Todorov – Bulgarisch. Ich nenne sie trotzdem ›Franzosen‹, weil sie auf Französisch gedacht und geschrieben haben. Jede Sprache hat ihre eigene Kanalisation, die das Geschriebene und das Vergessene unterirdisch weitertransportiert.

Im Wintersemester 1986 besuchte ich zum ersten Mal ein Seminar von Weigel. Das Thema war »Theorien der Fremde/des Fremden«, und wir diskutierten Kristeva und Todorov, also die ›Franzosen‹, auch Roland Barthes und zwar sein Japan-Buch Das Reich der Zeichen, das mir eine produktiv-spielerische Art zeigte, mit einer fremden oder ›unlesbaren‹ Kultur als Schrift umzugehen. Damals kam mir die Arbeitsweise von Barthes singulär und neu vor. Später erfuhr ich, dass es in Frankreich schon eine Tradition (oder besser: eine Kanalisation) gab, eine fremde Kultur als ›Schriftoberfläche‹ wahrzunehmen und damit frei umzugehen. Henri Michaux, Victor Segalen oder Michel Leiris haben auf unkonventionelle Weise eine ›unlesbare‹ Kultur in Asien und Afrika ›gelesen‹ und dadurch ihre eigene Literatur geschaffen. Das Japan-Buch von Barthes gehörte nicht zum neuen Reich der Postmoderne. Er führte die eigene Tradition weiter.

Damals fragte ich mich ab und zu, warum ich in der deutschen Sprache gelandet war und nicht in der französischen. Vor allem gefiel mir eine französische, essayistische Schreibweise, die zugleich literarisch und theoretisch ist. Wenn man im deutschsprachigen Raum die enge Zwangsjacke der Wissenschaftlichkeit auszieht, steht man in einem verwaschenen, ausgeleierten Pullover da. Warum gibt es keinen schicken Pullover wie jenen, mit dem man in Paris flanieren kann?

Ich bereue es schon lange gar nicht mehr, Deutsch und nicht Französisch als meine zweite literarische Sprache gelernt zu haben, und das habe ich der Walter-Benjamin-Forscherin Weigel zu verdanken.

Gleichzeitig mit dem Studium bei ihr begann ich mit der Veröffentlichung eigener literarischer Texte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich eine sehr schlichte Landkarte der Theorielandschaften in Westdeutschland: Es gab ein profranzösisches und ein antifranzösisches Ufer wie zwei Truppen auf den beiden Seiten des mythologisch sowie historisch belasteten Flusses Rhein. Der Verlag in Tübingen, der meine Texte von Anfang an verlegte und heute noch verlegt, trägt nicht zufällig den Namen konkursbuch Verlag. Als Gegengewicht zur linken Zeitschrift Kursbuch, die damals viel gelesen wurde, wollte die Zeitschrift Konkursbuch neue französische Theorien in Deutschland bekannter machen und dafür den ›profranzösischen‹ deutschen Autoren eine Plattform bieten.

Ich vermutete damals, dass Weigel auf dem französischen Ufer stehe, weil sie in ihrem Seminar oft die französische Theorie behandelte. Aber ich war mir nicht sicher, denn anders als bei den Autoren, die den französischen Stil nachahmten, blieb Weigels Sprache stets klar. Auf der Tanzbühne der ›Postmodernen‹ beobachtete ich damals Epigonen, die Gesten und Mimik der ›Franzosen‹ imitierten. Im schlimmsten Fall legten sie absichtlich einen Kabelsalat in den Aufsatz, der an Stelle der Freiheit des Schreibens einen Kurzschluss produzierte.

Dahingegen behielt Weigels Schreiben durchgehend etwas Ruhiges, Beständiges. Reichliche Materialien für die Fragestellungen standen im Vordergrund und die Forscherin arbeitete von der Seiten- und Hinterbühne die komplexen Zusammenhänge heraus. Ihre Fingerbewegung war feinmotorisch, ihr Schritt leise und selbstsicher. In jedem Bühnenstück war eine große Lust an der Wissenschaft zu spüren, und damit zog Weigel viele junge und alte Menschen mit und an sich.

