VOM GEIST DER EPOCHENWENDE. Marita Tatari im Gespräch mit Jean-Luc Nancy

Marita Tatari: Lieber Jean-Luc, du sprichst seit Jahren nicht nur von einer Epochenwende*, sondern von einer tiefgreifenden Transformation unserer westlich-globalen Zivilisation, sogar von einer Mutation, in ihren Ausmaßen dem Ende der antiken Welt vergleichbar. Auf dem Spiel stehe bei dieser Mutation demnach ein Geist, ein neuer Geist.

Der Geist des christlichen Europa fand den Wert des Lebens, indem er es mit einer Transzendenz verband. Auf ihn folgte der Geist der Produktion, der das Leben auf die Zukunft projizierte und seinen Wert in dem fand, was Marx »Äquivalenz« genannt hat. Dieser Geist der Produktionswelt hat sich heute erschöpft, und mit ihm das Vertrauen auf den Fortschritt und die beherrschte Geschichte. Wir befinden uns in dieser Erschöpfung und können uns nicht vorstellen, was kommen wird, denn unsere Vorstellung entstammt dem Geist der Produktion, aber das, worum es dir geht, ist ein anderer Geist.

Deine Betrachtung des Okzidents entspricht in mancher Hinsicht jener von Hannah Arendt in Vita activa. Sie spricht darin nicht von Geist, sondern vielmehr von der Geschichte als Geschehnis und Ereignisgeschichte; und so wie du spricht sie von einem Verhalten, von einer Art und Weise, sich zur Endlichkeit als menschlicher Grundbedingung zu verhalten. Aber für Arendt ist dieses Verhalten die Handlung und der Erscheinungsraum, die sie als politisch versteht, während für dich der Okzident selbst sich erschöpft hat. Wenn es also nicht darum geht, sich vorzustellen, was kommt, sondern – wie du in deinem letzten Buch La peau fragile du monde schreibst – um eine Praxis, ein Ethos, eine gelebte und lebendige Disposition, die wir ohne es zu wissen bereits kennen und die von der brauchenden und gebrauchenden Logik der Produktion abweicht: Worauf berufst du dich, um diese Unterscheidung zu treffen? Vielleicht könntest du uns erklären, warum du auf den Begriff des Geists bestehst?

Jean-Luc Nancy: Liebe Marita, das ist eine sehr unangenehme Frage, denn es gibt darauf keine einfache, klare Antwort – umso dankbarer bin ich, dass du sie stellst. Ich verwende das Wort »Geist« (esprit) in Ermangelung eines besseren. »Politik« (politique) kommt für mich nicht infrage, vor allem, seit sich die Unterscheidung zwischen »dem Politischen« (le politique) und »der Politik« (la politique) völlig verunklart hat. Ich habe diese Unterscheidung selbst auch schon vorgenommen, bin aber mittlerweile davon überzeugt, dass sie verwirrend ist. Man geht davon aus, das es einerseits »die Politik« gibt, die von Interessen geleitet wird, von Machtbeziehungen, Strategien und Aushandlungsprozessen, und andererseits »das Politische«, eine Art ätherisches Element, das sich aus der Ganzheit aller Beziehungen und letztlich sämtlicher Ziele zusammensetzt. Dieses »Politische« gibt es im Ansatz auch bei Arendt. Nichtsdestotrotz war ihr klar, dass Kunst, Liebe, die Werke des Geistes (wie man auf Französisch die Künste, die Literatur und das Denken nennt) nicht von der Politik erfasst werden – obwohl sie mit ihr grundsätzlich in Beziehung stehen. Aber mir scheint, dass Arendt noch einer idyllischen Sicht auf die politeia verpflichtet war, bei der sie die Verwirklichung menschlicher Wirklichkeit in der öffentlichen Debatte sieht (trotz allem, was sie, wie gesagt, von der Liebe und der Kunst weiß). Nun, diese Sicht ist einerseits historisch nicht richtig, andererseits weiß Arendt selbst, dass es noch etwas anderes als den öffentlichen Raum gibt.

