Zaal Andronikashvili: GEORGISCHE LITERATUR HEUTE. Zwischen ›kleiner Literatur‹ und ›Weltliteratur‹

2018 ist Georgien Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Zum ersten Mal nach der Wende wird die georgische Literatur damit prominent in einer fremden Sprache präsentiert. Gerade die Literaturen kleiner Nationen sind auf internationale Anerkennung dieser Art besonders angewiesen. Doch gibt es einen qualitativen Unterschied zwischen Literaturen ›kleiner‹ und ›großer Nationen‹? Diese Frage ist im Spannungsfeld zweier Konzepte zu diskutieren, die mit dem der Nationalliteratur als lange dominierendem Ordnungsprinzip literarischer Texte konkurrieren: kleine Literatur und Weltliteratur.

Der dänische Literaturkritiker Georg Brandes, der selbst aus einer kleineren Sprachkultur kam, war sich schon Ende des 19. Jahrhunderts der Ungleichheit der Literatursprachen im Wettbewerb um internationale Anerkennung bewusst. Die unterschiedliche Verbreitung der Sprachen führe dazu, dass ›zweitrangige Werke‹ in einer weit verbreiteten Sprache wie Französisch bessere Chancen hätten, unabhängig von ihrem künstlerischen Wert Weltruhm zu erlangen, als erstrangige Werke einer weniger verbreiteten Sprache wie etwa Dänisch. Da für Brandes die Übersetzung zwangsläufig einen Qualitätsverlust bedeutete, sah er für Autoren aus kleineren Sprachen zwei Gefahren: entweder zu lokal ›für die eigene Straße‹ oder zu global ›für die ganze Welt‹ schreiben zu wollen.

Ist die Literatur einer kleinen Nation nun zwangsläufig eine ›kleine Literatur‹? In seinen Tagebucheinträgen vom 25. und 27. Dezember 1911 prägte Kafka diesen Begriff, der insbesondere seit Deleuze und Guattaris Buch Kafka. Für eine kleine Literatur (1975) in der Literatur- und Kulturwissenschaft etabliert ist. Kafkas kleine Literatur entspricht in etwa dem, was Brandes als Schreiben ›für die eigene Straße‹ bezeichnete, sie dient den Belangen einer überschaubaren Gruppe. Kafka zählte dazu die jüdische Literatur in Warschau oder die tschechische Literatur. Eine kleine Literatur gewährleiste »das einheitliche Zusammenhalten des im äußeren Leben so oft untätigen und immer sich zersplitternden nationalen Bewusstseins« und gebe einer kleinen Nation »de[n] Stolz und de[n] Rückhalt […] für sich und gegenüber der feindlichen Umwelt«. Für Kafka hat kleine Literatur ein enormes emanzipatorisches Potential – auch hinsichtlich der Formen.

Mit Blick auf das politische Potential kleiner Literatur, verstanden als Literatur einer Minderheit, die in einer anderen Sprache schreibt, erweitern Deleuze und Guattari Kafkas Verständnis auch auf ›große Literaturen‹. Die französische Literaturwissenschaftlerin Pascale Casanova hingegen betrachtet in ihrem Buch La république mondiale des lettres (1999) kleine Literaturen wieder mehr im Kafka’schen Sinne als Literaturen kleiner Nationen. Jedoch sieht sie in der Kongruenz von politischen und literarischen Interessen eher ein Indiz ihrer Provinzialität. Diese sei ein Hindernis für ihre Autoren, die zu weltweiter Geltung nur durch die Abkehr von ihren nationalen Wurzeln gelangen könnten. So bescheinigt sie den kleinen Literaturen eine unbedeutende literarische Tradition sowie einen Hang zu Realismus und Folklore, während die Avantgarde ›großer Literatur‹ vorbehalten bleibe. Bei aller Kritik an Casanovas Weltliteraturmodell, das den Literaturen kleiner Nationen jegliches Innovationspotential abspricht: Sie erkennt, dass ›kleine Literatur‹ und ›Weltliteratur‹ komplementäre Begriffe sind: Der eine Begriff ist ohne den Bezug auf den anderen kaum zu bestimmen.

