Die Natur steckt in einer doppelten Krise: Die ökologische Forschung sagt ihr angesichts des menschengemachten Klimawandels und des dramatischen Artensterbens düstere Aussichten voraus. Gleichzeitig stimmen gegenwärtige Theoriediskurse den Abgesang auf die Natur an, indem sie gängige philosophisch und politisch untermauerte Natur-/Kultur-Konzepte aufkündigen. Mit dem Schlagwort vom ›Ende der Natur‹ ist die Forderung verbunden, Natur nicht mehr als das Andere der Kultur zu begreifen, das es qua Verfügungsgewalt zu beherrschen gilt. Jean-Jacques Rousseau befand schon im 18. Jahrhundert, dass der Mensch die Natur verlassen habe und es keinen Weg zurück gebe, die Wirkungen eines ursprünglichen Naturzustandes aber noch spürbar seien. Die aktuellen Diskurse radikalisieren diese Ansicht und versuchen den Begriff der Natur durch neue Wortprägungen zu ersetzen. Diese sollen die Verwicklungen des Menschen deutlich machen, indem sie die Trennlinie zwischen Natur und Kultur aufheben.
Die amerikanische Biologin und Wissenschaftsphilosophin Donna Haraway spricht beispielsweise lieber von »NatureCulture«, da die Auswirkungen menschlicher Technologien die Strukturen dessen veränderten, was einmal unter dem Begriff ›Natur‹ firmierte. Der französische Soziologe Bruno Latour bevorzugt die Bezeichnung »Nat/Cul« und hat darüber hinaus ein ganzes Begriffsarsenal parat: So wendet sich sein jüngst entwickeltes Konzept des ›Terrestrischen‹ unter anderem gegen eine Ikonographie des Grünen als Signum der Natur. Schützenswert sei demnach nicht eine Natur, die aus den grünen Anteilen unserer Erde besteht, sondern eine Naturkultur, die den Menschen als Teil des Natürlichen überhaupt erst zu begreifen und einzubeziehen habe. Folgt man seiner Argumentation, dann ist unser Planet in ein Zeitalter eingetreten, in dem es einer politischen Ökologie nicht einfach nur um Umweltschutz im Sinne einer grünen Bewegung gehen kann, sondern um die Frage gehen muss, wie wir mit allen Akteuren auf dieser Welt zusammenleben wollen.
Eine Natur jenseits normativer anthropozentrischer Konzepte machen auch die Mitbegründer und Leiter des Art Laboratory Berlin (ALB), die Kunsttheoretikerin und Kuratorin Regine Rapp und der Künstler und Kurator Christian de Lutz, im Gespräch mit Kunstforum International geltend.[1] Die intensive Auseinandersetzung des ZfL-Forschungsschwerpunkts »Lebenswissen« mit kritischer Ökologie, mit Natur/Kultur-Konzepten und der Verbindung von Biologie und Kulturwissenschaften anhand theoretischer Texte von Erich Hörl, Timothy Morton, Hubert Zapf, Ursula Heise, Didier Debaise, Catherine Malabou, Ernst Cassirer, Hans Blumenberg und Bruno Latour gab den Anlass, das Gespräch mit dem Art Laboratory Berlin fortzusetzen.
Die 2006 als gemeinnütziger Verein gegründete, mehrfach preisgekrönte Institution versteht sich als eine internationale und interdisziplinäre Forschungs- und Ausstellungsplattform, die theoretische Reflexionen, wissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Errungenschaften in die künstlerische Praxis einbezieht. Die in diesem Rahmen entstehende hybride Kunst lässt künstlerische Forschung als Generator eigenständiger Formen der Wissensbildung begreifen. Regine Rapp und Christian de Lutz betonen dabei vor allem den prozessorientierten Charakter ihrer Arbeit. Sie verstehen ihren Kunstraum als einen Ort, in dem sich Projekte über einen langen Zeitraum – wie in einem Labor – in vielen verschiedenen Formaten transdisziplinär entwickeln können. Die von ihnen herausgegebene Publikation [macro]biologies & [micro]biologies (Berlin 2015) beschäftigt sich mit dem »biologischen Erhabenen« in der Kunst des 21. Jahrhunderts und greift dabei den aktuellen Diskurs der Lebenswissenschaften über Konzepte von Natur, Welt, Organismen und die Rolle des Menschen auf.