Heute steckt die politische Sphäre fast gänzlich im Inneren des technoökonomischen Komplexes fest, der die Welt regiert. Dass es Völker gibt, ist eine überaus reale Wirklichkeit, die uns der Internationalismus mit all seinen Vorzügen vergessen ließ. Die diesen Völkern eigenen Verwaltungs- und Entscheidungsorgane müssen somit fortbestehen. (Und ich vernachlässige an dieser Stelle die äußerst komplexe Frage nach der Umwandlung bzw. der relativen Beunruhigung dieser Völker an sich.) Doch ein Großteil möglicher Verwaltungs- und Entscheidungsformen hängt von dem Komplex ab, den ich eben angesprochen habe. Dieser schafft übrigens auch für all diese Völker einen allgemeinen Bestimmungshorizont, der nun gerade darin besteht, die große Konsumproduktionsmaschinerie zu befriedigen.

Schon 1919 schrieb Valéry Die Krise des Geistes (La crise de l’esprit), und für ihn hat das Wort »Geist« nichts von dem, was »das Geistige« (le spirituel) allzu oft heraufbeschwört. Er bezeichnete damit das, was man auch Bewusstsein nennen könnte, oder Seele, vielleicht auch Kultur oder Zivilisation – wäre nicht jeder dieser Begriffe zu eng und zu wenig dynamisch, um auszudrücken, worum es geht. Was die »Zivilisation« betrifft, muss man daran erinnern, dass Valérys Buch mit dem berühmten Satz beginnt: »Wir Kulturvölker [civilisations], wir wissen jetzt, dass wir sterblich sind«.[1] Valéry spricht von einem »europäischen Hamlet«:

»Er meditiert über Sein und Nichtsein der Wahrheiten. Die Geister, die ihm erscheinen, sind – alle Probleme, um die wir streiten; unsere Ruhmestitel, für ihn sind sie Gewissensqualen; er erliegt unter der Last der Erfindungen, Kenntnisse, Methoden und Bücher, unfähig, darauf zu verzichten, außerstande, sich dieser grenzenlosen Tätigkeit neu hinzugeben.«[2]

Und später:

»Und ich selbst, bin ich nicht des Schaffens müde? Habe ich nicht meine Begierde nach kühnsten Versuchen erschöpft? Habe ich nicht mit den subtilsten Mischungen Mißbrauch getrieben? Gilt es, meinen schweren Pflichten und meinem transzendenten Streben zu entsagen? Soll ich mich der Strömung überlassen und handeln wie Polonius, der jetzt eine große Zeitung herausgibt? Wie Laertes, der irgendwo Flieger ist? Wie Rosenkrantz, der unter russischem Decknamen ich weiß nicht was treibt?«[3]

Von Kleinigkeiten abgesehen, lässt sich die Aktualität dieses hundert Jahre alten Textes nicht leugnen. Was Valéry als »Geist« bezeichnet, hat nichts Spiritualistisches. Im Grunde ist es einfach nur das, was sich nicht auf die Unterwürfigkeit der Produktion, des Kalküls reduzieren lässt, seien es »kühnste Versuche« oder »subtilste Mischungen«. Geist ist in etwa das, was Bataille »das Heterogene« nennt. Oder aber das, was nicht dem »Projekt« gehorcht, sondern Sinn für das Nutzlose und das Unmögliche hat. Was sich selbst als etwas versteht, das unendlich weit von einem Realen überstiegen wird, einem Realen, das sich nicht beherrschen lässt.

Selbstverständlich hat der Geist vielerlei Verwendungsweisen erfahren, die Zwecken wie dem Göttlichen oder dem Vaterland dienten, dem Volk oder der (wissenschaftlichen) Wahrheit. Man sollte Derridas Vom Geist wiederlesen, darf sich aber nicht darüber täuschen, dass Derrida alle Spiritualitäten herausfordert, um sich schließlich einem ganz anderen Geist zu öffnen – so anders, dass er eher dessen Verflüchtigung spürt, als dass er ihn zu packen bekäme.

