Petra Boden: AMBIVALENZEN DES ZWISCHENRAUMS. Ein Nachruf auf Rainer Rosenberg

Als das ZfL 1996 unter dem Namen Zentrum für Literaturforschung seine Arbeit aufnahm, gehörte der jüngst verstorbene Rainer Rosenberg zu den ersten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Bis zu seiner Pensionierung 2001 leitete er das Projekt »Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft seit 1945 – Veränderungen des Literaturbegriffs«, an dem auch Petra Boden mitarbeitete. In ihrem Nachruf erinnert sie an einen in der DDR sozialisierten Germanisten, der besonders mit seinen Arbeiten zur Literatur des Vormärz und zur Geschichte der Germanistik bekannt geworden ist.

Die akademische Karriere von Rainer Rosenberg (24.4.1936 – 30.11.2021) begann erst, als viele Angehörige seiner Generation längst auf den germanistischen Lehrstühlen saßen, die Ende der 1950er Jahre in der DDR frei geworden waren, weil ihre einstigen Inhaber sich ihre Zukunft nur noch an westdeutschen Universitäten hatten vorstellen können. Rosenberg führte es hingegen an die Akademie der Wissenschaften in Berlin, wo er sich 1965 erfolgreich bei der Arbeitsstelle Georg Herwegh am dortigen Institut für deutsche Sprache und Literatur beworben hatte. Unter der Leitung des Remigranten Bruno Kaiser sollte sie zu einer Forschungsstelle für sozialistische Literatur ausgebaut werden.

Bereits als Schüler hatte Rosenberg sich einem leidenschaftlichen Interesse für Geschichte, Literatur und Sprachen verschrieben. Russisch und Englisch beherrschte er schnell; entsprechende Kenntnisse des Französischen hatte er sich als Autodidakt angeeignet, so dass er schon früh die großen Werke der Weltliteratur im Original lesen konnte. Hätte es an der Jenaer Universität eine Komparatistik gegeben, hätte er sich sicher dafür immatrikuliert. So aber fiel die Wahl des 17-Jährigen 1953 auf das Fach Germanistik. Trotz des engen Studienplans besuchte er regelmäßig auch Seminare und Vorlesungen in Geschichte, Kunstgeschichte und Slawistik. Sein Lehrer Joachim Müller bemerkte früh die Begabung des ehrgeizigen Studenten. In der Staatsexamensarbeit, die Rosenberg über Gerhart Hauptmanns Atriden-Tetralogie geschrieben hatte, erkannte Müller ein überdurchschnittliches Potenzial an philologischem Sachverstand. Er gab nur wenige Hinweise zur Überarbeitung und nahm die Arbeit 1957 als Dissertation an. Damit hätte dem erst 21-Jährigen eigentlich der Wechsel auf eine Stelle als Assistent seines Doktorvaters offen gestanden – wenn ihm nicht die Politik dazwischengekommen wäre.

1955 hatten seine Eltern zusammen mit den jüngeren Geschwistern der DDR den Rücken gekehrt und lebten in der Bundesrepublik. Rainer blieb – wegen seiner zukünftigen Frau Johanna, aber auch wegen der Distanz, die er zur politischen Realität der frühen Bundesrepublik empfand. Allerdings wurde ihm das Stipendium gestrichen. Nur dem Einsatz von Joachim Müller war es zu verdanken, dass diese Sanktion zurückgenommen wurde. Dagegen, dass Rosenberg bei den politisch engagierten Studenten und Lehrkräften nicht gut angesehen war, konnte jedoch auch Müller nichts ausrichten. Neben Hans Mayer der einzige ›bürgerliche‹ Germanist, der noch an einer Universität in der DDR lehrte, war Müller dem orthodoxen Marxisten und linientreuen SED-Mitglied Georg Mende, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, längst selbst ein Dorn im Auge. Mende ließ keine Gelegenheit ungenutzt, Müller mit ideologischen Kampagnen unter Druck zu setzen und war ohnehin dafür verantwortlich, dass der politische Druck auf Lehrpersonal und Studenten der Universität Jena um einiges schwerer lastete als an anderen Hochschulen in der DDR. Aus der Distanz zu den in Jena besonders aktiven SED-Anhängern unter seinen Kommilitonen hat Rosenberg trotzdem kein Geheimnis gemacht und sich Gleichgesinnten höherer Semester angeschlossen. Dieser Distanz und seiner Vorliebe für Literatur, die als dekadent verpönt war – etwa Beckett, Benn, Yvan Goll oder Proust – Nachdruck verleihend, trug er seinen Schnurbart schwarz gefärbt und den Nagel am kleinen Finger der linken Hand rot. In der Konsequenz blieb ihm dann nur noch eine Zukunft als Redakteur bei der National-Zeitung in Berlin, wofür ihm allerdings jede journalistische Begabung fehlte. Auch im zugehörigen Verlag der Nation, bei dem ihm eine wohlwollende Kollegin nach zwei Jahren ermüdender Redakteursarbeit eine Stelle als Lektor verschaffen konnte, wurde Rosenberg nicht glücklich, selbst wenn er dort noch die Zeit fand, Romane aus dem Russischen zu übersetzen.