JEW: Art Laboratory Berlin wurde 2006 als Kunstverein von einem internationalen Team aus Kunsthistorikern und Künstlern gegründet. Seither agieren Sie mit Ihrem Programm an der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Technologie. Wie wird der Brückenschlag zwischen den Disziplinen konkret praktiziert?
RR/CdL: Seit neun Jahren – seitdem nunmehr wir beide das Art Laboratory Berlin leiten, Projekte kuratieren und Themen erforschen – verstehen wir unsere Institution als Kunst- und Forschungsplattform. Da wir uns stets mit der übergeordneten Frage auseinandersetzen, wie wir Phänomene des 21. Jahrhunderts über die Kunst verstehen können, kommen wir mehrheitlich mit Künstlern in Kontakt, die sich intensiv mit (natur‑)wissenschaftlichen Themen und Fragestellungen beschäftigen und meist auch mit (Natur‑)Wissenschaftlern zusammenarbeiten. Das gestaltet den Brückenschlag recht einfach. Die Künstler, die uns am meisten interessieren, sind jene, die traditionelle (post‑)moderne Medienprozesse und -ansätze hinter sich gelassen und hybride Prozesse und Ansätze entwickelt haben, die Wissenschaft und neue Technologien kritisch nutzen.
Ein prägnantes Beispiel ist die slowenische Künstlerin Maja Smrekar: In ihrer Arbeit »Ecce Canis«, Teil des länger angelegten Projekts »K9_Topology«, erforschte sie Stoffwechselprozesse, die emotionale Impulse auslösen, die Menschen und Hunde aneinander binden und erfolgreich miteinander koexistieren lassen. Die Installation präsentiert Serotonin der Künstlerin und ihres Border Collies Byron, das durch chemische Protokolle in einen Geruch verwandelt wurde und das man als chemisches Wesen dieser Mensch-Hund-Beziehung verstehen kann. Für dieses Projekt hat Smrekar mit Naturwissenschaftlern des Instituts für Biochemie der Universität Ljubljana zusammen gearbeitet.
Wir beide haben über die Jahre hinweg eine offene Form entwickelt, die die künstlerische Arbeit stets in den Vordergrund stellt und die nicht die Theorie belegt, sondern an der sich die Theorie orientieren kann. Wir haben dafür den Begriff ›induktive kuratorische Praxis‹ entwickelt. Wir arbeiten von den künstlerischen Projekten und der Forschung ausgehend nach außen; Theorie fungiert als Rahmen, aber nicht zwingend als Ausgangspunkt.
Wir kommen nicht so sehr aus der Richtung des ›new curating‹. Vielmehr sehen wir unsere Rolle in jener Funktion, die das Kuratieren wortwörtlich versteht: ›curare‹ als ›sich kümmern‹, unbedingt in Verbindung mit einer radikal neuen Kunstproduktion. Kümmern – praktisch und organisatorisch (z.B. Pflege von lebenden Organismen während der Ausstellungsdauer), aber auch theoretisch (an den Themen selbst forschen und eine sinnvolle Aufbereitung komplexer Themen für das Publikum finden). Auch der Brückenschlag gehört hier dazu (z.B. Netzwerke zwischen Künstlern und naturwissenschaftlichen Instituten herstellen).
Gibt es auch künstlerische Rückkoppelungen in die Naturwissenschaft hinein? Und wenn ja, wie sehen sie aus?
Ja, in der Tat. Ein gutes Beispiel dafür ist die britische Künstlerin Anna Dumitriu, die sich seit vielen Jahren auf hochintelligente und ästhetisch überzeugende Weise mit Bakterien auseinandersetzt. Vor mehreren Jahren ist sie in das Großprojekt »Modernising Medical Microbiology« der Universität Oxford und anderer Universitäten Großbritanniens in Form einer unbefristeten Art Residency eingeladen worden, ursprünglich in der Funktion einer »Communication Person«. Doch im Laufe ihrer Arbeit hat sie eine große Professionalität mit den mikrobiologischen Protokollen entwickelt. Sie konnte einigen ihrer naturwissenschaftlichen Kollegen wesentliche Impulse geben, die in deren Forschungsarbeiten und Denkweisen auch eingeflossen sind.
