Ganz am Ende von Hektor Haarkötters Kulturgeschichte des Notierens (Notizzettel: Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M.: Fischer, 2021) haben sich Autor und Verlag einen kleinen Spaß erlaubt. Zwischen Personenregister und hinterem Einbandspiegel stößt die Leserin auf zwei Leerseiten, überschrieben nur mit dem Vermerk »Raum für Ihre Notizen«. Ein Scherz im Angesicht dieser überaus umfangreichen Studie, die auf 590 Seiten materielle Praktiken des Notierens auf verschiedensten Trägermedien wie Zetteln und Notizbüchern, Hauswänden und Bodendielen, Statuen und Videobändern von der Antike bis ins 21. Jahrhundert verfolgt. Ein Scherz, keine Frage, und zugleich einer, der auf ein – mittlerweile überlebtes – Phänomen in der Geschichte von Druck und Buchproduktion rekurriert. Denn welcher Leser wäre nicht schon andernorts eben solchen Vakatseiten begegnet, so vor allem in kostengünstig hergestellten Büchern, die mithilfe der Rubrik »Raum für eigene Notizen« primär eins zu kaschieren suchen: dass der papierene Leerstand am Schluss das Resultat einer letztlich fehlgegangenen Satz- bzw. Druckbogenkalkulation darstellt. Es handelt sich um ein eigentlich überflüssiges Zuviel an Druckfläche, dem erst nachträglich eine (Ersatz-)Funktion zugewiesen wurde: in Gestalt eines Angebots an die Leserschaft, die unbeschriebenen Blätter nun doch, sofern gewünscht, selbsttätig von Hand zu füllen.
Heute, in Zeiten hochentwickelter softwarebasierter Setzverfahren, sind solche Papierüberschüsse am Ende von Büchern technisch problemlos zu vermeiden.[1] Und ein Band, der sich in allen (anderen) Aspekten von Design und Herstellung so sorgfältig ›gemacht‹ zeigt wie derjenige Haarkötters, hätte jenes älteren Verfahrens paratextueller Umwidmung, von der ungewollten Leerseite zum »Raum für Ihre Notizen«, schon gar nicht bedurft. Der Scherz tritt hier somit im Gewand des Anachronismus auf – ist aber zugleich doch weit mehr als das. Denn dass die Leserinnen zum Ergänzen und Auffüllen von eigener Hand ermutigt, wenn nicht gar dazu angehalten werden, das gelesene Buch auch als eigenes Notizbuch zu verwenden, ist Teil der Agenda dieser Studie und Ausdruck ihres normativ unterlegten Programms. Die Leerseiten bilden hier keinen kontingenten Exzess, sondern sind zur tatsächlich beabsichtigten Zugabe geworden, weil das Lesen aus ganz bestimmten Gründen ins Notieren übergehen soll. Doch dazu später mehr.
Ich entdecke die Leerseiten für Ihre, also auch meine, Notizen erst, als ich mit der Lektüre von Haarkötters Buch bereits fertig bin. Was ich beim Lesen festhalten wollte, habe ich stattdessen einigen losen Blättern anvertraut: Seitenzahlen, kurze Zitate, Beobachtungen, historische Daten, Thesen, kritische Einwände. Die erste dieser Anmerkungen bezieht sich auf die zweite Seite des Vorworts, auf der sich erstmals das zentrale Argument formuliert findet, das im weiteren Gang der Untersuchung noch vielfach wiederholt werden wird. Gegenstand der Studie, so heißt es da nämlich, seien Notizzettel von solcher Art, »die gerade nicht geschrieben, gekritzelt, gesudelt oder gehudelt werden, um anderen Menschen etwas zu kommunizieren, sondern die scheinbar nur für einen selbst da sind« (S. 10). »Scheinbar«, also nicht wirklich? Eher unwillentlich als absichtsvoll kommt hier eine Einschränkung ins Spiel, die in den folgenden sieben Kapiteln des Buches – leider – kaum mehr eine Rolle spielen wird. Denn wo immer Haarkötter die Notierpraktiken individueller Autoren (von da Vinci und Wittgenstein bis hin zu Lichtenberg und Luhmann) oder bestimmter sozialer Kollektive (von Laborwissenschaftlern bis hin zu Graffiti-Sprayern) unter die Lupe nimmt, beharrt er darauf, dass schriftliche Notizenproduktion – im Gegensatz etwa zu mündlicher Kommunikation – frei von jeder Mitteilungsfunktion sei. Die im Akt des Notierens entstehenden Aufzeichnungen seien daher »Kommunikanten ohne Kommunikate« (S. 517), d. h. Äußerungen ohne Geäußertes im eigentlichen Sinne, wobei der Autor in dieser Formel einen noch allgemeineren, über seinen Gegenstand weit hinausreichenden, medientheoretischen Sachverhalt erfasst zu haben glaubt: »Medien sind nicht zum Kommunizieren da.« (S. 517)
