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Wer die öffentliche Debatte über populistische Bewegungen verfolgt, dem könnte leicht Karl Valentins Spruch in den Sinn kommen, es sei schon alles gesagt, nur noch nicht von allen. Seit Brexit und Trump laufen politische Gegenwartsanalysen fast automatisch darauf hinaus, sich am Rätsel des Rechtspopulismus abzuarbeiten. Immerhin ist dabei eine ansteigende Lernkurve zu verzeichnen. Die ersten Reaktionen auf rechtspopulistische Abstimmungserfolge waren von Schock und völligem Unverständnis gekennzeichnet. Kommentatoren mit akademischem Hintergrund (den Verfasser dieser Zeilen eingeschlossen) glaubten sich einer Spezies »verrückter Anderer« gegenüber, von denen sie bis dahin keine Notiz genommen und mit denen sie keinerlei soziale Berührung hatten. Die auch in den etablierten Medien vorherrschende Meinung war, dass hier Menschen nicht wussten, was sie taten, und bald aus ihrem Irrglauben aufwachen müssten.
Inzwischen wurden die Hintergründe für den Umbruch der politischen Landschaft breit ausgeleuchtet – wenngleich das Bild, das sich ergibt, noch keineswegs vollständig ist. Eine Reihe von bequemen Erklärungen haben sich als irrig erwiesen. Unter den Leave-Befürwortern, Trump-Wählern, Anhängern von Pegida und AfD, so stellt sich heraus, sind nicht nur und nicht einmal mehrheitlich solche, die blindlings der Demagogie populistischer Führer verfallen. Die meisten von ihnen stehen zu dem, was sie als bewusste Wahrnehmung ihrer demokratischen Rechte betrachten, und wollen ihre Parteinahme nicht als ein Versehen oder eine einmalige Affekthandlung verstanden wissen. Überdies handelt es sich keineswegs nur um Abgehängte oder von sozialem Abstieg bedrohte Kleinbürger, wie man angesichts von fremdenfeindlichen Parolen, Schmähreden und gewalttätigen Übergriffen in bürgerlich distinguierteren Kreisen gern glauben will. Vielmehr reichen neurechte, illiberal-neoautoritäre Tendenzen tief in den alten, wohlhabenden Mittelstand hinein. Mit Blick auf diesen Befund ist viel Kluges (und Kontroverses) über die Frage geschrieben worden, ob dem Erfolg des Rechtspopulismus nicht eher kulturelle als ökonomische Ursachen zugrundeliegen. Ist er vorrangig durch die Erschütterungen bedingt, die von einer verstärkt transnational agierenden Wirtschaft ausgehen – durch freien Welthandel, Lohnkonkurrenz mit Schwellenländern und Arbeitsmigranten, Deindustrialisierung, Abbau nationalstaatlicher Schutzmaßnahmen und verschärfte Ungleichheit? Oder manifestiert sich in ihm vor allem ein kulturelles Befremden, eine gerade in gutbürgerlichen Kreisen um sich greifende Sorge vor dem Verlust der vertrauten Lebensumgebung, der sie veranlasst, gegen die vermeintliche Dominanz kosmopolitisch-multikultureller Eliten aufzubegehren? – Kurz: Richten sich populistische Bewegungen mehr gegen einen ökonomischen oder gegen einen kulturellen Liberalismus? Und worin besteht der Zusammenhang zwischen beiden Spielarten des Liberalismus, weshalb lassen sie sich so erfolgreich zu einem einheitlichen Feindbild verschmelzen?
Aus solchen Fragen erwächst die Erkenntnis, dass, wer vom Populismus sprechen will, über den Liberalismus nicht schweigen darf (dieser im weitesten, nicht parteipolitisch gebundenen Sinn verstanden). Das ist vielleicht der wichtigste Lernfortschritt in den letzten zwei Jahren. Er macht die Analyse komplexer, weil diejenigen, die sie betreiben, sich nicht mehr als unbeteiligte Beobachter ausgeben können. Allein schon der Begriff Populismus markiert ja eine Perspektive von außen, denn heutige Populisten nennen sich gewöhnlich nicht so. Wer den Begriff verwendet, ist unter den Vorzeichen eines sich immer weiter polarisierenden politischen Feldes also in der Regel dem Gegenlager der ›Liberalen‹ zuzurechnen. Dessen Vertreter sind an einer beide Seiten umgreifenden Dynamik beteiligt. Insofern ist auch die Art, wie sie über den Populismus sprechen, Teil des politischen Spieles. Deshalb reicht es nicht, das ›Narrativ des Populismus‹ mit seinen charakteristischen Merkmalen – Berufung auf das ›Volk‹ als eine angeblich einheitliche ethnonationale Entität, dessen Inschutznahme gegen die ›Eliten‹ und, im Fall rechtspopulistischer Strömungen, gegen Fremde – zu isolieren und, was ein leichtes Spiel ist, als trügerisch zu entlarven. Das Bild muss ergänzt werden um eine Analyse auch des ›liberalen Narrativs‹: der perspektivischen Verzerrungen, die es enthält, seiner Leerstellen und Ambivalenzen, vor allem aber der Gründe für seine geschwundene Integrationskraft sowohl im nationalen als auch im Weltmaßstab.