Ein anderes interessantes Beispiel hat sich in Indonesien abgespielt. Dort gibt es seit vielen Jahren eine ganze Reihe von Art & Science- und Do-it-yourself-Kollektiven, die auch mit Biologen aus dem akademischen Kontext zusammenarbeiten. Irfan Prijambada arbeitet als Professor an der Abteilung für Agrikulturelle Mikrobiologie der Gadjah Mada University in Yogyakarta. Vor ein paar Jahren hat er in einem Gespräch erklärt, dass ihn die Zusammenarbeit mit Künstlern sehr inspiriert habe, weil sie ihn zu einer Reflexion über seinen Forschungsbereich aus einer anderen Perspektive anregte. Da gebe es Fragen, die Naturwissenschaftler nie stellen würden. Er hat es sich schließlich zur Aufgabe gemacht, seine Biologiestudenten dazu zu bringen, über den Tellerrand hinauszuschauen und neue Denkweisen zu entwickeln. So wie Kunst und Wissenschaft neue epistemologische Territorien für Künstler bieten, ist dies sicherlich auch für (Natur‑)Wissenschaftler der Fall, um ihre Forschung von außen betrachten zu können und Auswege aus Sackgassen zu finden.
Seit letztem Jahr führen Sie mit dem Institut für Biotechnologie der Technischen Universität Berlin das Kooperationsprojekt »Mind the Fungi« durch, das sich der Erforschung lokaler Pilze und der aktuellen Pilzbiotechnologie widmet. Unter anderem geht es darum, zusammen mit Berliner Bürgern sowie Künstlern und Designern neue Ideen und Technologien für pilz- und flechtenbasierte Materialien der Zukunft zu generieren. Warum gerade Pilze? Und welche Rolle spielt die Kunst dabei?
Pilze haben tatsächlich ein phänomenales Potential – als Material können sie für Verpackungen, als Baustoff oder veganes Leder eingesetzt werden. Dieser nachhaltige Material-Shift könnte Leder und Zement ablösen, beides Materialien, deren Herstellung nicht umweltfreundlich ist. Uns interessieren Pilze als nachwachsender Naturrohstoff.
Die Rolle der Kunst und des Designs spielen in unserem interdisziplinären Projekt eine elementare Rolle: Wir haben die Künstlerin Theresa Schubert und die Künstlerin-Designerin Fara Peluso ins Projekt geholt und können jetzt schon die Bereicherung des intensiven interdisziplinären Dialogs erkennen. Im letzten Herbst beispielsweise hat Theresa Schubert mit »Walks & Talks« das Publikum in die Berliner und Brandenburger Wälder begleitet und künstlerisch, kulturhistorisch, performativ, aber auch wissenschaftlich ins Sammeln von Baumpilzen eingeführt, unterstützt durch unsere Kollegen aus der Biotechnologie der TU Berlin. Im Anschluss ging das Publikum ins Labor der Biotechnologen, und gemeinsam kultivierten wir das Pilzmaterial in Petrischalen. Das war eine sehr bemerkenswerte Station unseres Citizen-Science-Projekts, denn genau dieses Pilzmaterial stellt die Grundlage der derzeitigen Forschung in unseren Laboren dar. Zwischenzeitlich haben Theresa Schubert und Fara Peluso ihren Artist-in-Residence-Aufenthalt in den Laboren der Biotechnologen der TU Berlin gestartet. Und hier erweist sich das Art/Science-Forschen als Mehrwert: Künstler arbeiten gemeinsam mit den Biotechnologen am Pilzmaterial, um neue Anwendungen und Verwendungszwecke zu erproben, und produzieren eigene neue künstlerische Arbeiten. Das ist der berühmte Moment des »Think-outside-the-box«! Künftig wird auch Fara Peluso in einer Workshop-Reihe mit der Öffentlichkeit das Pilzmaterial experimentell erkunden. Das Artists-in-Residence-Programm bringt die beiden als konstruktive Ideengeberinnen ein – und ermöglicht dadurch projektimmanent kritische Fragen über wissenschaftliches Forschen. Unser Ansatz, naturwissenschaftliche Forschung mit künstlerischer und designbasierter Forschung zu kombinieren, zeigt schon jetzt Früchte.
