Auf der Titelseite der Ausgabe vom 17. April 2003 illustrierte die New York Times den amerikanischen Blitzsieg im Irak mit diesem Bild amerikanischer Generäle an Saddam Husseins Prunktisch (Foto: David K. Dismukes). Da damals gerade die amerikanische Ausgabe meines Buches über die Kultur der Niederlage erschienen war, kam vom Redakteur der Op-Ed-Seite der Times die Einladung, einen Beitrag zum Thema des Sieges im Irak zu schreiben. Mir schien das Bild der zur Gruppenaufnahme an Saddam Husseins Prunktisch versammelten Generäle kommentierenswert; und zwar als Teil der ikonographischen Tradition der Unterzeichnung von Kapitulations- und Friedensverträgen in den letzten zwei Jahrhunderten. Zu dieser Tradition gehörten der Wiener Kongress, die Unterzeichnung der Kapitulation der amerikanischen Südstaaten, der Versailler Vertrag, und zuletzt die deutsche und die japanische Kapitulation 1945.
Die Szene der amerikanischen Generäle am Prunktisch Saddams unterschied sich in einem Punkt von den Zeremonien der Vergangenheit. Dort begegneten sich Verlierer und Sieger und bestätigten mit ihren Unterschriften das von ihren Streitkräften durch Sieg bzw. Niederlage geschaffene neue Kräfteverhältnis. Selbst die Zeremonien der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands und Japans im Mai und August 1945 wahrten die Form. Die Generäle der Verliererseite waren nicht nur zugelassen, sondern sie wurden benötigt, um das Kapitulationsdokument, den Kapitulationsvertrag mit ihrer Unterschrift zu legitimieren. Dass die Staaten, in deren Namen sie handelten, bald darauf von den Siegern aufgelöst und sie selber als Kriegsverbrecher gehängt wurden, änderte nichts an der völkerrechtlichen Vorschrift: die Unterwerfung des einen durch den anderen hatte sich in wechselseitiger Anerkennung zu vollziehen. Nicht ganz unähnlich den Bildern, die eine erfolgreiche Jagdpartie dokumentieren: im Vordergrund die Strecke des erlegten Wildes, dahinter posierend die Jäger.
Diese uralte Gemeinschaft von Sieger und Verlierer fehlte im Bild der amerikanischen Generäle. Daher der Titel meines Kommentars: »The Loneliest Victors«. Aber auch in meinem Kommentar fehlte etwas: der Schlußsatz. Er lautete:
»History may still have one irony in store. It may well be that instead of the ever more elusive idea of a cache of weapons of mass-destruction – on behalf of which the war was started – the real danger for America may turn out to be the army that presumably vanished into nowhere, but possibly into the underground.«
Dass die Errichtung des Islamischen Staates eine Folge der amerikanischen Irak-Invasion war, ist heute so allgemein akzeptiert wie die Tatsache, dass die IS-Führung weitgehend identisch ist mit der damals von den Amerikanern ignorierten und nicht einmal zur Kapitulation zugelassenen irakischen Armeeführung. Wäre die Geschichte anders verlaufen, wenn die Verlierer mit am Tisch gesessen hätten?
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Wolfgang Schivelbusch: Der wichtigste Satz, der mir je gestrichen wurde, in: ZfL BLOG, 24.1.2017, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2017/01/24/wolfgang-schivelbusch-der-wichtigste-satz-der-mir-jemals-gestrichen-wurde/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20170124-02