Der Wechsel vom Verlag der Nation zur Akademie der Wissenschaften, an der er sich nach einem Hinweis seiner dort schon angestellten Frau Johanna beworben hatte, setzte nun aber alle seine wissenschaftlichen Energien frei. Dies umso mehr, als dort eine Reform auf den Weg gebracht worden war, die 1969 zur Gründung des Zentralinstituts für Literaturgeschichte (ZIL) führte. Was an den Universitäten mit ihren nach Nationalsprachen und -literaturen organisierten Instituten nicht möglich war, wurde hier zum wissenschaftlichen Alltag: die Zusammenarbeit der Philologien unter einem Dach. Allerdings waren Rosenbergs Kapazitäten auf Jahre hinaus durch das große Projekt der zwölfbändigen Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart[1] gebunden. Als Mitarbeiter in der Arbeitsstelle Georg Herwegh hatte er sich das nötige Expertenwissen zum Vormärz angeeignet, um die beiden umfangreichen Abschnitte zur Literatur zwischen 1830 und 1848 schreiben zu können. Der entsprechende Band 8.1 erschien 1975. Im Zuge dieser Arbeit verfasste er sein erstes Buch, mit dem er 1974 – nach sowjetischer Nomenklatur – zum Dr.sc. promoviert wurde, sich also habilitierte. Unter dem Titel Literaturverhältnisse im deutschen Vormärz erschien es 1975 im Akademie-Verlag Berlin und – durchaus nicht üblich – zugleich im Damnitz Verlag München. Dieses Buch fand so auch in Westdeutschland zahlreiche Leser, weil sich dort linksorientierte Germanisten für eine Literatur zu interessieren begannen, deren gesellschaftskritisches, ja politisch-revolutionäres Programm durch den im Westen gängigen Begriff ›Biedermeier‹ – just zu dieser Zeit von Friedrich Sengle erneut autorisiert – verdeckt bleiben musste. Auch methodisch und theoretisch war Rosenberg für die sich in Westdeutschland etablierende Sozial-, Kommunikations- und Rezeptionsgeschichte der Literatur anschlussfähig. Seine Texte zum Vormärz, zu Heine und Büchner – die ihm besonders am Herzen lagen – wurden dort weithin rezipiert.

Wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen in der DDR schockierte ihn die Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976. Die Philosophen Wolfgang Heise und Heinz Pepperle, mit denen er sich ebenso freundschaftlich verbunden fühlte wie mit seiner unmittelbaren Kollegin Ingrid Pepperle, waren ihm als vertraute Gesprächspartner jetzt umso wichtiger. Schon 1968 hatte der Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrags in Prag seine politischen Hoffnungen ernüchtert, aber diese Erfahrung war vorerst hinter die allgemeine Aufbruchsstimmung am neu gegründeten ZIL zurückgetreten. Jetzt aber ging Rosenberg auf Distanz zur politischen Realität der DDR. Am Institut merkte man das an seiner konsequenten Weigerung, sich politisch zu engagieren, also eine gesellschaftliche Funktion – wie man dies nannte – zu übernehmen. Diese Haltung trug ihm im Kollegenkreis viel Missbilligung ein. Seine Reputation als Wissenschaftler in- und außerhalb des Instituts blieb davon jedoch unberührt. Als der Germanist Claus Träger 1980 endlich die Gründung der Zeitschrift für Germanistik durchsetzen konnte, lud er Rosenberg in das Herausgebergremium ein, dem er bis zum Eintritt in den Ruhestand im Jahr 2001 angehörte.