All dies in der gebotenen Kürze. Ich möchte gerne einen Satz von Marx zitieren, den ich schon zigmal zitiert habe. Du weißt, dass Marx behauptet, dass Religion das »Opium des Volks«, der »Geist geistloser Zustände« ist. Das heißt, es gibt einen falschen und einen wahren Geist. Marx sagt nicht, welches der wahre ist. Es ist klar, dass es für ihn des Menschen Aneignung seines Eigenwerts ist und dass sich in all diesen Begriffen unzählige Schwierigkeiten und Fallstricke verbergen, die wir heute erkannt und auseinandergenommen, aber noch lange nicht durch andere ersetzt haben. Ich würde deshalb sagen, dass »Geist« heute das einzige zur Verfügung stehende Wort ist, um von einem keinem Humanismus bekannten »Menschen« und von einem unermesslichen »Wert« zu sprechen. Oder genauer gesagt: um das Verhalten angesichts dieser unbekannten Wirklichkeiten oder Bedeutungen zu bezeichnen. Ein Verhalten in Bezug aufs Fühlen ebenso wie aufs Denken, auf Energie ebenso wie auf Empfindsamkeit. Ich könnte es »Atem« nennen, was die primäre Bedeutung von »Geist« ist. Aber das scheint uns heute zu sportlich. Ich könnte auch von »Charakter« sprechen, im Sinne des »Charakters eines Volkes«, was eine Art und Weise, in der Welt zu sein, unterscheidet und »charakterisiert«. Aber dann verliert man die Transzendenz, die den Geist charakterisiert: den Bezug zu einem Realen, zu dem sich keine Beziehung knüpfen lässt. Ohne Zweifel genau das, was »Gott« unter dem Gewicht seines Leichnams erstickt hat …

So viel für’s Erste. Mein Unbehagen bleibt bestehen, und ich habe die Erfahrung gemacht, dass, wenn ich dieses Wort in der Öffentlichkeit ausspreche, sofort der ein oder andere gutherzige Spiritualist auf mich zukommt und seiner Freude darüber Ausdruck verleiht … Deshalb vermeide ich es in der Regel, aber manchmal wage ich es doch … Ich weiß nicht, was kommen wird, aber ich teile Marx’ Bedauern über die »geistlosen Zustände«, umso mehr, als das »Opium« heute stärker verbreitet ist als zu seinen Zeiten, in Form von Drogen und unterschiedlichen Spiritualitäten, evangelikalisch oder schamanisch, auch wissenschaftlich oder politisch (ich meine hier politische Imaginationen, nicht Praktiken), technologisch usw.

MT: Der Geist als der Geist eines Weltmoments und zugleich der Geist, der das jeweilige Weltmoment ermöglicht, erinnert in der Tat an Heidegger und Derridas Vom Geist. Denn als Bezug zu einem Exzess oder zu einem absoluten Überschuss ist er tatsächlich das Korrelat einer Investitionslogik, die du, wie du in La peau fragile du monde schreibst, in den verschiedenen Momenten des Okzidents am Werk siehst, einer Logik, die auf die Aneignung dieses Exzesses abzielt. Das Römische Reich, schreibst du, habe sich einem Projekt gewidmet, das aus seiner eigenen Produktion und seinem Export oder seiner Ausdehnung bestehe. Das Judäochristentum sei eine Reaktion auf den Reichtum, den Rom bei seinen Verkehrsbeziehungen eingesetzt hat. Und es habe auf den Reichtum von Rom mit den himmlischen Reichtümern reagiert, indem es das Gebiet der Verwirklichung in den Menschen selbst hineinverlegt und ihn damit zur Erneuerung eingeladen habe. Der Kapitalismus habe dann die Weiterentwicklung dieses Investitions- und Expansionsprinzips dargestellt, so dass der Reichtum – und tendenziell jeder Gebrauch – in das Wachstum seiner eigenen Investitionsfähigkeit investiert habe. Wenn sich das Abendland heute selbst erschöpft, so hat diese Behauptung nichts, schreibst du, mit einer teleologischen oder schicksalhaften Vision zu tun: Die Grenze der Investitionen kann nur im Verlust der Investitionsmöglichkeiten bestehen. Derrida sagt am Ende von De lesprit: Es reicht, weiter zu sprechen. Der Geist, so sagt er, wird den Rest erledigen: »Durch die Flamme oder die Asche, aber als ganz Anderes, unvermeidlich«.[4] Das hindert uns nicht daran, die gleiche Frage erneut zu stellen: Wenn keine Schicksalslogik am Werk ist, in wessen Namen sollen wir uns dann heute – im Gegensatz zu den »Transhumanismen« – an die Praxis, das Ethos eines Bezugs zu dieser endlichen Transzendenz, diesem absoluten Exzess, halten? Liegt es nicht daran, dass »wir« seit dem Ende der archaischen Welt des Gegebenen und bis heute noch uns selbst ausgesetzt sind? Uns an dieses Ausgesetztsein halten?

