Seit Kurzem kann man die Serie Das Boot, deren letzte Staffel bereits im vergangenen Herbst auf dem TV-Sender Sky ausgestrahlt wurde, auch auf Netflix sehen. Sie lehnt sich frei an Romane Lothar-Günther Buchheims an, allen voran den 1973 erschienenen gleichnamigen Bestseller und dessen Verfilmung von 1981.[1] Sowohl Buchheims Bücher als auch die aktuelle Serie thematisieren die Atlantikfront des U-Boot-Kriegs im Zweiten Weltkrieg sowie den Kontext der deutschen Besatzung Frankreichs, welche die Voraussetzung für die Errichtung deutscher U-Boot-Stützpunkte an der französischen Atlantikküste war. Wie Babylon Berlin oder Der Pass ist Das Boot eine Serienproduktion, die aus der deutschen Geschichte bzw. dem deutschen Identitätsverständnis nicht nur ein deutsches Serienerlebnis, sondern einen internationalen Streaming-Erfolg machen sollte. Umso erstaunlicher, dass die Serie bislang kaum von Historiker:innen diskutiert wurde, zumal sie den Nationalsozialismus thematisiert und Buchheims Romanvorlage bei Erscheinen eine Kontroverse in der deutschen Öffentlichkeit ausgelöst hatte. „Lukas Schemper: Retten, Töten oder Sterbenlassen? SCHIFFBRUCH UND SEENOTRETTUNG IN »DAS BOOT«“ weiterlesen
Sarah Kiani: DIE VIELEN GESICHTER DES HUGO MARCUS
Eine kürzlich erschienene Studie von Marc David Baer über den weitgehend vergessenen Schriftsteller Hugo Marcus (1880–1966) widmet sich dessen vielfältigen, scheinbar widersprüchlichen Identitäten: deutsch, erst jüdisch, dann muslimisch, homosexuell.[1] Es besteht kein Zweifel daran, dass sich in Hugo Marcus’ Biographie Welten kreuzten, die nicht unbedingt dazu bestimmt waren. Doch obwohl er in vielerlei Hinsicht eine erstaunliche Persönlichkeit war, passte er perfekt in seine Zeit: er war das ›Produkt‹ einer besonderen Epoche im späten 19., frühen 20. Jahrhundert in Deutschland und der Schweiz, geprägt durch das intellektuelle Klima der Weimarer Republik, in der die Frage der homosexuellen Emanzipation ebenso im Raum stand wie die Vision eines im Dialog mit Europa stehenden rationalen Islam.[2] „Sarah Kiani: DIE VIELEN GESICHTER DES HUGO MARCUS“ weiterlesen
Pola Groß: SCHREIBEN UND LEBEN – CLARICE LISPECTORS CRÔNICAS
Clarice Lispector (1920-1977) gilt als eine der wichtigsten Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Während ihr umfangreiches Werk im angelsächsischen, lateinamerikanischen und französischsprachigen Raum mittlerweile im Kontext von Feminismus, Posthumanismus und postkolonialer Literatur diskutiert wird, ist die brasilianische Autorin im deutschsprachigen Raum nur Wenigen bekannt.[1] Das mag vor allem an veralteten, vergriffenen, zuweilen schlicht mangelhaften Übersetzungen liegen. Doch auch die Literaturkritik hat dazu beigetragen: Eine vorrangig biographische Lektüre hat Lispectors Romane und Erzählungen einerseits viel zu lange in Richtung ›Frauenliteratur‹ gerückt, andererseits wurde sie vorschnell als zu komplex bzw. unverständlich abgetan oder als ›hermetisch‹ verklärt.[2] Lispectors literarische Ausdrucksformen und ihr spezifischer Zugriff auf Sprache und Welt lassen sich mit derartigen Etiketten nicht fassen. „Pola Groß: SCHREIBEN UND LEBEN – CLARICE LISPECTORS CRÔNICAS“ weiterlesen
Michael Mönninger: NACHBARSCHAFT WILMERSDORF. Eine kurze Geschichte in 14 Bildern
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Wer in Berlin das Wachstum und den Wandel der Quartiere außerhalb der historischen Kernstadt nachzeichnen will, der stößt für Zeiten, die länger als 150 Jahre zurückliegen, auf nichts als sandigen märkischen Ackerboden. Es ist nicht einfach, Dokumente zu finden, die Auskunft über die Nachbarschaften rund um das Gebäude ACHTUNDEINS in der Pariser Straße 1 geben, den neuen Standort der Verwaltung der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin (GWZ), des Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft (ZAS) und des ZfL (Abb. 1). „Michael Mönninger: NACHBARSCHAFT WILMERSDORF. Eine kurze Geschichte in 14 Bildern“ weiterlesen