Nachdem ich die ›Franzosen‹ kennengelernt hatte, belegte ich weitere Seminare bei Weigel. Eine Flut von neuen Themen – Körper, Gedächtnis, Tod, Trauer, Mythologie, Revolution, Übersetzung, Allegorie, Stadt – kam innerhalb eines Jahres über mich.

Im Wintersemester 1987 hielt Weigel zusammen mit Klaus Briegleb eine Vorlesung zu Walter Benjamin, und ab diesem Zeitpunkt verbrachte ich viel Zeit mit der Lektüre dieses Autors, den ich in erster Linie als literarischen Autor aufnahm. Dabei vergaß ich Roland Barthes, und selbst wenn ich in jener Zeit weitere ›Franzosen‹, etwa Derrida oder Lacan, mit Interesse las, war Benjamin der einzige ›Theoretiker‹, der mich eine unmittelbare Nähe zur Sprache spüren ließ. Durch Weigels Vermittlung zeigte er mir die Möglichkeit einer literarischen Sprache, die sich mitten in der arbiträren Kluft zwischen dem Gegenstand und dem Wort bewegt und somit einen großen Bogen zum magischen Ursprung der Wörter zeichnet, ohne die historische Zeit zu leugnen.

Zehn Jahre später las ich in Weigels Benjamin-Buch Entstellte Ähnlichkeiten (1997) einen Versuch, das Verhältnis zwischen den beiden Ufern mit dem Bild der Relektüre zu erklären: »Im Lichte der sogenannten französischen Theorie gewinnen die Schriften Benjamins eine neue Lesbarkeit«.[2] Durch die Relektüre werde eine neue Erkennbarkeit eher möglich als in einem Nach-68-Diskurs.

Weigel erwähnt auch, dass die sogenannten französischen Theorien zum Teil auf der Lektüre von deutschsprachigen Autoren wie Heidegger, Husserl, Freud, Hölderlin oder Kafka basierten.[3] Ein Ufer liest das andere Ufer, und dann wechselt die Leserichtung wieder. Im Spiegelkabinett der gegenseitigen Relektüren erweitern sich permanent die Denkräume, die keiner Nation, aber allen Menschen gehören.

Die Zeiten der Kriege zwischen den Nationen waren damals in Europa längst vorbei. Die Kanalisationen blieben, aber die Ländergrenzen wurden geöffnet, und das Thema Europa wurde immer aktueller. Ostdeutsche Städte bekamen an Stelle des Buchstabens ›O‹ von ›Ost‹ die Zahl Null an den Anfang ihrer Postleitzahl gesetzt. Aus der Sowjetunion wurde das neue Russland, das hauptsächlich aus Sibirien besteht, und viele bunte Republiken. Der japanische Kaiser, der den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte, starb, und mit dem Auftritt Chinas auf der Weltbühne wurden die unverarbeiteten historischen Konflikte in Ostasien sichtbar. Der ›Eiserne Vorhang‹ wurde geöffnet, und somit verschwand die alte Aufteilung in Hauptbühne, Hinterbühne und Zuschauerraum. Der Kalte Krieg sollte vorbei sein, aber aus Angst vor der unbekannten Wärme blieb die Welt eingefroren wie der Bildschirm eines Computers, der damals noch keine große Datenmengen verarbeiten konnte.

Eins war sicher. Weigel ging weiter. Damit meine ich nicht, dass sie nicht mehr in ihrer Heimatstadt Hamburg war, sondern nach Zürich und dann nach Berlin ging. Sie ging mit ihrer Forschung weiter, als hätte sie Siebenmeilenstiefel angezogen. Das Adverb, das ich am häufigsten aus Weigels Mund hörte, war wahrscheinlich ›weiter‹: nicht stehenbleiben, nicht aufgeben, keinen Einsiedler spielen, nicht defensiv werden, jede Regression vermeiden, sich nicht in der Einsamkeit bequem einrichten. Sie ging immer weiter, ihr Denken hatte weder die Unentschlossenheit von Hamlet noch wollte es wie bei Odysseus mit einer Heimkehr enden. Eine Ruhepause gab es nicht, soweit ich weiß, höchstens eine kurze Atempause mit einem tiefen Seufzen, das nichts mit Müdigkeit zu tun hatte. Aber die Erkenntnis, dass die Geisteswissenschaft – selbst wenn sie sich die ganze Zeit um die Umkehrung der Machtverhältnisse bemüht hatte – kaum etwas dazu beigetragen hat, kann jemanden mit großem Verantwortungsbewusstsein bitter enttäuschen.