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Am Beispiel der georgischen Literatur lassen sich die theoretischen Überlegungen zu den kleinen Literaturen veranschaulichen. Denn versteht man kleine Literatur als eine Literatur kleiner Nationen, ist die georgische Literatur ihr ohne Zweifel zuzuordnen, da das Georgische nur etwa vier Millionen Sprecher hat. Die beiden Kriterien allerdings, die Kafka für die kleine Literatur hervorhob – die Überhöhung der Literatur innerhalb einer Kultur und die fehlende literarische Tradition als Motor der Entwicklung –, treffen auf die georgische Literatur nicht zu. Denn die 1.500-jährige literarische Tradition hat herausragende Texte hervorgebracht und wurde selbst von den georgischen Avantgarden nie gänzlich infrage gestellt.

Die Geschichte der modernen georgischen Literatur ist geprägt von Auseinandersetzungen über ihre Geltung: Auf dem 1. All­unionskongress sowjetischer Schriftsteller 1934 ging es unter anderem um die neu zu begründende multinationale Sowjetliteratur. In seinem Vortrag über die georgische Literatur verfolgte der Leiter der georgischen Delegation Malakia Toroschelidse (1880–1937) die Geschichte der georgischen Literatur bis ins 5. Jahrhundert zurück: »Um die zeitgenössische georgische Literatur zu verstehen«, müsse man »ihre Ursprünge kennen. […] Die altgeorgische Literatur darf man nicht zu den kleinen Literaturen provinzieller, lokaler Größe zählen, sondern sie muss zu den großen Literaturen gerechnet werden.« Dies wurde als Zurückweisung von Gorkis These aus dessen Zentralvortrag verstanden, unter den sowjetischen Literaturen besitze allein die russische Literatur Weltrang, die verschiedenen Nationalliteraturen dagegen warteten noch auf ihre Puschkins. Während Gorki darauf abzielte, die russische Literatur als Richtschnur für die Nationalliteraturen innerhalb der noch zu schaffenden Sowjetliteratur zu etablieren, propagierte Toroschelidse somit einen georgischen Sonderweg. Nicht an der russischen oder anderen Gegenwartsliteraturen habe sich die literaturkritische Bewertung zu orientieren, sondern an der Geschichte der eigenen, der georgischen Literatur.

Für georgische Autoren und Autorinnen kam es kaum je infrage, ihre eigene Sprache als Literatursprache aufzugeben und in einer anderen zu schreiben, zumal der russischen. Die starke literarische Tradition – dies meine These – bietet nicht nur eine reiche Palette literarischer Ausdrucksmöglichkeiten. Vielmehr gewährleistet das Schreiben in und aus der eigenen literarischen Tradition ihre Internationalität. Denn auch wenn georgische Autoren sich als ›Vertreter‹ der georgischen Literatur verstehen, ist ihr Horizont weder inhaltlich noch formal auf Georgien beschränkt, und sie wenden sich nicht nur an eine nationale, sondern an eine internationale Leserschaft. Doch sie stehen vor einem Problem: Sie werden außerhalb ihres Sprachraumes wenig rezipiert. Das liegt nicht an der Qualität der Texte, sondern an der fehlenden Übersetzung in andere Sprachen.

Während bis ins 20. Jahrhundert hinein georgische Literatur außerhalb Georgiens nur von Fachleuten gelesen wurde, erhöhte die sowjetische Übersetzungspolitik, die auf dem Schriftstellerkongress 1934 initiiert wurde, den Bekanntheitsgrad georgischer Literatur außerhalb des eigenen Sprachraumes erheblich. So wurde in Georgien – dies meine zweite These – die Übersetzung in eine Sprache der ›großen‹ Literaturen zum bevorzugten Modell der Internationalisierung, und nicht das Aufgeben der eigenen Sprache zugunsten einer ›größeren‹ Literatursprache. Der Dichter Nikolo Mitsischwili (1896–1937) etwa betrachtete die russische Literatur nicht nur als Inspirationsquelle für die georgische Literatur, sondern das Russische auch als Möglichkeit, eine nationale Grenzen überschreitende Öffentlichkeit zu erreichen. Der Prosaautor Micheil Dschawachischwili (1880–1937) hatte dagegen auf dem Kongress moniert, dass georgische Autoren kaum in nichtsowjetische Sprachen übersetzt würden. Immerhin kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zu Übersetzungen in verschiedene Sprachen des sozialistischen Lagers (auch ins Deutsche), die der georgischen Literatur zu einem guten Ruf östlich des Eisernen Vorhangs verhalfen.