Man mag Haarkötter zugutehalten, dass er mit Überzeugung, Mut und einer gewissen Respektlosigkeit gegen etablierte Grundannahmen der Medien- und Kommunikationswissenschaft argumentiert und sich nicht scheut, steile und ersichtlich provokativ gemeinte Thesen vorzubringen. Dazu zählt auch das zweite zentrale Argument seiner Studie, an der Produktion von Notizen lasse sich »exemplarisch« ablesen, dass die mediale Speicherung von Informationen gerade nicht dazu diene, diese für die subjektive Erinnerung aufzubewahren, sondern sie vielmehr aus dem Gedächtnis zu verbannen: »Medien sind zum Vergessen da« (S. 35). Wenig überraschend ist jedoch, dass sich in der Ausführung dieser pauschalisierenden Annahmen vielerlei Probleme und Widersprüche ergeben. In manchen Fällen sind die Beispiele schlicht wenig überzeugend gewählt und konterkarieren recht offenkundig die an ihnen entwickelten Schlussfolgerungen. So wissen nicht nur Eltern, dass die Weihnachtswunschzettel ihrer Kinder alles andere darstellen als Botschaften, denen ein (real existierender) Adressat »fehlt« (S. 480) und die deshalb keine kommunikative Funktion zu erfüllen vermögen (wenn dem tatsächlich so wäre, würde es für alle Beteiligten ein eher betrübliches Fest). In anderen Fällen werden historische Quellen bemüht, die gleichfalls eher gegen die Thesen arbeiten, die zu stützen sie auserwählt sind. So unter anderem dort, wo sich Haarkötter in seiner Behandlung von Leonardo da Vincis »unkommunikativer« Notizzettelproduktion ausgerechnet auf eine Aufzeichnung beruft, die im rhetorischen Gestus einer captatio benevolentiae ganz explizit auf einen möglichen Empfänger der Aufzeichnungen Bezug nimmt: »Also, Leser, tadle mich nicht …« (S. 85).
Am schwersten wiegt allerdings, was das Buch so gut wie gar nicht in Rechnung stellt: dass die mediale Funktionsweise von Schrift – auch im Fall von Notizzetteln und selbst im Fall privatester ›Ego‹-Reflexionen – immer schon ein potenzielles Gelesen-Werden durch andere einschließt, selbst wenn dies zum Zeitpunkt der Abfassung nicht beabsichtigt sein sollte. Haarkötters Studie mit ihren ausführlichen Notizen-Lektüren liefert für diesen Umstand ja selbst den deutlichsten Beleg! Entsprechend sieht sich der Autor zur Plausibilisierung seiner These immer wieder dazu gezwungen, auf die kommunikativen Absichten der Notierenden bzw. auf das vermeintliche Fehlen eben solcher Absichten in ihren Schreibpraktiken zu rekurrieren und dabei intentionale Handlungsmuster zu unterstellen, die sich häufig aus biographistischen oder psychologisierenden Erwägungen herleiten. Und selbst diese Strategie erspart es ihm letztlich nicht, an zumindest einer Stelle seiner Untersuchung einräumen zu müssen, was im deutlichen Widerstreit zu seiner Zettel-sind-Kommunikanten-ohne-Kommunikate-Behauptung steht: »Wer keine Leser will, sollte nicht schreiben. Wer dennoch schreibt, der schließt eine wenn auch nachgeholte, eingeschränkte oder unklare Kommunikation jedenfalls nicht völlig aus.« (S. 303)