Der Begriff des Anthropozäns, der die Ersetzung der Naturkräfte durch den Menschen bezeichnet und die Beherrschung und Autonomie des Menschen ankündigt, verdrängt, wie du schreibst, die enorme Unsicherheit oder Verwirrung, die mit dieser Beherrschung einhergeht. Statt Kontrolle und guten Gebrauch zu suchen und statt sich eine Zukunft vorzustellen, die beispielsweise ökologisch sein könnte, geht es heute vielmehr darum, wie du mit Heidegger und Augustinus behauptest, den autonomen Wert des »Brauchs« der menschlichen Existenz zu bejahen: die Menschen als gebrauchte*, als benutzte, indem sie ins Spiel gebracht werden, und als der diesem Spiel eigene unendliche Genuss – anstelle des autonomen Menschen. Wie bringt sich das Gemeinsame in dieser Heteronomie des abgenutzten Menschen ein, wenn nicht im Modus des Politischen?

JLN: Ich möchte die Einleitung deiner Frage ein wenig präzisieren. Man könnte meinen, dass die Art und Weise, wie du die beiden Aspekte der westlichen Anfänge darstellst – Rom auf der einen Seite, Judäochristentum auf der anderen –, einen klaren Gegensatz zeigt. Ich gebe zu, dass ich selbst dieser Lesart der Geschichte in manchen meiner Texte Vorschub geleistet habe. Man könnte unterstreichen, wieviel von Heidegger im Hintergrund vorhanden ist – außer, dass er das Judäochristentum vertuscht hat, vielleicht, um es in sein eigenes Denken zu verwandeln, was in der Tat den Gegensatz zwischen der »Seinsvergessenheit« auf der einen und der Treue zum Sinn des Seins auf der anderen Seite akzentuiert.

Doch Heidegger selbst schreibt die fragliche »Vergessenheit« gerade in das »Geschick« des »Seins« ein. So kommt er im Übrigen zu der Aussage, dass die Technik das letzte Seinsgeschick ist – und so konnte er auch dem jüdischen »Menschentypus« die Bürde (oder die Mission?) der »Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein« unterstellen – ich zitiere aus dem Gedächtnis. Aber genau mit dieser Figur des »Juden« führt er einen Manichäismus ein, der in aller Strenge der Einheit von »Geschick« und »Vergessenheit« widerspricht. Es ist daher notwendig, diesen Widerspruch zu beseitigen. Das heißt, in eine Komplexität einzutreten, sogar in eine sehr unbequeme Dunkelheit, die aber unvermeidlich ist.