Nach der Wende strebte die georgische Literatur dann auf den internationalen Markt, ohne sich jedoch explizit an englischer oder amerikanischer, deutscher oder österreichischer Literatur zu orientieren. Die Option, auf die eigene Sprache zu verzichten, wie es viele Autoren und Autorinnen der global literature tun, wird im Roman Santa Esperanza (2003, dt. 2006) des erfolgreichsten georgischen Nachwendeautors, Aka Mortschiladse (*1966), thematisiert. Santa Esperanza ist ein fiktives georgisches Archipel im Schwarzen Meer, das unter britischem Protektorat steht. Das Problem der Literatursprache wird am Beispiel zweier Inselschriftsteller illustriert. Jessica de Rider ist eine georgische Muttersprachlerin, die in Oxford studiert und deshalb ihre Literatursprache ändert. Sie schreibt nunmehr auf Englisch und wird zur Bestsellerautorin, die auf literarische Qualität wenig Wert legt. Ihr Exfreund hingegen schreibt einen anspruchsvollen mehrsprachigen Roman, findet damit allerdings nur eine äußerst begrenzte Leserschaft. Im Roman wird georgische Literatur als so tief in der Tradition verwurzelt dargestellt, dass eine Abkehr von der eigenen Sprache und die Hinwendung zu einer Weltsprache mit Qualitätsverlust einhergehen müssen.

Tatsächlich sind georgische Autoren und Autorinnen heute im Allgemeinen ebenso wenig wie in der Sowjetzeit bereit, ihre Sprache und literarische Tradition aufzugeben. Jüngere, die in einer Fremdsprache schreiben, wie die in Deutschland sehr erfolgreiche Nino Haratischwili (*1983), bilden in dieser Hinsicht eher eine Ausnahme. Stattdessen schreiben viele georgische Schriftsteller heutzutage auf eine potentielle Übersetzung hin, indem sie ihre Ausdrucksformen in der Hoffnung, in Übersetzung auf dem internationalen Markt besser anzukommen, vereinfachen. So kann es passieren, dass die Ausrichtung am Weltmarkt der Literatur der literarischen Ausdrucksvielfalt eher schadet, wie schon der Däne Brandes seinerzeit vermutet hatte.

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›Kleine Literatur‹ und ›Weltliteratur‹ sollten also nicht als wertende Begriffe verstanden werden, die eine Aussage über die Qualität der Texte machen, sondern als Horizonte literarischer Texte, die einander nicht ausschließen müssen. Folgt man diesem Verständnis von Weltliteratur, dann wird man auch zur Pluralisierung des literarischen Kanons durch Texte, die aus vermeintlichen Peripherien kommen, beitragen können. Dafür ist aber eine verstärkte Übersetzungspolitik insbesondere der Literaturen kleiner Nationen in die Weltsprachen unverzichtbar.

Der aus Georgien stammende Literaturwissenschaftler Zaal Andronikashvili arbeitet seit 2006 am ZfL. Sein Essay ist ein Originalbeitrag für das Faltplakat zur Georgien-Forschung des ZfL (Juni 2018).

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Zaal Andronikashvili: Georgische Literatur heute. Zwischen ›kleiner Literatur‹ und ›Weltliteratur‹, in: ZfL BLOG, 14.6.2018, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/06/14/zaal-andronikashvili-georgische-literatur-heute-zwischen-kleiner-literatur-und-weltliteratur/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20180614-01

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