Eva Geulen: KEIN DIENSTBARER GEIST: NACHRUF AUF WOLFGANG SCHIVELBUSCH (1941–2023)

Das ZfL dürfte die einzige Institution gewesen sein, der er je nähergetreten ist. Als Senior Fellow schätzte er vor allem den Zugang zur Bibliothek des Hauses, wo man ihn häufig im Gespräch fand mit den Bibliothekarinnen oder anderen Besuchern, stets neugierig, mitteilungsfreudig, und meistens heiter. Manche Jüngere haben erst im Laufe der Zeit erfahren, dass der muntere ältere Herr so berühmt war. Ansonsten pflegte er gewissenhaft Abstand zu allem Institutionellen. Die Position des nicht direkt involvierten Beobachters war ihm schon während des Studiums in Frankfurt a.M. und Berlin zur zweiten Natur geworden. Sie befähigte ihn zeitlebens zu oft überraschenden, häufig provozierenden Ansichten, die sich mit Eitelkeit nicht vertrugen. Wolfgang konnte sehr charmant sein, aber er war vollständig uneitel.

Distanz (ohne Nietzsches Pathos) hat er in den vielen Jahren, die er halbjährlich zwischen New York und Berlin pendelte, auch geographisch beim Wort genommen und gelebt. Die Qualität des Beobachterpostens wurde in seinem autobiographisch gefärbten, vor allem jedoch methodologisch aufschlussreichen Buch Die andere Seite (2021) als »machtlose Souveränität« charakterisiert. Die entsprechende Existenzform eines Privatgelehrten schwebte Walter Benjamin, den man neben Norbert Elias und Siegfried Kracauer getrost unter Wolfgangs geistige Väter rechnen darf, noch vor, als deren gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen längst verschwunden waren. Wolfgang war passioniert, aber pragmatisch. Abgesehen von gelegentlich übernommenen Auftragsarbeiten wie den Studien zur Frankfurter Intelligenz in den 20er Jahren (1982) hat er seine Forschungen ausschließlich und kontinuierlich über solche Anträge finanziert, die heute aus der Perspektive der Universitäten Drittmittel heißen. Es hat ihn betrübt, als in jüngerer Zeit ein solcher Antrag einmal abgelehnt wurde. Die Entscheidung sagt einiges über die Entwicklung von Drittmittelbetrieb und Evaluierungswesen, aber nichts über ihn. Und das Buch schrieb er selbstverständlich trotzdem. So wenig wie die übrigen ist es aus der intellektuellen Landschaft seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wegzudenken. Ein jedes ist heute ein vielfach wieder aufgelegter und übersetzter Klassiker.

Als Ein-Mann-Forschungsinstitution hat Wolfgang ein denkbar breites Themenfeld bearbeitet. Es reicht von der Geschichte der Eisenbahnreise (1977) über die Bedeutung der Genussmittel (1980) und die Elektrifizierung der Großstädte (1983) bis zu Analysen über die Kulturpolitik in Berlin in der kurzen Spanne nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und vor dem Fall des Eisernen Vorhangs (1995), die Kultur der Niederlage (2001) und das Verschwinden des geordneten Rückzugs aus der Geschichte der Kriege (2019). In Technik-, Mentalitäts-, Intellektuellen- oder Militärgeschichte und auch im wohlfeilen Label der ›Kulturgeschichte‹ geht keines auf – wenngleich die Frage nach Gewinnern und Verlierern der Geschichte eine Konstante im Werk darstellt.

Bei den Verlierern war er schon deshalb, weil ihn stets die Einzelfälle interessierten, das Besondere – pathetisch und mit Adorno gesprochen: das Inkommensurable –, dessen Anspruch auf Repräsentation er zu seiner Sache machte. Seine Gabe zur plastischen Darstellung ist fraglos; der Verführung zum Panoramatischen widerstand er. Im Vorwort seines Buches über die Intellektuellendämmerung im Frankfurt der 20er Jahre (1982) heißt es lakonisch verkürzt: »Begründungen, weshalb diese und nicht andere Fälle, werden nicht gegeben. Die einzige Linie, die systematisch verfolgt wurde, bestand darin, bereits Bekanntes nicht noch einmal zu erzählen, sondern das wenig Bekannte bzw. Unbekannte bekannter zu machen.« ›Schule gemacht‹ haben seine kanonischen Bücher gleichwohl nicht; daran lag ihm erstens wenig und zweitens war es auch gar nicht möglich, weil sein Gespür für das vernachlässigte Detail – etwa die grotesken Schicksale der Bibliothek von Löwen in den beiden Weltkriegen (1988) – einer individuellen Sensibilität fürs Konkrete geschuldet war, aus der sich keine zu befolgenden Regeln abstrahieren ließen. Seine Themen fanden ihn, nicht umgekehrt.