Ab Mitte der 1970er Jahre leitete Rosenberg am ZIL eine Gruppe, die zur Literatur zwischen 1830 und 1870 geforscht hat; auch war ihm der Professorentitel verliehen worden. Seine eigentlichen Interessen richteten sich in jener Zeit jedoch zunehmend auf die Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Seine kritische Distanz zum Weltanschauungsmarxismus ging nunmehr auch in seine wissenschaftliche Arbeit ein. Die Borniertheit der Teleologie marxistischen Fortschrittsdenkens, nach der die Geschichte gesetzmäßig auf den Sieg der Vernunft und die Befreiung der Menschheit zulaufen und von der Literatur zu beglaubigen sein musste, hatte sich ihm in seiner bisherigen literaturgeschichtlichen Arbeit überdeutlich gezeigt. Umso mehr trieb ihn nun die Frage um, wie sich Generationen von Literaturhistorikern früherer Zeiten zum jeweilig geltenden Geschichtsdenken verhalten hatten. Theorie- und Methodengeschichte der Literaturwissenschaft wurden fortan seine Arbeitsschwerpunkte. Hierbei kamen ihm seine Sprachkenntnisse erneut zu Hilfe, denn nun las er auch die internationalen Neuerscheinungen namentlich aus dem französischen und englischen Sprachraum, soweit sie ihm zugänglich waren, im Original, wie er es bislang schon mit Texten des osteuropäischen Strukturalismus und Formalismus gehalten hatte. Die bald zirkulierenden poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Theorieangebote nahm er zwar neugierig, vor allem aber mit wohlwollender Distanz zur Kenntnis. Er blieb der ideologiekritischen Perspektive, mit der sich seit Mitte der 1970er Jahre auch Kolleginnen und Kollegen in der Bundesrepublik der Geschichte der Germanistik zugewandt hatten, treu und damit auch an der Ost-Berliner Akademie anschlussfähig.

In einem Punkt aber war Rosenberg singulär: Er war der erste und für lange Zeit der einzige Germanist in der DDR, der zur Geschichte seines Fachs geforscht und publiziert hat. Für den wissenschaftsgeschichtlich interessierten Nachwuchs in der DDR war er daher die Autorität. Aber auch wenn er entsprechende Dissertationsvorhaben engagiert begleitet hat, sah er sich nie in der Rolle eines Lehrers. Die hat er strikt von sich gewiesen. Da seine Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik von 1981 und der ihnen 1989 folgende Band Literaturwissenschaftliche Germanistik. Zur Geschichte ihrer Probleme und Begriffe erneut auch von der westdeutschen Forschung wahrgenommen wurden, konnte Rosenberg nicht nur einer jüngeren Generation grenzüberschreitende Kontakte vermitteln. Er schrieb auch für die großen einschlägigen Lexika Artikel zu den Begriffen ›Epoche‹, ›Kanon‹, ›Klassiker‹, ›Literatur‹ und ›Stil‹.

Obwohl die Hermeneutik in der DDR als ›bürgerliche‹ Wissenschaft weithin verpönt war, hatte Rosenberg sich schon früh mit den Schriften Wilhelm Diltheys auseinandergesetzt. Gelegentlichen Kollegenspott, ob er etwa eine ›marxistische Hermeneutik‹ begründen wolle, hat er konsequent ignoriert oder ironisch kommentiert. An Dilthey faszinierte ihn, was er auch an anderen Autoren als intellektuelle Redlichkeit schätzte. Schon 1987 lag seine Neuausgabe von Diltheys Das Erlebnis und die Dichtung druckfertig vor; erscheinen konnte sie aber erst, nachdem die Zensoren entmachtet worden waren. Der Reclam Verlag Leipzig brachte das Buch 1991 auf den Markt.