Ist die Naturästhetik am Ende, wie Hartmut Böhme jüngst fragte? Ist sie mit Blick auf die Debatten um Nachhaltigkeit vielleicht nur noch ein romantischer Rest einer Sehnsucht nach einer unversehrten Natur angesichts der ökologischen Katastrophe und angesichts der Technisierung, die in alle Bereiche unseres Lebens Einzug gehalten hat?
›Naturästhetik‹ ist zum einen eine historische Reliquie, die mit der Dominanz der europäischen Zivilisation im 19. Jahrhundert zusammenfiel, weist aber zum anderen auch gewisse Resonanzen in anderen Kulturen auf – zum Beispiel die Darstellung von Landschaft, Flora und Fauna in der chinesischen und japanischen Malerei, was sich die frühe Moderne im Übrigen bereitwillig aneignete. Diese kulturellen Artefakte werden sicherlich für einige Zeit Teil unseres ästhetischen Werkzeugkastens bleiben. Aber es werden auch kritischere Standpunkte hinzukommen. Wiederum sind klare Grenzen hier illusorisch. Die meisten Biologen erklären die Natur mit großer Emotion; nehmen wir etwa den Begriff ›Biophilia‹ von E. O. Wilson als aktuelles Konzept der ›Liebe zur Natur‹. Für uns als Gesellschaft könnte es aufschlussreicher sein, die Natur sowohl auf der Ebene von Zellen, Genen und Enzymen als auch auf der Ebene von Tieren, Pflanzen oder Landschaften zu betrachten. Hier empfiehlt es sich, aus der anthropozentrischen Perspektive herauszutreten.
Timothy Morton, Erich Hörl, Bruno Latour und Donna Haraway sind nur einige einer ganzen Reihe von Theoretikern, die sich, zumindest in einigen ihrer Publikationen, gegen Anthropozentrismus und damit auch gegen die Anthropozändebatte positionieren. In Ihrer Beschäftigung mit ›Nonhuman Agents‹ und nichtmenschlicher Subjektivität verfolgen Sie eine ähnliche Stoßrichtung. Können Sie kurz erläutern, was Sie an diesen Theoremen interessiert?
Unsere Reihe »Nonhuman Subjectivities« basierte auf verschiedenen theoretischen Überlegungen, die den Anthropozentrismus kritisch hinterfragen und eine objektorientierte Sicht vorschlagen; dazu gehören sowohl die objektorientierte Ontologie als auch der Bereich des New Materialism. Wir wollten und wollen damit auf eine Realität verweisen, die nicht mehr nur durch anthropozentrische Parameter beschrieben werden kann – und damit nicht mehr linguistisch, kulturell, politisch oder historisch kodifiziert werden kann. Neben wesentlichen Theorien von Donna Haraway seien auch die Philosophin Karen Barad mit ihrer faszinierenden Theorie des intra-acting und die Anthropologin Anna Tsing zu nennen (eigentlich könnte man da schon von einer ›Schule von Santa Cruz‹ sprechen). Eine weitere Inspiration für uns war John Gray, dessen Buch Straw Dogs mit einer kritischen Abrechnung des Humanismus in theoretischen Kreisen unserer Meinung nach unterbewertet wurde.