Gleichwohl und vielleicht eben deshalb war Wolfgang Schivelbusch der geheime König der Kulturwissenschaften, lange bevor deren Institutionalisierung begann und abseits der vielen theoretischen Debatten seit 1968. Allerdings sollte man seine gleichsam vitalistische Rhetorik der Theorieabwehr zugunsten der materialen Dinge nicht überbewerten. Wie sehr ihn theoretische Fragen betreffen konnten, ist seiner Studie Das verzehrende Leben der Dinge. Versuch über die Konsumtion (2015) zu entnehmen, die sich einer späten, aber zündenden Lukrez-Rezeption verdankt. Da schien ihn einmal eine Theorie anzulächeln. Aber er reagierte in der Tat allergisch auf geläufige Formen der Theoriebildung und besonders auf den meistens dazugehörigen Jargon. Für beides besaß er einen untrüglichen Instinkt und hielt mit seiner tiefen Abneigung auch nicht hinter dem Berg. So gesehen unbekümmert ergriff und verfolgte er, was ihn jeweils in Bann geschlagen hatte. Die Intuition gab dann jedoch der akribischen Materialrecherche statt. Wie ihm die luzide und elegante Darstellung gelang, die pointierende Auswahl und Konstellation der Funde, das bleibt sein Geheimnis.

Physiognomischer Blick, morphologische Intuition und rastlose Tätigkeit am Material erinnern vielleicht nicht nur mich an Goethe. (Das Motto für Intellektuellendämmerung stammt von Eckermann.) Das Verhältnis dieses Kulturhistorikers zur Literatur ist jedenfalls ein eigenes und nicht zu unterschätzendes Kapitel. Wolfgang Schivelbusch hat als Literaturwissenschaftler begonnen, bei Szondi gehört (von dem er so fasziniert war wie viele andere in dessen Umfeld, deren hagiographische Tendenzen und Rivalitäten ihn jedoch abstießen) und wurde mit einer Arbeit zum sozialistischen Drama nach Brecht (1974) von Hans Mayer promoviert. Zu den Quellen, die er weniger anzapfte, als dass es ihm aus ihnen, wenn die Wünschelrute der Intuition einmal ausgeschlagen hatte, reich entgegensprudelte, gehörte mit großer Selbstverständlichkeit auch die Literatur. Und darunter verstand er nicht bloß literarische Texte, sondern auch eine latente Qualität historischer Wirklichkeiten. Eine Stelle aus Die andere Seite deutet in diese Richtung. Mit Bezug auf den Untertitel von Kracauers Filmbuch heißt es dort: »Kracauer spricht von ›Rettung der äußeren Wirklichkeit‹. Ich nenne es ›poetisch‹. Kracauer nicht. Das macht ihn so wunderbar, dass er für die Poesie spricht, ohne das Wort beim Namen zu nennen. Nicht von, sondern für.«

Einen herausgehobenen Platz in Wolfgangs intellektuellem Universum behauptet allerdings auch die ikonographische Tradition, insbesondere Fotografien. Der üppig bebilderte und großformatige Band Licht, Schein und Wahn (1992) gibt einen Eindruck von ihrer Bedeutung für das Gesamtwerk. Im Dialog mit den Bildern und voller Hochachtung vor ihren vieldeutigen Details rekonstruiert er dort die Geschichte der Licht- und Belichtungsverhältnisse, von den frühen Phantasmagorien der Weltausstellungen bis zur Lichtarchitektur seiner Gegenwart. In Fotos fand er häufig auch Sprengsätze für zeitdiagnostische Überlegungen. Für den ZfL-Blog hat er 2017 unter dem Titel »Der wichtigste Satz, der mir je gestrichen wurde« von seiner Kommentierung einer Fotografie der siegreichen US-Generäle kurz nach dem Irakkrieg erzählt. Das Bild erschien ihm bemerkenswert, weil die unterlegenen Generäle der Gegenseite anders als in der langen Tradition der Kapitulationsverträge üblich nicht mit den Siegern am Tisch saßen: »Diese uralte Gemeinschaft der Sieger und Verlierer fehlte in diesem Bild.« Der Satz, den er damals nicht bringen durfte, ist heute eine Binsenwahrheit: »It may well be that instead of the ever more elusive idea of a cache of weapons of mass destruction – on behalf of which the war was started – the real danger for America may turn out to be the army that presumably vanished into nowhere, but possibly into the underground.«