Um diese Zeit war Rosenberg längst ein auch international bekannter und geschätzter Experte für die Literatur des 19. Jahrhunderts und die Geschichte der germanistischen Literaturwissenschaft. Seine Arbeiten waren über die Jahre auf breite Resonanz gestoßen, etliches war auch in Übersetzungen erschienen. Nach vielen Reisen zu Tagungen im sozialistischen Ausland durfte er ab Beginn der 1980er Jahre auch den immer wieder ergangenen Einladungen ins westliche Ausland folgen. Damit war er einer der ganz wenigen Geisteswissenschaftler, die das Privileg eines ›Reisekaders‹ in Anspruch nehmen konnten, ohne die diesem Status förderliche Mitgliedschaft in der SED vorweisen zu können. Zu vielen Kolleginnen und Kollegen aus dem Westen stand er deshalb 1989 bereits in freundschaftlicher Beziehung, so etwa zu Klaus Scherpe, der ihn Mitte der 1980er Jahre bei einem Arbeitsaufenthalt in der Germanistik-Bibliothek der Freien Universität mit seinem Lehrer Eberhard Lämmert bekannt gemacht hatte. Die gemeinsamen fachgeschichtlichen Interessen waren ab dann Gegenstand eines intensiven persönlichen Austauschs. So hat Lämmert Rosenberg zur Mitarbeit an dem 1989 von ihm gegründeten Marbacher Arbeitskreis zur Geschichte der Germanistik eingeladen, an dessen Sitzungen und internationalen Tagungen er fortan aktiv beteiligt gewesen ist.

Diese Kontakte waren auch 1990/91 bei der Evaluation der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft von Bedeutung. Denn als die Akademie der Wissenschaften der DDR vor ihrer Abwicklung stand und der Institutsrat des ZIL in mehreren Sitzungen fieberhaft überlegte, wen man denn als Leiter einer immerhin in Aussicht stehenden Neukonstitution dieses Instituts ins Auge fassen und den neuen Administratoren vorschlagen könne, brachte Rosenberg das Gespräch auf Eberhard Lämmert. Verblüfft habe er feststellen müssen, dass kaum jemand von seinen Ost-Berliner Kollegen den ehemaligen Präsidenten der Freien Universität Berlin kannte oder von ihm gehört hatte – so erzählte er später. Die Argumente, die Rosenberg für diesen auch in Dingen der Wissenschaftsorganisation sehr erfahrenen Germanisten vorbrachte, haben die Beteiligten jedoch überzeugt. Eberhard Lämmert wurde vom Institutsrat vorgeschlagen; dieser Vorschlag wurde ohne Widerspruch akzeptiert und Lämmert damit 1991 kommissarischer Leiter des vorerst so genannten Forschungsschwerpunkts Literaturforschung, 1996 umbenannt in Zentrum für Literaturforschung.

Seit eine kleine Minderheit ehemaliger ZIL-Kolleginnen und -Kollegen unter dem Dach der Max-Planck-Gesellschaft, später durch Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Gelegenheit hatte, weiterhin wissenschaftlich zu arbeiten, war dies an die Voraussetzung bewilligter Forschungsanträge gebunden. Ein Projekt zur Literatur des Vormärz, in welchem theoretischen Design auch immer, kam Rosenberg nicht in den Sinn. Seine Vermutung, dass mit Forschungen zur Geschichte der Germanistik in der DDR jedoch Neuland betreten werden konnte, für das unter den westdeutschen Gutachtern Interesse vorausgesetzt werden könnte, erwies sich als zutreffend. Neben dem bereits angelaufenen und im Nachhinein wohl prominentesten Projekt des Historischen Wörterbuchs Ästhetische Grundbegriffe sollte das neue Institut weitere Stützpfeiler erhalten. Dass die Grundlagenforschung zur Geschichte der Geisteswissenschaften deshalb fest in dessen Programm verankert sein müsste, war für Lämmert eine Conditio sine qua non; ein kluger Schachzug, denn für derartige Forschungsprogramme bestanden an keiner der deutschen Universitäten – weder im Osten, noch im Westen – die nötigen Voraussetzungen.