Ja, wir interessieren uns tatsächlich für eine Abkehr von der traditionellen westlichen Perspektive. Wir glauben, dass der Erfolg, vielleicht sogar das Überleben unserer Kultur ironischerweise davon abhängt, ob unsere Spezies als Teil eines komplexen Systems – oder einer Menge von Systemen – verstanden wird. Dass diese ›Weltanschauung‹ naturwissenschaftlich genauer gefasst werden kann als der Ansatz der Moderne, macht das Ganze noch phänomenaler. Die Erkenntnis, dass der moderne Individualismus eine Selbsttäuschung ist, dass die meisten unserer Entscheidungen nicht nur auf unserer eigenen Biochemie beruhen, sondern auch auf der Biochemie der vielen Mikroben, die uns bewohnen, ist faszinierend. Es gibt uns auch die Möglichkeit, Potentiale jenseits des Individuums zu entdecken. Wenn die Natur, wie Sie vorgeschlagen haben, ein Überrest der romantischen Ära ist, dann ist es die Vorstellung vom individuellen künstlerischen Genie auch. Wie viel interessanter wird doch kreatives Potential, wenn es sich um etwas handelt, das aus der Zusammenarbeit oder sogar aus kollektivem Engagement entsteht? Hier sind andere Teile der Welt, wie Indonesien, besonders interessant und Europa weit voraus. Und auch andere Gemeinschaften, wie zum Beispiel Hacker- und Do-it-yourself- bzw. Do-it-with-others-Bewegungen, sind den Künsten voraus. Nicht ohne Grund betont ja Richard Grusin im Vorwort des Sammelbandes The Nonhuman Turn, dass beinahe jedes Problem des 21. Jahrhunderts (Klimawandel, Dürre, Biotechnologien) unmittelbar mit dem Nichtmenschlichen verbunden ist (mit Tieren, Körpern, Maschinen oder organischen und geophysikalischen Systemen). Dieses Plädoyer für eine intensive Auseinandersetzung mit dem Nichtmenschlichen kann man nur unterstützen. Und so haben wir versucht, mit Ausstellungen, Seminaren, Workshops und einer abschließenden Konferenz einen Beitrag dazu zu leisten.
Unsere Konferenz »Nonhuman Agents« vom November 2017 kann man auch als Antwort auf Ihre Frage nehmen: Das interdisziplinäre Symposium begann mit einer Reflexion über den Post-Anthropozentrismus; wir haben unterschiedliche Formen der Intelligenz (menschliche, tierische und pflanzliche) befragt und Begriffe wie ›Agency‹ (Handlungsfähigkeit) und ›Sentience‹ (Empfindungsfähigkeit) genauer zu definieren versucht. Wir haben über das Phänomen der Pilze (das Myzel, das Internet von Bäumen oder Hefen) und Formen mikrobieller Handlungsfähigkeiten (z.B. das Quorum sensing oder Biofilme) diskutiert und Formen der Mikrosubjektivität untersucht. In unserer Auseinandersetzung mit dem Mikrobiom bis hin zur Ethologie für die technowissenschaftliche Ära haben wir stets versucht, wichtige internationale Denker sowohl aus der künstlerischen Forschung wie auch den Geistes- und Naturwissenschaften zu vereinen.
Schließlich hat sich auch im Kontext unserer Projekte »Nonhuman Subjectivities« und »Nonhuman Agents« ein Phänomen bemerkbar gemacht, das wir derzeit weiter erforschen: Es geht um das Phänomen einer nichtrepräsentativen Kunst. Die Künstler befassen sich in offenen, zugänglichen Formaten mit Biomaterie, ohne sie anschließend in ein traditionelles künstlerisches Format zurückzubinden (etwa in ein Gemälde). Das Repräsentieren wird zugunsten einer unmittelbaren künstlerischen Auseinandersetzung mit der Materie bewusst unterlaufen. Faszinierend ist bei diesem künstlerischen Paradigma, dass man verstärkt das offene und flüchtige Format der Performance und kollaborative Arbeitsformen antreffen kann.
Sich mit Natur auseinanderzusetzen – ob sie nun künstlich, natürlich oder im Verschwinden begriffen sei – bedeutet heute, die Rahmenbedingungen und Grundlagen unserer Existenz unter die Lupe zu nehmen. Die Kunst der Gegenwart bewegt sich zwischen Kultur-Technologie-Natur-Konstrukten bis hin zu poetischen Zugriffen auf eine Natur, die nach wie vor Ideengeberin und Stofflieferantin ist. Wo steht die Natur nach Ihrer Auffassung heute?