In methodischer Hinsicht optiert Haarkötter für einen narrativen Darstellungsansatz, der historische und theoretische Befunde »aus Geschichten heraus entwickeln« (S. 21) und dabei stets dem Prinzip größtmöglicher Anschaulichkeit verpflichtet bleiben will. Und tatsächlich liegt die Stärke seines Buchs im häufig sehr plastischen (Nach-)Erzählen von Ereignissen und Anekdoten, so etwa jener des Rechtsgelehrten Johann Jacob Moser aus dem 18. Jahrhundert, der während seiner von der Obrigkeit verordneten Festungshaft mangels anderer Schreibmaterialien zur Beschriftung sämtlicher Oberflächen seiner Gefängniszelle schritt und diese somit in einen begehbaren, »dreidimensionalen Notizzettel« (S. 490) verwandelt habe. Diese und andere Episoden aus der Kulturgeschichte des Notierens, zwischen denen Haarkötter originelle, couragierte und bisweilen verwegene Verbindungen knüpft, machen den Reichtum seiner Untersuchung aus. Erzählt wird von Wandkritzeleien im antiken Rom, von den »blauen Notizheften« in Michel aus Lönneberga, von den Planungsskizzen des amerikanischen Bankräubers Willie Sutton und vielem mehr. Getragen wird das Arrangement des Materials dabei nicht zuletzt von einem gewissen antiakademischen Affekt (Haarkötter bekennt sich ausdrücklich zu seiner Herkunft aus dem Journalismus, obgleich er mittlerweile selbst im universitären Milieu tätig ist). Die polemische Abgrenzung gegen die Hermetik und Fußnotenkrämerei vieler wissenschaftlicher Publikationen mag ein durchaus nachvollziehbares Mittel der Selbstpositionierung sein, zumal im Fall eines Buches, das sich wie dieses an ein breiteres Publikum außerhalb der Universitäten richtet. Nichtsdestotrotz muss sich auch eine solche ›populärer‹ gestaltete Studie, soweit sie den Anspruch erhebt, eine Kulturgeschichte und Medientheorie des Notizzettels zu liefern, an wissenschaftlichen Maßstäben von historischer Genauigkeit und begrifflicher Schärfe messen lassen. Und gemessen an diesen Maßstäben fällt die Bilanz des Buches doch weit weniger überzeugend aus.
Die problematischen Aspekte in Haarkötters Darstellung historischer Entwicklungen zeigen sich dabei nicht nur, wo etwa 300 Jahre Philosophiegeschichte von Bacon bis Marx in drei knappen Sätzen resümiert werden, mit allem Reduktionismus, den ein solcher Zugriff unvermeidlicherweise in sich birgt. Bisweilen ist der Umgang mit einzelnen Fakten und Daten auch in ganz konkretem Sinne ungenau oder irreführend, so z. B. wenn das Jahr 1452 zum Jahr der »Erfindung« des Notizzettels ausgerufen wird, um so eine zeitliche Koinzidenz mit Gutenbergs bahnbrechendem Bibeldruck zu konstruieren – mit der Begründung, dass in jenem Jahr Leonardo da Vinci zur Welt kam, der später (!) zum ersten »systematischen« Notizzettelproduzenten avanciert sei. Vor allem aber vermag die These, der Notizzettel sei als »das universellste aller Universalmedien« (S. 18) anzusehen, und dies auch und gerade im »Digizän« des frühen 21. Jahrhunderts, weder in ihrer historischen Herleitung noch in ihrer theoretischen Begründung einzuleuchten. Denn weder war bzw. ist der Gebrauch dieses Mediums so vorherrschend, ja ubiquitär wie Haarkötter dies (vor allem mithilfe von anekdotischer Evidenz) geltend macht; noch etwa ist der Notizzettel universal im Sinne der von ihm ausgeübten medialen Funktionen, da er zum Speichern oder gar Prozessieren vieler Datentypen wie z. B. Tönen oder bewegten Bildern nicht verwendet werden kann.[2] Überdies handelt Haarkötters Buch selbst in großen Teilen, ja sogar überwiegend, nicht von Zetteln im eigentlichen Sinne, sondern von anderen Trägermedien des Notierens, so in erster Linie von Notizbüchern, ohne dass dabei deren je spezifische, oft gerade nicht-zettelhafte Materialität und Funktionsweisen in Rechnung gestellt würden.