In der Tat bedeutet das, dass wir nicht einfach eine Seite der anderen gegenüberstellen können und dass wir über die Antike hinaus und bis zu uns hin überlegen müssen, was auch trotz allem das Werk des Abendlands, einer imposanten Zivilisation ist. Auf der einen Seite hat sie einen Grad der technischen Ausarbeitung erreicht, der heute problematisch ist, aber dennoch von einem enormen Einfallsreichtum zeugt, eine intellektuelle wie materielle Investition – eine Investition, die nicht nur das »Return on Investment« berechnet, sondern auch Engagement, Abenteuer und Risiko der gesamten modernen Wissenschaft und sogar des Kapitalismus, der im Laufe seiner Geschichte viel Leichtfertigkeit im Ehrgeiz und Risiko im Kalkül impliziert hat. Auf der anderen Seite, jenseits der Technik (aber in mancher Hinsicht mit ihr verwandt, wie bei der Gestaltung von Musikinstrumenten oder dem Einsatz von Farbe und Farbmaterialien in der Malerei), eine prachtvolle künstlerische und spirituelle Entfaltung, die keinen Grund hat, den Vergleich mit asiatischen, afrikanischen, amerikanisch-indigenen oder anderen Kulturen zu scheuen. Giotto oder Beethoven, Dante oder Ibn Arabi, Faulkner oder Nietzsche gehören ebenso zu den Schätzen der Menschheit wie Laotse, die Geschichte vom Prinzen Genji oder die Skulpturen der Yoruba.

Wir müssen daher darüber nachdenken, was durch diese Bemerkung verdeutlicht werden kann: Die Kunst der europäischen Renaissance war eng mit dem ersten Aufkommen des Kapitalismus verbunden. Oder um es mit deinen Worten zu sagen: der Reichtum des Himmels und der der Bourgeoisie waren aneinander gekoppelt und standen sich zugleich gegenüber. Und als sich die Bourgeoisie in einen Mechanismus der zwecklosen Selbstentfaltung einschloss, brachen auch alles Denken und alle Künste des menschlichen Geistes zusammen …

Vielleicht bedeutet dies zumindest – und damit komme ich zu deiner Frage –, dass, wenn es eine Zukunft gibt, diese weder von der Technik noch von einer Ökonomie der Investition zu trennen ist. In gewissem Sinne ist es das, was all diejenigen wollen, die nicht über den Wohlstand der entwickelten Gesellschaften verfügen: diesen Wohlstand erlangen und gleichzeitig die Reichtümer aller Kulturen erhalten oder erneuern. Und in der Tat kann dies nicht durch ein einfaches ökologisches Projekt erreicht werden. Ökologie, in welcher Form auch immer sie auftritt und wie erfinderisch sie auch sein mag, gebiert keinen »Geist«, um diesen Begriff wieder aufzunehmen. Beziehungsweise: bisher ist nicht deutlich, was sie ausmacht. Wenn wir z.B. von »der Erde« oder »dem Planeten« sprechen, wovon sprechen wir? Von der kosmo-geo-graphischen Bedeutung dieser Begriffe oder von symbolischen oder metaphysischen Werten? Wie wenn Heidegger von »der Erde« spricht oder die Bibel sagt »alle Erde singt die Herrlichkeit Gottes« oder Rimbaud schreibt: »ich bin der Erde zurückgegeben und muß die rauhe Wirklichkeit umarmen. Ganz wie ein Bauer.«[5]

Du beziehst dich auf Heideggers »Brauch«, der in der Tat ein Weg ist, die Herrschaft des Menschen über die Welt umzukehren, indem der Mensch als vom »Sein« »be-handelt« oder als zum Genuss des »Seins« angeboten wird (in Der Spruch des Anaximander übersetzt Heidegger »brauchen« mit dem lateinischen frui). In jedem Fall eine Heteronomie. Heteronomie ist die große Sache: Dass der Mensch auf etwas anderes verwiesen ist …

Sollte man nicht sagen, dass der Mensch gerade aus seiner Beziehung zum anderen seine Besonderheit ableitet? Andere Lebewesen haben diese Beziehung, deren Ausdruck und Ausführung die Sprache ist, nicht. Welcher Andere, wenn es weder Gott noch der Lacan’sche Andere ist? Ich würde sagen, dass sie beide, jeder auf seine Weise, Zeugen der Schließung des Abendlands sind (der erste durch seinen »Tod«, der zweite durch seinen eher strukturellen als dynamischen Charakter).

