Friedrich August Wolfs Prolegomena zu Homer (1795) waren in der intellektuellen Welt des späten 18. Jahrhunderts eine kleine Sensation. Wolf zeigte in seiner Schrift, dass die großen Epen der Antike – die Ilias und die Odyssee – nicht Produkt eines einzigen genialen Schöpfers waren, sondern »dieser kunstvolle Aufbau erst das Werk späterer Jahrhunderte« war.[1] Er konnte nachweisen, dass einzelne Gesänge und ihre Anordnung aus der Zeit nach Homer stammten, womit die Prolegomena einen Angriff auf die Identität des poetischen Übervaters Homer und darüber hinaus auf die einheitliche Form der antiken Epen bedeuteten.
Die Frage der ursprünglichen Formeinheit des Epos wurde von den Zeitgenossen heiß diskutiert, und bis weit ins 19. Jahrhundert spalteten sich die Leser der Prolegomena in die zwei Lager der »Kleinliederjäger« und der »Einheitshirten«.[2] Dass das Problem der epischen Formeinheit die Gemüter erhitzte, ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass es beim »Epos als einheitsvoller Totalität«[3] (Hegel) um nichts Geringeres geht als einen Gründungsmythos der modernen Literatur. Denn der Roman, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zur dominanten literarischen Gattung entwickelte, bezog sich auf das Epos als seinen Fluchtpunkt. Dabei definierte sich der Roman als heterogenes Gebilde durch den Gegensatz zu der vermeintlich homogenen Formeinheit des Epos. Diese Gegenüberstellung wurde durch Wolfs Zweifel an der ursprünglichen Einheit des Epos radikal infrage gestellt.
Die Zweifel waren freilich nicht neu, denn die formale Einheit des Epos ist seit jeher umstritten gewesen. So beantwortet Aristoteles in seiner Poetik die Frage, ob die epische oder die tragische Nachahmung vorzuziehen sei, mit dem Hinweis, dass die Nachahmung im Epos weniger einheitlich sei als in der Tragödie und daher auch weniger vollkommen. Zwar bildeten sowohl Epos als auch Tragödie eine geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende ab, doch sei das epische Handlungsgefüge, anders als das tragische, durch ›Handlungsvielfalt‹ bestimmt.
Erst im 18. Jahrhundert entwickelte sich das Epos zum Inbegriff formaler Einheit. In seinen Vorlesungen über die Ästhetik definiert Hegel den Roman als »moderne bürgerliche Epopöe« im Gegensatz zum antiken Epos. Dessen einheitliche Form setze eine »Totalität der Weltanschauung« voraus, die für den modernen Schriftsteller, der sich einer »zur Prosa geordneten Wirklichkeit« konfrontiert sieht, nicht mehr einzuholen sei.[4] Dieses Eposverständnis prägt die Literaturgeschichte bis in 20. Jahrhundert. Ein prominentes und einflussreiches Beispiel ist Georg Lukács’ Theorie des Romans von 1916. Lukács argumentiert, dass Totalität für das Epos eine unzweifelhafte Gegebenheit sei, der Roman sie hingegen erst konstruieren müsse:
»Die Epopöe gestaltet eine von sich aus geschlossene Lebenstotalität, der Roman sucht gestaltend die verborgene Totalität des Lebens aufzudecken und aufzubauen.«[5]
Vor diesem Hintergrund wird die Sprengkraft von Wolfs These erst recht deutlich: Begreift man das Epos als »Flickwerk« (so Goethe in einem Gedicht mit dem Titel »Homer wieder Homer«, in dem er sich von Wolfs Arbeit distanziert), dann ist es eigentlich immer schon Roman gewesen.[6] Die prototypische ›Form des Ganzen‹ entpuppt sich als poetologische Phantasmagorie der Moderne. Diese Diagnose ist dem Epos auch in jüngerer Zeit gestellt worden,[7] sie beantwortet die Frage nach den Formen des Ganzen aber nur zum Teil. Wolfs Prolegomena entlarven die Vorstellung von der einheitlichen Form des Epos als Fiktion. Offen bleibt aber, ob Formen des Ganzen auch ohne ›ganze Formen‹ möglich sind. Anders gefragt: Lässt sich das Ganze umfassend darstellen ohne einen – spätestens im 20. Jahrhundert fragwürdig gewordenen – Anspruch auf Totalität?