So wie Haarkötters Studie zwar den Titel Notizzettel trägt, über weite Strecken jedoch von anders gearteten medialen Objekten erzählt, beschreibt auch der Untertitel Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert lediglich einen Teil-, wenn nicht Randaspekt ihres Gegenstandsbereichs. Denn um unsere Gegenwart geht es nur gelegentlich sowie auf den letzten Seiten, während die Beschäftigung mit anderen Epochen – von der Antike über die Renaissance und die Aufklärung bis hin zur Moderne – sehr viel größeren Raum einnimmt. Wer das Buch also in der Erwartung aufschlägt, darin eine eingehende Auseinandersetzung mit den Notierpraktiken des digitalen Zeitalters vorzufinden, der wird enttäuscht. Stattdessen treten Aktualitätsbezüge in erster Linie durch die Konstruktion historischer Parallelen und Antizipationsverhältnisse in Erscheinung: Leonardos Zettelwirtschaft etwa wird zum »Vorboten von Hypermedien und Internet« (S. 64) erklärt; Wittgensteins Notierverfahren erscheinen als strukturelle Präfiguration des World Wide Web (S. 150); die Zettelkästen der Wiener Hofbibliothek fungieren als erste »Suchmaschine« (S. 384) der Welt; babylonische Strategien der Listenführung weisen bereits auf die komplexe Datenverarbeitung der heutigen Zeit voraus (S. 319). Über die Spezifizität neuer digitaler Technologien und ihren Einfluss auf etablierte, vordigitale Kulturtechniken der Notizenproduktion erfährt man hingegen nur wenig.
Dies wiederum hat auch damit zu tun, dass es Haarkötter mit Blick auf die Gegenwart primär darum zu tun ist, das handschriftliche Notieren auf Papier gegen seine (drohende) digitale Ersetzung oder gar Auslöschung in Schutz zu nehmen. Eine unverkennbare persönliche Präferenz für das Operieren mit Stift und Zettel wird dabei zur allgemeinen Vorliebe »der Menschen« (S. 521) erklärt, die auch im »Digizän« erhalten bleibe, wobei die Annahme einer »anthropologischen Konstante« (S. 447) im Hintergrund steht: die Vorstellung nämlich, dass es ein überzeitliches Bedürfnis nach »schriftlicher Selbstfixierung« gebe und dass diese dem Charakter »unseres« Denkens gerade dort adäquat sei, wo sie unsystematisch, inkohärent und im buchstäblichen Sinne »verzettelt« verfährt. Letzten Endes ist der gegenwartsbezogene Einsatz des Buches also von kulturkritischer Art, was etwa auch an der vorgebrachten Warnung vor einer »Entleerung« der Kommunikation durch digitalen information overload, an den immer wieder eingeflochtenen Polemiken gegen den »asozialen« Charakter heutiger sozialer Medien oder an der allenfalls mit einem halben Augenzwinkern artikulierten Sehnsucht nach »den Zeiten des guten alten Zettelkastens« (S. 409) deutlich wird. Gerade aus diesem Zusammenhang erklärt sich ferner der am Ende des Buches ausgewiesene »Raum für Ihre Notizen«: ein Spaß, ja, aber einer mit ernster Motivation, der dezidiert für den Erhalt einer älteren Kulturtechnik wirbt und die Leser ganz buchstäblich in dieses Konservierungsprojekt einzubinden versucht. Als persönliches Anliegen mag dies so legitim wie verständlich sein. Doch für eine produktive und offensive Auseinandersetzung mit der technologischen Zäsur des frühen 21. Jahrhunderts reicht der darin ausgedrückte Abwehrgestus nicht aus.
Der Literaturwissenschaftler Tobias Wilke arbeitet am ZfL auf einer Heisenberg-Stelle an dem Projekt »Digitale Sprache. Linguistik, Kommunikationsforschung und Poetik im frühen Informationszeitalter«.
[1] Interessanterweise hat das digital bedingte Verschwinden solcher Leerseiten aus (gedruckten) Büchern gerade im Netz zu Initiativen ihrer elektronischen Dokumentierung und Konservierung geführt. Siehe hierzu die (bereits ältere) Webseite des »This Page Intentionally Left Blank«-Project.
[2] Haarkötters Insistieren auf dem »universellen« Charakter des Notizzettels zielt gegen die zunächst vor allem von Friedrich Kittler vorgenommene Kategorisierung des Computers als Universalmedium, die sich aus der Vereinigung der Medienfunktionen Speichern, Übertragen und Prozessieren sowie aus der numerisch basierten Zusammenführung von Ton-, Bild- und Schriftdaten begründet, vgl. Friedrich Kittler: Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986. Haarkötters Einwand, der Computer könne kein Universalmedium sein, da er »von der Stromversorgung abhängt« (S. 525), bewegt sich ersichtlich nicht auf der Höhe der Position, die infrage zu stellen er beabsichtigt.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Tobias Wilke: Verzetteltes Denken. Ein neues Buch zur Kulturtechnik des Notierens, in: ZfL BLOG, 10.3.2022, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/03/10/tobias-wilke-verzetteltes-denken-ein-neues-buch-zur-kulturtechnik-des-notierens/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20220310-01