Das »Gemeinsame« wäre also, um mit meiner Antwort zum Ende zu kommen, eine – notwendigerweise gemeinsame – Sprache, die sich auf eine Alterität hin öffnen könnte, die sich unseres Gebrauchtseins* annehmen würde – d.h. vielleicht unseres »Sinnmachens« oder »im Sinn-Seins« – und zwar genau durch das, was macht, dass wir ex-istieren, dass wir außerhalb unserer selbst sind, auch in der Technik, aber so, dass die Technik auf eine Alterität hin öffnet. Das hat weder Namen noch Gestalt und lässt sich auch nicht vorwegnehmen. Es kann nur kommen. Aber es könnte genauso gut unser Verschwinden sein … der »Mensch«, der in der Ankunft des Anderen verschwindet …

MT: Heidegger selbst führt uns in diese Komplexität ein, indem er der Vergessenheit des Seins nicht einfach eine Treue zum Sinn des Seins (dessen Erfahrung die Sprache ist) entgegensetzt, sondern indem er dieses Vergessen in das Geschick des Seins einschreibt. Und doch ist es, als hätte er die Prämissen seines eigenen Denkens verraten, oder, um eine Formulierung Lacoue-Labarthes zu verwenden, als befände er sich in einem Doublebind, das Lacoue-Labarthe als symptomatisch für das Abendland selbst begreift und das er lange vor der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte in der Rolle sah, die Heidegger Hölderlins Dichtung zugewiesen hatte.

Von der Heteronomie des Gebrauchtseins* des Menschen zu sprechen, anstatt angesichts der Katastrophen, die wir derzeit erleben, nach Alternativen zu suchen (anstatt für Ökologie, gute Politik, Strategien zum Sturz des Kapitalismus mit Blick auf eine gemeinsame Zukunft zu plädieren …), scheint mir von uneingeschränkter intellektueller Redlichkeit zu sein. Es geht hier darum, den stattfindenden Transformationen zu begegnen, aber ihnen aus der menschlichen Bedingtheit bzw. Endlichkeit heraus zu begegnen. Ökologie, alternative Strategien usw. – auch wenn sie den gegenwärtigen Transformationen entsprechen – lassen sich dennoch in das unmögliche Projekt der Autonomie einschreiben, das zur heutigen technoökonomischen Vorherrschaft führt. Aber die kommenden Transformationen – Mutation oder Epochenwende* – sind nicht unser Projekt: Deine Unterscheidung zwischen »dem kommenden Geist« und »Ökologie ohne Geist« scheint zu unterstreichen, dass es nicht darum geht, diesen Geist zu einem Projekt zu machen.

Es ist interessant, dass du sagst, dass diejenigen, die nicht über den Wohlstand entwickelter Gesellschaften verfügen, in Technologie und Investitionen einsteigen und gleichzeitig keine Identität bekräftigen wollen, sondern, wenn ich dich richtig verstehe, eine andere Beziehung zur Alterität erhalten oder neu herstellen wollen: den »Reichtum« aller Kulturen. Interessant ist auch, dass du im Zusammenhang mit der Kunst der Renaissance von der Koppelung des Reichtums des Himmels mit dem des Bürgertums sprichst. In einem Interview hast du das Ereignis der Polyphonie in der Renaissance mit dem Exzess (einem »Mehr«) verknüpft, der nun in den Bereich der Produktion eintritt.

Wenn du vom »strukturellen« Charakter des Lacan’schen Anderen (der von der abendländischen Schließung zeugen würde) einen »dynamischen« Charakter der Alterität unterscheidest, meinst du damit die Beweglichkeit als Technizität der Existenz? Und damit die fortschreitende Mutation der menschlichen Existenz (die gleichwohl menschlich bleibt, da sie aus der menschlichen Endlichkeit hervorgeht)? Wäre die Sprache, die sich der Heteronomie des Menschen (als gebrauchter* Mensch) annimmt, während sie sich einer Alterität öffnet, nicht trotzdem und trotz allem eine Art paradoxe Autonomie – eine Form? Nicht eine Autonomie des Menschen, sondern eine Autonomie der Tatsache seiner Existenz als solcher, die nicht zu einem Selbst zurückkehrt; der freie Lauf über sich selbst hinaus: »Sexistenz« (um einen deiner Begriffe zu verwenden)?