Bei Weigel war die Wissenschaft schon von Anfang an von sozialem Bewusstsein geprägt. Im Vorwort ihrer Dissertation Flugschriftenliteratur 1848 in Berlin (1979) dankt sie ihren Freunden dafür, dass sie, während sie an der Arbeit schrieb, ihr Bewusstsein der ›Nützlichkeit‹ der Forschung auffrischten. Sonst wäre ihr die Abwesenheit von politischen und sozialen Bindungen während der Promotionszeit schwergefallen.

Übrigens ist dies ihre älteste Buchveröffentlichung, die vor einem bald halben Jahrhundert erschienen ist. In ihrem Ansatz, die Flugschriften als literarische Gattung unter die Lupe zu nehmen, sehe ich eine Seelenverwandtschaft mit Benjamin. Der brach die Hierarchie zwischen den Gattungen auf, indem er alles, was als Spur der Geschichte zu lesen ist oder als Materialisierung des Gedächtnisses erscheint, ernst nahm. Ich denke an die Pariser Passagen, in denen die ›Lesestoffe‹ anders sortiert sind als in einer Bibliothek: Die Gedichtbände von Baudelaire stehen neben antiquarischen Kinderbüchern und Spielzeug, politische Karikaturen neben vergilbten Postkarten und Privatfotos.

Weigels Werkstatt scheint von Anfang an eine Nähe zu Benjamin gehabt zu haben, und in den späteren, wichtigen Büchern wie Grammatologie der Bilder (2015) trägt diese Nähe saftige Früchte. Trotz der Grammatologie im Titel spielt Derrida in diesem Buch die Rolle des Negativs. Was er hätte tun können, aber nicht geschafft hat, ist, über die Schriftbilder hinaus ›Bilder‹ zu ›lesen‹. Hingegen war der wichtigste Gesprächspartner in diesem Buch Walter Benjamin, der das letzte Wort hat.

In Weigels Dissertation und anderen früheren Schriften spürt man den Anspruch, politisch wirksam zu sein, aber nicht auf die Philosophie zu verzichten. Ihre Tätigkeiten standen zwar oft im unmittelbaren Dialog mit dem Weltgeschehen und der Politik, wie im Fall der Anthologie Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern (2007), die sie herausgab. Die Wissenschaft scheint, egal wie gründlich, vielseitig oder nah an der Realität sie betrieben wird, keinen direkten Einfluss auf das Handeln der Politiker auszuüben. Mir ist aber aufgefallen, dass Weigel in den letzten Jahren auch konkrete politische Vorschläge machte. Ein gutes Beispiel dafür ist die Studie Transnationale Auswärtige Kulturpolitik – jenseits der Nationalkultur. Voraussetzungen und Perspektiven der Verschränkung von Innen und Außen, die im Rahmen des Forschungsprogramms des ifa Institut für Auslandsbeziehungen entstanden ist. Sie erreichte direkt die Ohren der Politiker, anders als kulturwissenschaftliche Arbeiten, die oft in internen Kreisen bleiben.

Weigel war nie dafür, ›unter sich‹ zu bleiben. Das ist eine der kostbaren Spielregeln, die ich von ihr gelernt habe. Sie blieb nie in einer Zunft der Spezialisten, die auf einen Autor, eine Epoche oder ein Thema fixiert sind. Trotz der kritischen Distanz zum Mainstream der Wissenschaft bequemte sie sich nie in eine Nische der ›Alternativen‹, sondern mischte sich bewusst dort ein, wo es ums Ganze ging. Während sie das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin leitete, brachte sie Menschen aus vielen Disziplinen zusammen, deren Aufzählung mich durch ihre Farben und Formen wie ein Spiel mit einem Kaleidoskop inspiriert: Hirnforscher, Performancekünstler, Orientalisten, Kriminalisten, Historiker, Ethnologen. Ich war nur ab und zu als ein Gast bei einer Veranstaltung dort, und was ich mitbekam, war nur ein kleiner Teil der titanischen Angebote.