Claude Haas: War da was? BEMERKUNGEN ZUM KAFKA-JAHR 2024
»Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer: das wiederholt sich immer wieder: schließlich kann man es vorausberechnen und es wird Teil der Ceremonie.«
Franz Kafka: Tagebücher
Die intellektuelle Ausbeute literarischer Jubiläen und Gedenkjahre fällt in der Regel mager aus. Viel Nippes wird zu solchen Anlässen auf den Markt geworfen. Runde Geburts- oder Todestage von Schriftsteller*innen zeugen so oft unfreiwillig von jenem vielfach beklagten Prestigeverlust der Literatur, gegen den ihre mediale Verwertung gerade anzurennen versucht. Große Namen sind für diese Schieflage besonders anfällig, nur selten erscheinen zu ihren Jahrestagen ambitionierte Neudeutungen ihrer Werke. Es dominiert die gediegene Traditionspflege und ein mitunter verschmitzter Respekt – der schlimmste von allen. Aus diesen Gründen haben Gedenkjahre aber stets eine seismographische Funktion, denn an ihnen lässt sich ablesen, wo ihre Jubilar*innen und deren – oder gar die – Literatur öffentlich gerade stehen. Das Kafka-Jahr 2024 macht hier keine Ausnahme.[1] „Claude Haas: War da was? BEMERKUNGEN ZUM KAFKA-JAHR 2024“ weiterlesen
Olga Romanova: WATCHING SOVIET CINEMA TODAY: “The Woman” (1932) by Yefim Dzigan and Boris Shreyber
For many years, I taught courses on Soviet culture and cinema to Belarusian students at the European College of Liberal Arts in Belarus (ECLAB) in Minsk. Unfortunately, due to political repressions, the college had to close down in 2020. Throughout the years of Belarusian independence, remnants from the Soviet Union have permeated the everyday lives of its citizens as well as the country’s colloquial and political rhetoric, often thoroughly detached from their original cultural contexts, discourses, and imaginaries. But what can we learn from watching Soviet movies today? „Olga Romanova: WATCHING SOVIET CINEMA TODAY: “The Woman” (1932) by Yefim Dzigan and Boris Shreyber“ weiterlesen
Dirk Naguschewski: Das Leben erinnern. DIE BERLINER BUCHHÄNDLERIN UND FEMME DE LETTRES FRANÇOISE FRENKEL
Im September 1945 erschien im Züricher Verlag J. H. Jeheber die auf Französisch verfasste Autobiographie von Françoise Frenkel (1889–1975), einer polnischen Jüdin, der es gelungen war, dem Nazi-Terror zu entkommen: Rien où poser sa tête (auf Deutsch: Nichts, um sein Haupt zu betten). Bis 1937 hatte Frenkel die einzige französische Buchhandlung in Berlin geführt. 1943 war sie mit etwas Glück illegal von Frankreich aus in die Schweiz gelangt, wo ein Neffe für ihren Unterhalt sorgte. All das lässt sich in ihrer schnörkellosen Lebensgeschichte nachlesen. Doch die Nachkriegsjahre waren nicht die Zeit, in der die Erinnerungen einer Überlebenden, in denen es nicht nur um Flucht und Vertreibung, sondern auch um die französische Kollaboration geht, große Resonanz erwarten durften. Scham und Schrecken wurden verdrängt und Rien où poser sa tête geriet schnell in Vergessenheit. In deutschen Bibliotheken findet sich heute nicht ein einziges Exemplar der Erstausgabe. Doch das Buch und seine Autorin wurden in den letzten Jahren wiederentdeckt und der jüngste Beleg dafür ist eine in Frankreich erschienene Biographie jener eigenwilligen Frau, die mit vollem Namen Frymeta Françoise Rolande Idesa Raichinstein-Frenkel hieß (Corine Defrance: Françoise Frenkel, portrait d’une inconnue, Paris: L’arbalète/Gallimard 2022). „Dirk Naguschewski: Das Leben erinnern. DIE BERLINER BUCHHÄNDLERIN UND FEMME DE LETTRES FRANÇOISE FRENKEL“ weiterlesen
Katja Schicht: ALEXANDER VON HUMBOLDT, EIN PIONIER DER KLIMAFORSCHUNG