Aus drei aufeinanderfolgenden von Rosenberg geleiteten Projekten zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft seit 1945, ihren Theorien, Institutionen, Methoden und Grundbegriffen gingen zahlreiche gewichtige Bücher und Aufsätze hervor. Die Erfahrung, dass er sich darüber mit seinen Publikationen selbst historisch werden, dass er auch Arbeiten von Kolleginnen und Kollegen, zuweilen Freunden, beurteilen musste, hat ihm gelegentlich Unbehagen bereitet. Was letztlich aber zählte, war sein Widerstand gegen den verbreiteten Vorbehalt, er sei als Beteiligter nicht fähig, diesen Teil der Fachgeschichte zu erforschen. Als sei historische Distanz ein Garant für Objektivität! Rosenbergs Respekt vor den wissenschaftlichen Leistungen Dritter und die Berücksichtigung ihrer jeweiligen Ermöglichungs- und Erfolgsbedingungen kennt, wer seine Arbeiten gelesen hat. Es zeichnet seinen Stil aus, Wissenschaftsgeschichte nicht mit wohlfeiler Kollegenschelte zu verwechseln, eine Verführung, der sich nicht jeder hat entziehen können, der nach 1989 über die Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft vor 1989 geschrieben hat. Balance gehalten zu haben auf dem – wie Rosenberg ihn nannte – »schmalen Grat zwischen Selbstdenunziation und Selbstapologie« wird man ihm bestätigen müssen. Seine anfangs nur zögernde Zustimmung zum letzten unter seiner Leitung durchgeführten Projekt, in dem es um 1968 als sowohl wissenschaftspolitische wie auch theorie- und institutionengeschichtliche Zäsur gehen sollte, hatte genau damit zu tun. Es war ein Eisen, das 1996 noch bzw. wieder heiß war, weil etliche der mit ihm befreundeten westdeutschen Linken inzwischen auf Lehrstühlen saßen und sich einem politischen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sahen. Rosenberg hat professionelle Distanz eingehalten, auch zu sich selbst. Einmal mehr bewohnte er den institutionellen und politischen Zwischenraum, in dem er seit Langem schon lebte.

Aber war diese Distanz wirklich nur eine professionelle? Waren die Ambivalenzen, die er in diesem Zwischenraum erfahren hat, so einfach lebbar? Diese Frage stellt sich mit beklemmender Dringlichkeit, wenn man sein letztes Buch zur Hand nimmt. Unter dem Titel Innenansichten zur Wissenschaftsgeschichte. Vorläufige Bilanz eines Literaturwissenschaftlers ist es 2014 in der Reihe Berliner Beiträge zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte erschienen. In dieser Autobiographie ist Rosenberg nun öffentlich auch zu sich selbst auf Distanz gegangen: Sie ist durchgängig in der dritten Person geschrieben, abgekürzt mit dem Initial R. Im Vorwort identifiziert R. als einen der Beweggründe autobiographischen Schreibens zwar ausdrücklich das Motiv, dass man seinen Verfasser »so im Gedächtnis behält, wie er es gern hätte«, aber mit dieser Selbstauskunft hat er das Gedächtnis seiner Freunde und Kollegen wohl erst einmal verunsichert. Hinter dem zurückhaltenden Mann, den sie kannten, wird nun eine Person sichtbar, die sich Zeit ihres Lebens mit Zweifeln an ihrer Rolle und Identität gequält hat und darüber jetzt mehr Auskunft gibt, als nötig erscheinen mag.