Am Ende ihres spannenden Buches Symbiotic Planet stellte Lynn Margulis die Frage, ob unsere Spezies wirklich in der Lage sei, die Natur zu zerstören. Es hat eine wirklich erfrischende Wirkung, sich einige Passagen ihres Buches (das übrigens inzwischen auch auf Deutsch erschienen ist) vor Augen zu führen. An einer Stelle schrieb sie sinngemäß, dass wir Menschen der Natur kein Ende setzen können; eigentlich können wir nur eine Bedrohung für uns selbst darstellen. Sie fand die Vorstellung, dass der Mensch alles Leben zerstören könnte, lächerlich angesichts der Tatsache, dass Bakterien in den Gewässern der Kernkraftwerke und in kochend heißen Quellen bestens leben können.
Eine fantastische und ironische Abrechnung mit dem anthropozentrischen Naturkonzept stellt das Center for PostNatural History dar, ein langfristig angelegtes künstlerisches Projekt in Pittsburgh. Es versteht sich als Kunst- und Forschungsprojekt, das sich mit der Geschichte der Manipulation von Lebensformen durch die Menschheit befasst, von der frühen Landwirtschaft bis zur genetischen Veränderung. Eine Arbeit aus diesem Projekt, »PostNatural Organisms of the European Union«, war 2014 im Art Laboratory Berlin zu sehen: Sie stellt eine Art Museum dar, das Biofakte von lebenden, konservierten und dokumentierten Organismen präsentiert – also europäische Exemplare, die durch menschliche Eingriffe verändert wurden. Unter anderem konnten die Besucher da einen roten Kanarienvogel und eine transgene Mücke zur Bekämpfung der Malaria studieren oder etwas über das Svalbard-Samengewölbe in Nordnorwegen in Erfahrung bringen.
Wenn wir über die gegenwärtig modische Infragestellung des Begriffes ›Natur‹ hinausgehen und ›Natur‹ als Leben auf unserem Planeten definieren (von dem wir natürlich ein Teil sind), haben wir es mit einem Paradoxon zu tun. Auf der einen Seite gibt es eine Biodiversitätskrise von noch nicht definierbarer Größe. Das ist nicht neu, und Homo sapiens war wahrscheinlich schon lange vor der Jungsteinzeit für die Zerstörung der europäischen, asiatischen und amerikanischen Megafauna verantwortlich. Auf der anderen Seite ist der Planet auf mikrobieller Ebene erstaunlich reich. Das sogenannte Anthropozän ist eigentlich doch nur ein kleiner Fleck in einer planetarischen, von Bakterien dominierten Geschichte, heute wie früher.
Der gegenwärtige Trend, den Begriff der Natur infrage zu stellen oder durch den Begriff ›Anthropozän‹ auszudrücken, hat letztendlich ja auch etwas mit der Unfähigkeit der Geisteswissenschaften zu tun, sich mit einer Weltanschauung auseinanderzusetzen, in der die Menschheit nicht eines der Zentren oder gar das Zentrum des Universums ist. Selbst als Zerstörer ist unsere Rolle im Vergleich zu Cyanobakterien recht unbedeutend. Die Philosophin Rosi Braidotti fordert in ihrem Werk über den Posthumanismus mit gutem Grund unter anderem, dass wir Wissenschaftler noch viel interdisziplinärer arbeiten müssen – und zwar die Geistes- mit den Naturwissenschaftlern zusammen.
Judith Elisabeth Weiss ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZfL und leitet das Teilprojekt »Urform und Umbildung« des Verbundprojektes »Bildvorlagen«. Sie ist Mitherausgeberin des ausstellungsbegleitenden Bandes »Von Pflanzen und Menschen. Leben auf dem grünen Planeten« (im Auftrag des Deutschen Hygiene-Museums Dresden).
[1] Siehe den Themenband Kunstnatur | Naturkunst. Natur in der Kunst nach dem Ende der Natur, Kunstforum International Bd. 258, 2019, S. 161-167.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Über Kunst, Wissenschaft und das Ende der Natur. Judith Elisabeth Weiss im Gespräch mit Regine Rapp und Christian de Lutz von Art Laboratory Berlin, in: ZfL BLOG, 15.4.2019, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/04/15/ueber-kunst-wissenschaft-und-das-ende-der-natur-judith-elisabeth-weiss-im-gespraech-mit-regine-rapp-und-christian-de-lutz-von-art-laboratory-berlin/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20190415-01