Alexander von Humboldt war der Erste, der jahrelang systematisch Messwerte aus verschiedenen Regionen der Erde sammelte, bearbeitete, miteinander verglich und auswertete. Er konnte dadurch das Klima statistisch bestimmen und in seinem Lebenswerk Kosmos, dessen fünf Bände ab 1845 erschienen, eine umfassende Klimadefinition vorstellen. Bereits 1844 hatte er in seiner Abhandlung zu den Gebirgsketten in Zentralasien festgestellt, dass der Mensch das Klima »durch das Fällen der Wälder, durch die Veränderung der Vertheilung der Gewässer und durch die Entwicklung großer Dampf- und Gasmassen an den Mittelpunkten der Industrie«[1] beeinflusse. Ein Jahr später wies er im ersten Band des Kosmos erneut auf die »Vermengung [der Atmosphäre] mit mehr oder minder schädlichen gasförmigen Exhalationen«[2] hin. Mit seinen Beschreibungen des Klimas in den von ihm bereisten Regionen, seiner bereits 1817 erschienenen Abhandlung über die Isothermen und der von ihm konstruierten Jahresisothermenkarte gilt er als Begründer der modernen vergleichenden Klimatologie.[3] Dabei hat Humboldt nie eine meteorologische oder klimatologische Ausbildung genossen, sondern war auf dem Gebiet ein Autodidakt. So gibt es auch keine monografische Gesamtdarstellung zum Klima von ihm;[4] statt dessen publizierte er seine Erkenntnisse in Zeitschriften und Zeitungen oder einzelnen Buchkapiteln. „Katja Schicht: ALEXANDER VON HUMBOLDT, EIN PIONIER DER KLIMAFORSCHUNG“ weiterlesen
Matthias Schwartz: IN DER WELT DER WILDEN KERLE. Eine populäre Serie im Zeichen des russisch-ukrainischen Krieges
Zum Jahreswechsel 2023/2024 gelang einer russischen Fernsehserie, was während Russlands Krieg gegen die Ukraine eigentlich unvorstellbar scheint: Innerhalb weniger Tage entwickelte sich Ehrenwort eines Kerls. Blut auf dem Asphalt (Slowo pazana. Krow na asfalte, 2023) beiderseits der Schützengräben zur populärsten Serie des Jahres. Die Zuschauer- und Klickzahlen erreichten Rekordhöhen und der Titelsong Pyjala (dt. ›Glas‹) der tatarischen Band Aigel schaffte es an die Spitze diverser Hitparaden in beiden Ländern.[1] In der Russischen Föderation war die Serie zwar mit der Altersgrenze »18+« versehen und nur bei den privaten Streamingdiensten Wink und START zu sehen.[2] Doch schon während der Ausstrahlung der acht Folgen der ersten Staffel vom 9. November bis 21. Dezember 2023 verbreitete die Serie sich blitzschnell über Telegram und andere digitale Kanäle. Sätze wie »Kerle entschuldigen sich nicht« oder »Denk dran, du bist jetzt ein Kerl, du bist jetzt auf der Straße, und ringsherum sind Feinde« wurden zu geflügelten Worten. Pädagogen und Politikerinnen schlugen Alarm, als in der Presse Berichte auftauchten, die von durch die Serie inspirierten Schlägereien berichteten, und zwar sowohl in Russland als auch in der Ukraine.[3] „Matthias Schwartz: IN DER WELT DER WILDEN KERLE. Eine populäre Serie im Zeichen des russisch-ukrainischen Krieges“ weiterlesen
Eva Geulen: Mann der Moderne ohne Wenn und Aber: DETLEV SCHÖTTKER ZUM 70. GEBURTSTAG
Dass das ZfL ihn seit Kurzem als Senior Fellow führt, passt so gar nicht zu der ungestümen Neugierde und den kreativen Energien, die sich Detlev Schöttker nicht nur bewahrt hat, sondern die jüngst über der Beschäftigung mit einem neuen Gegenstand eine neue Qualität gewonnen haben. Instantan, vehement und bedingungslos hat er sich nach dem Umzug des ZfL nach Wilmersdorf in ein neues Forschungsprojekt weniger vertieft als gestürzt. Doch recht besehen ist es kein neuer Gegenstand, sondern es sind seine alten Bekannten, die ihm rund um den Fasanenplatz wiederbegegnen. Ein größeres Geschenk als diese Nachbarschaft hätte man ihm vielleicht nicht machen können: Die literarische und kulturelle Moderne entstand hier! Der Fasanenplatz ist ein ›Freilichtmuseum‹ der Moderne mit Hauptmann, Brecht, Benjamin und vielen anderen. Und Detlev Schöttker wäre nicht Detlev Schöttker, wenn er die Öffentlichkeit nicht sogleich über einige seiner Funde und Entdeckungen informiert hätte. In der FAZ sind bereits mehrere Artikel von ihm über die erstaunliche Bedeutung unseres Kiezes für die Moderne erschienen. „Eva Geulen: Mann der Moderne ohne Wenn und Aber: DETLEV SCHÖTTKER ZUM 70. GEBURTSTAG“ weiterlesen