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In der Konsequenz daraus hat eine breite Selbstproblematisierung des akademischen liberalen Mainstreams (im Vokabular der in den USA geführten Debatte) eingesetzt. Es ist klarer ins Bewusstsein gerückt, dass der Diskurs über den Populismus in den meinungsbildenden Kreisen Züge einer alten, oft hinter einem paternalistischen Gestus versteckten Abscheu der Gebildeten gegenüber den Massen und ihren Artikulationsweisen trägt. Populismuskritik erschöpft sich insoweit in »Stilkritik« (Philip Manow[1]), die sich zudem blind gegenüber der Tatsache verhält, dass auch und gerade die Privilegierten soziale Ausgrenzung praktizieren. »Während in den vom Abstieg bedrohten Soziallagen Ressentiments gegen Unterprivilegierte und Migranten offensiv vertreten werden«, bemerkt Cornelia Koppetsch dazu, »betreibt die bürgerliche Mitte ihre Selbstabschließung eleganter, indem sie sich in exklusive Stadtviertel zurückzieht. Dies erlaubt ihnen tolerant und liberal zu bleiben, denn die tatsächlichen gesellschaftlichen Problemlagen bleiben draußen. Die Teilhabe an Privilegien wird über den Preis pro Quadratmeter Wohnraum gesteuert.«[2]
Was bietet das liberale Narrativ, um in der aktuellen Situation die »tatsächlichen gesellschaftlichen Problemlagen« zu adressieren? Historisch ist der Liberalismus ein Kind der Aufklärung und des aus ihr hervorgegangenen Bürgertums; er sah eine Sprecherposition vor, von der aus die durch Bildung Privilegierten als Sachwalter des öffentlichen Interesses fungierten. Den noch unmündigen Teilen des Volkes wollte er den Weg zu höherer Einsicht weisen, um sie zu würdiger Teilnahme am öffentlichen Leben zu befähigen. Das Element von Distinktion, das in dieser Art von erzieherischer Vormundschaft der Wenigen gegenüber den Vielen angelegt war, wurde so durch den Vorschein auf eine zu erwerbende Zugehörigkeit abgemildert. Auf dieser temporalen Struktur beruht der für die Weltsicht des Liberalismus charakteristische ›Zug nach oben‹, wie er in den Leitideen individueller Entwicklung und gesellschaftlichen Fortschritts zum Ausdruck kam.
Wo jedoch der Zugang zu Bildungs- und Aufstiegschancen von den bereits Privilegierten monopolisiert wird, wo Wohlstands-Chauvinismus, Abstiegsängste und eine sich auf allen Ebenen verstärkende Segregation das Bild bestimmen und wo sich überhaupt der kollektive Zukunftsprospekt schließt, verlieren die Versprechungen des Liberalismus ihre Glaubwürdigkeit. In solchen Phasen wird sein Credo, so universalistisch es sich geben mag, leicht als die Besitzstandsideologie denunzierbar, die es immer auch war. Die gesamte linksliberale Agenda der zurückliegenden Jahrzehnte scheint dadurch in Misskredit zu geraten. Schon zu Beginn des neuen Jahrtausends hat die Philosophin Nancy Fraser davor gewarnt, die »Grammatik« des politischen »claims-making« von der Verteilung hin zur Anerkennung, das heißt vom Ökonomischen zum Symbolischen hin zu verschieben.[3] In jüngster Zeit setzen sich vor allem Programme der identity politics und des diversity managements dem Vorwurf aus, die entscheidende Dimension sozialer Differenzbildung, nämlich materielle Ungleichheit, zugunsten einer nur formellen Teilhabe aller möglichen Minderheiten aus dem Blickfeld zu drängen.