Hinter und neben dem einen Bild oder dem einen Fall stehen immer zahlreiche andere, die man kennen muss, um die Besonderheit des einen zu begreifen. Beim Vergleichen als heuristischem Verfahren, das sich ohne ein vorausgesetztes tertium comparationis den Dingen nähert, kommt alles auf die Gewichtung und Mischung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten an. Wolfgangs Forschungsinteresse an der Geschichte der Eisenbahnreise, das ihn ursprünglich in die USA geführt hatte, begann mit der faszinierten Beobachtung, dass die amerikanischen Eisenbahnen bis heute eher die Anmutung eines Schiffes haben, während das Vorbild des europäischen Eisenbahnabteils die Kutsche war. Was man im Ausgang von dieser Beobachtung über die Geschichte der Technik in Europa und Amerika lernen kann, führt das preisgekrönte Buch des damals 36-Jährigen glanzvoll vor Augen. Der Erschließungskraft des unbefangenen und pietätlosen Vergleichens ist Wolfgang treu geblieben, auch und gerade in Gestalt der amerikanisch-europäischen Doppelperspektive. Sie spielt in Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933–1939 (2005) eine ebenso entscheidende Rolle wie in Die Kultur der Niederlage: Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918 (2001).

Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass der tiefere Grund für die jahrzehntelange Pendlerexistenz zwischen Amerika und Deutschland die open stacks der New Yorker Bibliotheken gewesen sind. Das freie Stöbern und Blättern in thematisch und chronologisch organisierten Bücherbeständen war ein wichtiger Teil der Arbeit an seinen sorgfältig recherchierten Büchern. Wirklich zu Hause bei sich und mit den Dingen war er in der Bobst Library der New York University. Deren universitären Betrieb hielt er sich auch dort vom Hals. Als wir uns gerade kennengelernt hatten, habe ich ihn einmal zu einem Besuch in eine Lehrveranstaltung an der NYU gebeten. Den Fehler habe ich kein zweites Mal gemacht. Er empfand die Situation als Zumutung und agierte entsprechend.

So sehr Wolfgang Schivelbusch der akademische Betrieb in all seinen Formen suspekt war und ihn zu Zeiten regelrecht anwidern konnte, so sehr schätzte und pflegte er das kollegial-intime freundschaftliche Gespräch, am liebsten zu zweit. Unseres hat er 1997 in New York initiiert. Abgebrochen ist es erst mit seinem Tod. Über Jahre trafen wir uns ein- oder zweimal im Monat im winzigen Café Ceci Cela in der Spring Street auf klapprigen Stühlchen zu planloser Plauderei. So schien es mir jedenfalls, wenn wir einander mitteilten, was uns gerade beschäftigte, und auch das politische Tagesgeschehen nicht zu kurz kam. Ich habe erst sehr viel später begriffen, wie wichtig ihm solche Gespräche waren und welchen systematischen Stellenwert sie für seine Arbeit hatten. Immer ging es darum, neue Ideen an einem Gegenüber gleichsam auszutesten, gesprächsweise einen Gedanken zu entwickeln und idealiter gemeinsam weiterzuspinnen. Während meiner Jahre in Bonn ruhte das Gespräch. Allerdings meldete sich Wolfgang gelegentlich per E-Mail mit irgendeinem Fund. Ich erinnere mich an ein Zitat aus einer Erzählung von Stifter über Menschen, die in den Straßen »hin und wider gingen«. Er hatte hinzugefügt: »Das fand ich bemerkenswert.«