JLN: Sich von dem Projekt zu lösen, bedeutet auch, sich vom Subjekt zu lösen. Es ist bemerkenswert, dass seit dem 18. Jahrhundert und sogar noch vor Pascal das Ich Gegenstand stärkster Verdächtigungen war. Dies spitzte sich z.B. bei Schelling und dann bei Nietzsche noch zu und wurde von Kierkegaard, Heidegger und unserer jüngsten Moderne wieder aufgegriffen. Doch gleichzeitig sind das Ich oder das Selbst, der Selfmademan oder die selbstverwalteten Menschen wirkmächtige Modelle bzw. Schemata für Modelle, die selten vorzeigbar sind. Genauso verhält es sich mit dem »Anderen«: Wir hören nie auf, für die Offenheit gegenüber dem Anderen, für das Teilen usw. einzutreten, demokratische Werte oszillieren zwischen Solidarität und Brüderlichkeit, aber was bleibt, sind »gute Absichten« (man könnte sagen, eine imaginäre Form des Projekts). Wir haben keinen Zugang zu einem »radikalen« Denken (ich benutze dieses Wort mit Distanz, weil es mir nicht gefällt) der Alterität des Anderen als einer unerreichbaren, ja sogar nicht identifizierbaren. Du zitierst mein Buch Sexistenz: Im Grunde habe ich es geschrieben, um zu sagen, dass Sex uns mit dem Anderen konfrontiert – auch in uns selbst – und dass dies alles andere als einfach ist. Aber heute machen wir aus Sex ein Projekt: des Konsums oder der Wahl des Geschlechts. (Ich kritisiere das Denken der Geschlechter [Gender] nicht, aber ich bedauere, dass seine Vulgata auf eine Autonomie der Wahl hinausläuft, die tendenziell dazu führt, dass wir unser Geschlecht nur uns selbst schulden und die auch die unendliche innere Komplexität eines jeden »Geschlechts« nicht genügend berücksichtigt.)

Am auffälligsten ist allerdings das tatsächliche Verschwinden eines echten sozialen Projekts, ohne dass dies zu einer anderen Art von Anfechtung und Revolution führt – denn das revolutionäre Projekt war, zumindest sehr oft, ein Projekt, das über das Projekt hinausging und den Zugang zu einer ganz anderen Welt suchte. Im Gegenteil, das soziopolitische Projekt wird ausgelöscht, weil das große technoökonomische Projekt alles absorbiert.

In gleicher Weise wird alles, was energisch und utopisch war (selbst bei Marx, selbst im Anarchismus), d.h. im Verhältnis zu einer wahren Alterität stand, in dasselbe große Projekt überführt, zu dem sich – um zu einem Ende zu kommen – diejenigen, die reformieren, verbessern, gegen Ungerechtigkeit kämpfen wollen, unbewusst zusammenschließen. Es gibt keine Idee der Gerechtigkeit (außer, dass sie »undekonstruierbar« ist, wie Derrida sagt).

Was die Autonomie eines »freien Laufs über sich selbst hinaus« betrifft: ja, gewiss, und sogar die Autonomie der Singularität, die jedes Mal existiert. Aber diese Autonomie ist das, was gerade dadurch verwirklicht wird, dass man über sich selbst hinausgeht. Oder, vielleicht besser, indem man es nie betritt. Wo ist das Selbst, was ist es? Nichts, bevor es existiert und sobald es existiert, entkommt es sich selbst. Das gerade erst gezeugte Kind ist bereits einem »Selbst« entwichen, das in seiner Genealogie rückwärts verloren ist und sich nach vorne verlieren wird, indem es sich erst von seiner Mutter trennt, dann von der Brust seiner Mutter, dann von allem, was es identifizieren kann. Auf diese Weise wird er oder sie zu »jemand«, der/die trotz aller sozialen, kulturellen, emotionalen, sprachlichen Konformismen nicht mit einem anderen verwechselt wird. Dieses Werden dauert ein Leben lang und hört nie auf zu werden. Es fließt wie ein Fluss, und »man steigt nie zweimal in denselben Fluss«. Und dieses Werden ist die reichste Sache des Lebens. (Natürlich gibt es körperliche, emotionale und andere Identitätsmerkmale. Sie sind notwendig, damit das Selbst und die anderen sich orientieren können. Aber der Kern oder das Herzstück dieser Reihe von Merkmalen ist nicht identifizierbar.)