Der Begriff ›multikulturell‹, der in den 1980er Jahren mit guter Absicht verwendet wurde, erinnerte mich manchmal an eine Art Stadtteilfestival, auf dem verschiedene Nationen friedlich nebeneinander ihre Spezialitäten anbieten. Wichtiger wäre aber eine anstrengende Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Ansichten über Gender, Demokratie und weitere Themen, die jeweils aus verschiedenen kulturellen Hintergründen stammen. Der Zusammenstoß wird zuerst die idyllische Harmonie in der ›bunten‹ Welt zerstören, jedoch ist er für das Zusammenwachsen einer heterogenen Kultur notwendig. Sonst führt das Nebeneinander zur gesellschaftliche Spaltung und möglicherweise zu Gewalt, wie Terroranschlägen.

Wie kann aber jede Gruppe ihre Andersartigkeit behalten und trotzdem nicht getrennt vom Ganzen sein? Wie kann man eine benachteiligte, manchmal fast unsichtbare Gruppe ins große Boot holen, ohne sie einzuverleiben? Der Begriff der ›Minderheiten‹ verfolgt mich, seitdem ich in Deutschland lebe. Am Anfang meiner schriftstellerischen Karriere profitierte ich unfreiwillig von den steigenden Aktien der ›Minderheiten‹, weil ich als Frau und als Ausländerin kategorisiert wurde. Viel später thematisierte ich die Rolle der Minderheiten in meinem Roman Etüden im Schnee (2014).

Ist die Literatur nur ein Karneval, in dem die Machtverhältnisse auf den Kopf gestellt werden, um die Ordnung im Alltag zu stabilisieren? Oder sollte die Literatur eine reale Revolution zum Ziel haben? Bei der Gattung der Flugblätter war Letzteres tatsächlich der Fall. Aber der rote Faden, der sich durch die Forschung zog, war keine Revolution, sondern eher die Reihe der Probleme, die die Revolution mit sich bringt. Ab jetzt verwende ich deshalb besser das Wort ›Ariadnefaden‹ als ›der rote Faden‹, denn mit der eindeutigen Farbe Rot allein, die für die linke Orientierung steht, kann man den Weg aus dem Labyrinth nicht finden. Minotaurus ist besiegt, aber was nun? Georg Büchners Dantons Tod war einer der besten literarischen Texte, die ich in Weigels Seminaren las. Seine Sprache prägte mich und führte mich weiter zu Heiner Müller. Beide arbeiteten mit den rohen Materialien der Geschichte. Sie zitierten aus nichtliterarischen Quellen und montierten sie so in den eigenen Text, dass das Zitat seinen fremdartigen Charakter nicht verliert und somit eine Plastizität in der Sprache erzeugt. Ein ungeheures Bild wie ›die Revolution frisst ihre Kinder‹, das dadurch zustande kommt, ist so transnational, dass man von Kambodscha bis Rumänien sofort versteht, was gemeint ist.

Die historischen, sprachlichen Materialien gewinnen literarische Kraft, wenn man sie in jenem Augenblick fängt, in dem sie als Wiederkehr des Verdrängten auf der Oberfläche erscheinen und sichtbar werden.

***

Ein anderer Ariadnefaden, den ich nicht unerwähnt lassen möchte, betrifft die Stimme. Zum ersten Mal wurde mir das Thema durch Weigels Stimme der Medusa (1987) bewusst. Das Bild der Frau, die im Schrecken erstarrt, wird zum Bild, das den Betrachter erschreckt. Das passt gut zum Begriff des Feminismus, dessen Erwähnung allein uns heute lähmt, langweilt oder sogar erschreckt, obwohl er ursprünglich den vor Schreck eingefrorenen Geist wieder bewegen sollte. Der Feminismus ist zur Medusa geworden, aber zu keiner ungeheuerlichen. Diese ist zur Zeit nur im kleinen Ich-Format der MeToo-Bewegung zu sehen, die ohne jeden theoretischen Anspruch neben den Werbefotos vom retuschierten Frauenkörper steht.