Der junge Friedrich Schlegel war ein begeisterter Leser von Wolfs Prolegomena und griff in seinen Studien des klassischen Altertums die Idee des vielgestaltigen Epos auf.[8] In einem Text Über die homerische Poesie (1796), der auf Wolfs Prolegomena ausdrücklich Bezug nimmt, entwirft er das Epos als ein Ganzes, das aus Teilen besteht, die wiederum in sich geschlossene Einheiten bilden. In der Diskussion von Aristoteles’ Poetik vergleicht Schlegel das Epos mit einem Polypen, d.h. mit einem Tier, das durch die Spaltung seines Körpers zwei neue Individuen hervorbringt:
»Sehr fein bemerkt er [Aristoteles], daß die ILIADE und die ODYSSEE viele Teile enthalten, welche für sich bestehende Ganze sind; denn das epische Gedicht ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein poetischer Polyp, wo jedes kleinere oder größere Glied […] für sich eignes Leben, ja auch ebensoviel Harmonie als das Ganze hat.«[9]
Eine unendliche Teilbarkeit des Ganzen in Glieder, die wiederum ein Ganzes bilden: Die Autonomie der Einzelepisoden lässt an aktuelle Formen von Serialität, etwa in Fernsehserien, denken, bei denen die zu einem größeren Zusammenhang geordneten Episoden ihre Eigenständigkeit wahren.
Goethes Haltung zu den Thesen Wolfs war weitaus ambivalenter als die Friedrich Schlegels. Er zollte Wolfs Arbeit großen Respekt und wollte sich doch von der Idee eines umfassenden Formzusammenhangs nicht ganz lösen. Im Briefwechsel mit Schiller schreibt er dazu:
»Denn daraus daß jene großen Gedichte erst nach und nach entstanden sind, und zu keiner vollständigen und vollkommenen Einheit haben gebracht werden können (obgleich beide vielleicht weit vollkommner organisiert sind als man denkt) folgt noch nicht: daß ein solches Gedicht auf keine Weise vollständig, vollkommen und Eins werden könne noch solle.«[10]
Ein uneinheitlicher Entstehungsprozess, so Goethe, bedeute nicht, dass ein Gedicht selbst keine Einheit bilde. So lassen sich auch viele von Goethes Texten als eine Arbeit an umfassenden Formzusammenhängen verstehen, die sich aber der Formtotalität zu entziehen versuchen, etwa das Versepos Reineke Fuchs von 1793. Die Adaption der mittelalterlichen Tierfabel vom listigen Reineke Fuchs und seinem Aufstieg am Hofe des Löwenkönigs Nobel ist in Hexametern verfasst, dem Metrum der antiken Epen, und, ähnlich wie die Ilias und die Odyssee, die aus 24 Gesängen bestehen, in 12 Gesänge gegliedert. Auch die zahlreichen Binnenerzählungen im Reineke Fuchs lesen sich wie Formzitate aus den homerischen Epen. Reinekes Erzählungen sind aber allesamt Lügengeschichten, die ihm helfen, seine Verbrechen zu vertuschen. Mit seinen Listen und Lügen gleicht Reineke Fuchs dem epischen Helden Odysseus. Anders als in der Odyssee dienen die Lügen hier jedoch nicht dem Überleben und dem Schutz der Identität des Helden, sondern dem Verbergen seiner Boshaftigkeit und der Förderung seiner Karriere. Die Listigkeit des homerischen Odysseus wird durch Reineke Fuchs entstellt, wobei Goethes Versepos mehr ist als eine einfache Parodie des homerischen Modells. Es greift auf die Formstruktur der antiken Epen zurück, um Kritik an Hof und Klerus zu üben und zugleich eine moderne Form der Volkslegende zu entwerfen.