Mit 80 Jahren blicke ich auf mein ganzes Leben zurück, und ich spüre ein sehr paradoxes Gefühl: Ich weiß, dass ich es bin – hier oder dort, in diesem oder jenem Jahr, dieses oder jenes tuend –, und doch spüre ich nicht wirklich dieses »Ich«. Im Gegenteil, es erscheint mir seltsam, dass diese Situationen und Handlungen »mir« zugeschrieben werden können. Jean-Luc Nancy, ja, aber dieser Name ist reiner Zufall und willkürlich.

Ich glaube, vor der Ära des »Individuums« fühlte sich jeder und jede mehr in einem Zusammenhang befindlich, der ihn oder sie überstieg – sei es die Ordnung der sozialen Gruppe oder der Triebe. Und in diesem Sinne gehörte jede endliche Existenz zu einer Form der Unendlichkeit oder zumindest des Unbestimmten. Unsere Kultur hat sich tiefgreifend verändert, als wir dachten, das Unendliche beherrschen zu können und es in ein exponentielles Wachstum der produzierten und konsumierten Güter, der Rechte der Subjektivitäten und der Aneignung von Reichtum durch wenige verwandelt und damit eine immer größere Zahl armer Menschen zurückgedrängt haben.

Wie hat sich die Unendlichkeit der Existenz in eine exponentielle Entwicklung von Technologie, Reichtum und Armut, bürgerlichem Leben und Hungersnot oder Epidemie verwandelt? Es gibt keine Antwort, aber das ist es, was uns geschehen ist. Vielleicht ist die Menschheit zum Exzess verdammt, es wäre nicht überraschend. Bis hin zum Übermaß an Autonomie, das die Zerstörung des Selbst ist …

* im Original deutsch

Übersetzung: Dirk Naguschewski

Die Philosophin und Theaterwissenschaftlerin Marita Tatari ist seit Februar 2020 mit einem Feodor Lynen-Forschungsstipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung am ZfL zu Gast.

Jean-Luc Nancy ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Philosophen Frankreichs. Stark beeinflusst von Martin Heidegger, Georges Bataille und Jacques Derrida, setzt er sich in seinen zahlreichen Schriften vor allem mit der deutschen Philosophie und Literatur auseinander.

Das Gespräch wurde im September 2020 per E-Mail auf Französisch geführt.

 
[1] Paul Valéry: »Die Krise des Geistes«, übers. von Herbert Steiner und Frank Rümelin, in: Paul Valéry. Werke, Bd. 7, Zur Zeitgeschichte und Politik, hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a. M./Leipzig 1995, S. 26-54, hier S. 26.

[2] Ebd., S. 31.

[3] Ebd., S. 32.

[4] Jacques Derrida: Vom Geist. Heidegger und die Frage, übers. v. Alexander García Düttmann, Frankfurt a. M. 1992, S. 132.

[5] Arthur Rimbaud: Mein traurig Herz voll Tabaksaft. Gedichte, französisch und deutsch, hg. v. Karlheinz Barck, übers. v. Fritz Rudolf Fries, Leipzig 2003, S. 119.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Vom Geist der Epochenwende. Marita Tatari im Gespräch mit Jean-Luc Nancy, in: ZfL BLOG, 14.12.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/12/14/vom-geist-der-epochenwende-marita-tatari-im-gespraech-mit-jean-luc-nancy/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20201214-01

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