Beglückt über das Wiedersehen und als sei gar keine Zeit vergangen, haben wir das Gespräch 2015 in Berlin wieder aufgenommen. Der Spätsommer jenes Jahres war geprägt von Flüchtenden. Wolfgang nahm angesichts der Bilder das alte und mir ganz fremd vorkommende Wort der ›Völkerwanderung‹ in den Mund. Für Merkels ›Wir schaffen das‹ und die deutsche Willkommenskultur (die dann ja auch schnell verflogen war) hatte er nur Hohn übrig. (Zu seinem vermeintlichen ›Rechtsruck‹ und weiteren Überlegungen zur Politik der jüngeren Zeit lese man die Schlusskapitel der Anderen Seite.) Auch wir beide waren gerade in jenen Tagen keineswegs immer derselben Meinung. Aber unser Streiten ruhte auf festem Grund. In seinen oft spontanen politischen Urteilen und Stellungnahmen war Wolfgang verlässlicher als der Weltenlauf, der ihm mehr als einmal Recht gegeben hat. Zu dieser Verlässlichkeit gehörten wesentlich zwei Dinge. Zum einen misstraute er dem Mainstream grundsätzlich und so weitgehend, dass er sich trotzig und gewissermaßen für- und vorsorglich auf den Standpunkt und die Seite der Verlierer stellte. Seine Sympathien galten stets denen, die ihm in einer bestimmten Situation als die Abgehängten und Underdogs erschienen. Zum anderen waren ihm auch zeitlich weit entlegene Gegenstände sozusagen leibhaft nah. Offenbar gab es für ihn in der Geschichte einen Bodensatz des nicht Historisierbaren. Das ist für einen ausgewiesenen Historiker gewiss ungewöhnlich, aber Wolfgang hatte so etwas wie einen sechsten Sinn für eine Dimension der Geschichte, die in der üblichen Historiographie eher nicht vorkommt. Auch deshalb wurde ihm 2005 der Aby-Warburg-Preis verliehen. Aufgrund seiner besonderen Disposition im Umgang mit historischem Material mussten Wolfgang bei den Bildern aus dem Spätsommer 2015 die Völkerwanderungen zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert einfallen, neben und vielleicht sogar noch vor den Flüchtlingstrecks nach den Weltkriegen.

In derselben Weise mögen ihn die Bilder vom Sturm auf das Kapitol in Washington vom 6. Januar 2021 bewegt haben, ein altes Buchprojekt wiedervorzunehmen. Die dem auf Englisch verfassten Exposé beigefügte Kapitelübersicht historischer Palasteroberungen reicht von den revolutionären Stürmen auf Versailles und die Tuilerien 1789 bzw. 1792 bis zum Auftritt der US-Armee in Husseins Bagdad 2003. Hätte er noch Zeit gehabt, diesen Plan auszuführen, wäre der Mob im US-Kapitol gewiss hinzugekommen und in anderer Richtung vielleicht auch gesprächsweise erwähntes Älteres. Mit den Palastergreifungen ging es ihm nicht um den Nachweis, dass die Geschichte sich wiederholt, sei es als Tragödie oder als Farce. Das wäre ein grobes Missverständnis dieses nicht realisierten Projektes sowie aller vorangegangenen. Unter historiographischen Gesichtspunkten ist die Palastergreifung keine signifikante historische Größe, meistens bloß ein Nachspiel und fast ohne Bedeutung für die Geschichte der Sieger. Aber gerade deshalb verdichtet sich in ihr das Drama der Geschichte. In Wolfgangs eigenen Worten:

»What distinguishes it from all the other actions involved in history-making, is its double-life in the real and in the symbolic world. Its fascination as drama may be explained by Aristotle’s classic definition. Drama, according to Aristotle, is the unity of place, time and action. The conquest of the palace is drama in its purest and densest form. As a fixed image it conveys a sense of grandeur and the fatality of history, not unlike the Piranesi engravings of Roman ruins (such as Nero’s Casa Aurea) that look like illustrations of/to Gibbon’s Decline and Fall. In this sense the conquered palace is the concentration of the Decline-and-Fall-Process into one moment and one spot.«

Auf diese Sätze folgt in harter Fügung die nüchterne Kapitelanlage des projektierten Buches. Hätte er es geschrieben, wüssten wir nicht nur mehr über die Geschichte von Palastergreifungen mit ihren jeweiligen Kontexten und Spezifika, sondern auch etwas mehr über die Rolle von Drama und Passion in der Geschichte und im Leben ihres quecksilbrigen und noch im Alter mit seinen Mühen bis zuletzt quicklebendigen Anwalts.

Die Welt ist ärmer ohne Wolfgang Schivelbusch. Es ist schön, dass das ZfL ihm in seinem letzten Lebensjahrzehnt ein Ort der Arbeit und der Begegnung sein konnte und einige von uns ihn ein Stück weit begleiten durften.

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL.

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Eva Geulen: Kein dienstbarer Geist: Nachruf auf Wolfgang Schivelbusch (1941–2023), in: ZfL Blog, 3.4.2023 [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/04/03/kein-dienstbarer-geist-nachruf-auf-wolfgang-schivelbusch-1941-2023/]
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20230403-01

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