Warum aber diese über weite Strecken bedrückend zu lesende öffentliche Rechenschaft? Zwar musste auch Rainer Rosenberg am Ende seiner beruflichen Laufbahn die Erfahrung machen, dass die Erforschung der Geschichte der Germanistik kein karrierefördernder Gegenstand mehr war, aber das war für ihn, der sich aus der aktiven Teilnahme am Wissenschaftsbetrieb zurückzuziehen begann, ohnehin nicht mehr von Belang. Was er bis dahin erreicht hatte, kann man durchaus als eine Erfolgsgeschichte begreifen.

Was für ihn, wie sich nun zeigt, aber nie ohne Belang war und wohl auch nicht sein konnte, war er sich selbst. Seiner Selbstbeobachtung nach spielen Erfahrungen, die er in Kindheit und Jugend gemacht hat, für sein späteres Leben eine gravierende Rolle. Rainer Rosenberg war in Verhältnisse hineingeboren worden, die ihn offenbar zeitlebens belastet haben. Sein Vater war ein uneheliches Kind und in der Terminologie des Nationalsozialismus durch die Abstammung seines Vaters ein ›Halbjude‹. Dessen Herkunft wurde allerdings verschwiegen, indem man offiziell einen anderen als Vater ausgab. Davon zu sprechen war dem Sohn streng untersagt worden. Und daran hielt sich auch noch dessen Sohn, Rainer Rosenberg. In der DDR spielte eine jüdische Herkunft ja nur dann eine Rolle, wenn sie von den Nazis verfolgte und ermordete Antifaschisten betraf, zu denen aber niemand aus Rosenbergs Familie gehörte. Wann diese Familie erfahren hat, dass Rosenbergs Großvater über einen spitzfindigen Trick von einigem anekdotischen Wert seine Identität gefälscht hatte, um einen ›Ariernachweis‹ zu besitzen, erzählt die Person R. nicht.

Rosenbergs Herkunft war aber noch von einem zweiten Tabu belastet. Die Familie stammte aus der böhmischen Stadt Braunau (Broumov), die nach dem Münchner Abkommen von 1938 zusammen mit dem neugegründeten Reichsgau Sudetenland ins Deutsche Reich eingegliedert worden war. Als Sudentendeutsche wurden sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vertrieben und hatten zunächst versucht, in Thüringen wieder Fuß zu fassen. Über das Schicksal von Vertriebenen wurde in der DDR jedoch bis weit in die 1980er Jahre nicht gesprochen. Erst mit der Veröffentlichung des Romans Wir Flüchtlingskinder von Ursula Höntsch, der 1985 erschien, war öffentlich eine Stimme zu diesem Thema vernehmbar.

In den in seiner Familiengeschichte wurzelnden Gewissheiten, nicht richtig dazu zu gehören, hat Rainer Rosenberg sich immer wieder bestätigt gefunden und eingerichtet. Sie haben ihn dazu getrieben, nicht nur zu den ihn umgebenden Verhältnissen die Distanz eines Beobachters einzunehmen, sondern auch zu sich selbst. So schmerzhaft das gewesen sein mag und so sehr ihn das auch immer wieder in Unruhe versetzt haben wird, so sehr haben ihn dieser Schmerz und diese Unruhe auch hellsichtig und produktiv gemacht. Meine Erinnerung an 17 Jahre anregender Zusammenarbeit, in denen eine enge Freundschaft mit Johanna und Rainer Rosenberg gewachsen ist, weiß davon.

Die Germanistin Petra Boden war bis 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZfL. Aktuell erforscht sie an der Humboldt-Universität zu Berlin in einem von der DFG geförderten Projekt »Interdisziplinarität als Praxisform Die Debatten um den epistemischen Status des Erzählens als exemplarischer Fall (19701990)«.

[1] Geschichte der Deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, 10 Bände in 12 Büchern, hg. von Klaus Gysi u.a., Berlin (DDR) 1961–1983.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Petra Boden: Ambivalenzen des Zwischenraums. Ein Nachruf auf Rainer Rosenberg, in: ZfL BLOG, 3.1.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/01/03/petra-boden-ambivalenzen-des-zwischenraums-ein-nachruf-auf-rainer-rosenberg/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220103-01

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