Die Auseinandersetzung mit dem Epischen vollzieht sich im Reineke Fuchs als in sich gebrochene Aktualisierung der Form; daneben gibt es aber auch den Versuch einer Überschreitung der epischen Form im Rückgriff auf andere Formtotalitäten, etwa in Goethes Projekt eines kosmologischen Romans. Goethe fasste den Plan für einen ›neuen Roman über das Weltall‹ bereits in den 1780er Jahren, hat ihn aber nie umgesetzt. Dennoch lässt sich vermuten, dass das Vorhaben einer Verbindung von offener Romanform mit einer kosmologischen Ordnung sich in Goethes spätem Roman, Wilhelm Meisters Wanderjahre, niedergeschlagen hat. Darin steht die Figur Makarie in einer übernatürlichen Beziehung zum Kosmos, indem sie »nicht sowohl das ganze Sonnensystem in sich trage, sondern […] sich vielmehr geistig als integrierender Teil darin bewege«.[11] Makaries unmittelbare Einblicke in die Ordnung des Kosmos bleiben dem Leser zwar verborgen, doch werden sie in ihrem Archiv zur Darstellung gebracht, in einer losen Sammlung aus Bemerkungen und Aphorismen. Makaries Archiv wird mit Quecksilber verglichen. Beim Lesen der Fragmente würden
»auf eine merkwürdige Weise tausend Einzelnheiten hervorspringen, eben als wenn eine Masse Quecksilber fällt und sich nach allen Seiten in die vielfachsten unzähligen Kügelchen zerteilt.«[12]
Im Quecksilber, dem einzigen bei Raumtemperatur flüssigen Metall, fallen, indem es verdampft, unterschiedliche Aggregatzustände zusammen. Hinzu kommt seine große Oberflächenspannung: Quecksilber zerfließt nicht, sondern behält, auch bei der Zersprengung in »tausend Einzelnheiten«, seine Gestalt. Damit wird die Verbindung von offener Romanform und kosmologischer Ordnung als eine Form beschrieben, die in der Synthese verschiedener Aggregate fassbare Umrisse bewahrt. Die Subversion des Epos im Reineke Fuchs und die Kreuzung von Kosmos und Roman in den Wanderjahren sind zwei mögliche Antworten auf das Hadern mit der Formtotalität.
[1] Wolf: Prolegomena zu Homer. Ins Deutsche übertragen von Hermann Muchau, Leipzig 1908, S. 154.
[2] So Hermann Muchau in seinem Vorwort zu der Übersetzung der Prolegomena aus dem Lateinischen, ebd., S. 15.
[3] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik, Bd. II, Berlin/Weimar 1976, S. 452.
[4] Ebd., S. 450, 452.
[5] Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Berlin 1920, S. 49f.
[6] Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 2: Gedichte 1800-1832, hg.v. Karl Eibl, Frankfurt a.M. 1988, S. 536.
[7] Vgl. Heiko Christians: Der Traum vom Epos. Romankritik und politische Poetik in Deutschland, Freiburg i.Br. 2004; Charlton Payne: The Epic Imaginary. Political Power and its Legitimations in Eighteenth-Century German Literature, Berlin/Boston 2012.
[8] Vgl. Joachim Wohlleben: Friedrich August Wolfs »Prolegomena ad Homerum« in der literarischen Szene der Zeit, in: Poetica 28/1–2 (1996), S. 154–170.
[9] Kritische Friedrich-Schlegel Ausgabe, Abt. I, Bd. 1: Studien des klassischen Altertums, eingel. u. hg. v. Ernst Behler, Paderborn u.a. 1979, S. 131.
[10] Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 31: Goethe mit Schiller, Teil 1, hg. v. Volker C. Dörr/Norbert Oellers, Frankfurt a.M. 1998, S. 327.
[11] Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 10: Wilhelm Meisters Wanderjahre, hg. v. Gerhard Neumann/Hans-Georg Dewitz, Frankfurt a.M. 1989, S. 391.
[12] Ebd., S. 388.
Die Literaturwissenschaftlerin Elisa Ronzheimer arbeitet als Stipendiatin der Yale Graduate School of Arts and Sciences mit dem Projekt Poetischer Rhythmus um 1800 am ZfL. Ihr Beitrag erschien erstmals auf dem Faltplakat zum Jahresthema des ZfL 2018/19, »Formen des Ganzen«.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Elisa Ronzheimer: »Poetischer Polyp« – Zur Form des Epos, in: ZfL BLOG, 23.4.2018, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/04/23/elisa-ronzheimer-poetischer-polyp-zur-form-des-epos/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20180423-01