Was mich aber bei der Medusa in unterschiedlichen Zusammenhängen faszinierte, war das Denken zwischen der Stimme und dem Bild. Der weibliche Körper als Allegorie, als Kunst, als Schrift, als Gedächtnis und am Ende als ein Klangkörper für die Stimme. Zwei Autorinnen, die in Weigels Forschung präsent sind, haben bei mir Spuren hinterlassen. Die eine ist Ingeborg Bachmann, nach deren Lektüre ich den Roman Das Bad (1989) schrieb.

Die zweite Autorin ist Unica Zürn, die in ihrer Anagrammdichtung Sätze radikal auseinandernahm und mit ihren Buchstaben arbeitete. Ich muss immer wieder an ihre Zeile »Wir lieben den Tod«[4] denken und wie sie mit den gewonnenen Buchstaben die neue Zeile »Rot winde den Leib« schrieb. Aber am Ende des Gedichtes kam doch wieder die Anfangszeile mit dem Tod. Zürn hat den Tod selbst in ihr Leben eingeleitet. Weigel untersuchte das genderspezifische Verhältnis zwischen dem Körper der Kunstschaffenden und dem Objekt der Kunst.

Neulich nahm ich den Roman von Susan Taubes in die Hand, der 2021 in der deutschen Übersetzung mit dem neuen Titel Nach Amerika und zurück im Sarg wieder verlegt wurde (der alte Titel lautete Scheiden tut weh). Weigel charakterisiert im Vorwort dieser neuen Ausgabe den Roman als Autobiographie einer Toten oder als Antiroman, bei dem »nicht Erinnerung der Lebensgeschichte als Vermächtnis der Erzählerin, sondern deren Tod […] Voraussetzung des Romans« sei.[5] So schlägt sie einen Bogen zu Ingeborg Bachmanns Roman Malina, der in einer anderen Weise auch den Tod als Voraussetzung hatte.

Dieser Ariadnefaden führt mich nicht zur heutigen Genderdebatte, sondern zu Hannah Arendt. 2016 hörte ich Weigels Vortrag mit dem Titel Sounding Through – Poetic Difference – Self-Translation: Hannah Arendt’s Thoughts and Writing Between Different Languages, Cultures, and Fields. Er begann mit der Beschreibung von Arendts Stimme, die ihren Denkrhythmus über die zeitliche und kulturelle Grenze hinaus weiter bewahrt. Nichts ist präsenter als die Stimme, sie ist überhaupt ein Beweis dafür, dass eine bestimmte Person, und keine andere, dort ist. Es ist kein Zufall, dass eines der deutschen Wörter für diversity ›Mehr-Stimmigkeit‹ ist. Als sprechende Stimme kann man aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Als Stimme ist jeder Mensch er selbst und gleichzeitig ein Teil einer oder mehrerer Kulturen. Hingegen wird man gleich einer Rasse oder einem Geschlecht zugeordnet, wenn man eine bildliche Identität annimmt, die an körperlichen Merkmalen festgemacht wird.

Eine Stimme kann nicht nur ein Gespräch mit Lebenden führen, sondern auch die Verstorbenen ansprechen oder nach einem Verlust klagen oder singen. Eines der Themen, mit denen Weigel sich schon eine Weile beschäftigt, auch wenn es noch keine Monografie dazu von ihr zu lesen gibt, hat sehr viel mit der Stimme zu tun: die Gattung der Oper. Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ein Opernbuch ihre lange Veröffentlichungsliste noch länger macht.

 

 

[1] Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Aufsätze, Essays, Vorträge, Bd. II, 1, Frankfurt a.M. 1977, S. 377.

[2] Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit: Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt a.M. 1997, S. 19.

[3] Ebd., S. 21.

[4] Unica Zürn: Anagramme, Berlin 1988, S. 15.

[5] Sigrid Weigel: »Vorwort«, in: Susan Taubes: Nach Amerika und zurück im Sarg, übers. von Nadine Miller, Berlin 2021, S. 6.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Yoko Tawada: Ariadnefäden als Harfensaiten des Denkens, in: ZfL Blog, 19.4.2023 [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/04/19/yoko-tawada-ariadnefaeden-als-harfensaiten-des-denkens/]
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20230419-01

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