Dass eine weltoffene, globalisierungsfreundlich-kosmopolitische, sich in ihrer Toleranz gefallende Sicht der Dinge in häufig uneingestandener Weise auf sozialer Privilegiertheit beruht, ist nicht die einzige Schwachstelle des liberalen Narrativs, in die polarisierende Gegenerzählungen eindringen können. Eine weitere besteht darin, dass es durch neoliberale Entgrenzung angreifbar geworden ist, und zwar ironischerweise mit seinen eigenen Waffen. Der Liberalismus klassischer Prägung gedieh in einem nationalstaatlichen Rahmen, durch den das freie Spiel der gesellschaftlichen Kräfte eingehegt war. Wie auch immer sich das Verhältnis zwischen Markt und Staat in der Praxis gestaltete – idealiter ist das liberale Gesellschaftsmodell ohne seine Rückbindung an überparteilichen Institutionen mit schiedsrichterlicher und Sanktionsgewalt nicht zu denken. Zu diesen zählen Justiz, freie Presse und Wissenschaft als objektivierende, normstiftende Instanzen, die – wiederum dem Ideal nach – nicht dem Hin und Her widerstreitender Interessen anheimgestellt sind. Der Logik der Partikularinteressen steht so eine Logik der Norm, ein Appell an das öffentliche Interesse und die Allgemeinheit gegenüber.
Als eine praktisch wirksame Wirtschafts- und Gesellschaftsphilosophie arbeitet der Neoliberalismus, sehr verkürzt dargestellt, an einer Aushöhlung dieser Logik der Norm. Er delegitimiert die betreffenden, durch Globalisierung ohnehin unter Druck geratenen Staatsfunktionen und befördert auch auf anderen Feldern den Siegeszug marktliberaler Regulative. Damit unterminiert er aber den Anspruch auf Autorität, der in die Position des klassischen Liberalismus seit den Zeiten der Aufklärung einbeschrieben war. Im Bereich der Wissenschaft äußert sich dies in der Rede vom »Marktplatz der Ideen« – einem Paradigma, dem eine wichtige Rolle in der Post-Truth-Debatte zukommt.[4] Hier macht sich im Übrigen eine fatale Allianz zwischen neoliberalem und postmodernem Denken bemerkbar: Wenn jede Person, jede Gruppe ein Anrecht auf Anerkennung ihrer je eigenen Sichtweise hat, wenn folglich »die Funktion öffentlicher Institutionen – einschließlich Zeitungen und Universitäten – einfach nur darin besteht, möglichst viele private Meinungen gegeneinander in Wettbewerb (›freier Austausch‹) treten zu lassen«[5], von welchem Standpunkt kann man populistische Lügen dann überhaupt noch als solche kenntlich machen und, ja, verurteilen?
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Wie in der Machtpolitik setzen sich erfolgreiche Narrative dort fest, wo bis dahin vorherrschende semantische Großformationen Schwächen zeigen. Der Geländegewinn populistischer Bewegungen rückt deshalb vor allem die aktuellen Verlegenheiten des politischen Liberalismus ins Licht. Sie hängen in zweifacher Hinsicht mit der sich vertiefenden sozialen Spaltung in spätmodernen Gesellschaften zusammen. Sozioökonomisch, weil der Liberalismus den Nichtprivilegierten offenbar keine glaubhafte Perspektive auf (künftige) Zugehörigkeit mehr verschafft. Argumentativ, weil der liberale Diskurs nicht ohne Berufung auf ein besseres Wissen – faktenbasierte Politik, neutrale Berichterstattung, auf Objektivität abzielende Wissenschaft –, ohne Bildung entsprechender professioneller Eliten und damit ohne ein Element von Hierarchie auskommt, während er sich zugleich damit auseinanderzusetzen hat, dieses Wissen als das andere Wissen einer elitären Kaste desavouiert zu finden. Er tappt so in die Falle des Pluralismus, an deren Verfertigung er selbst beteiligt war. Das aktuelle Stichwort heißt: tribal epistemology.[6] Solange er aus dieser Falle nicht herauskommt, wird das, was er vom Populismus und von sich selbst zu erzählen weiß, auf der anderen Seite des Grabens keine Resonanz finden.
[1] Philip Manow, ›Dann wählen wir uns ein anderes Volk‹… Populisten vs. Elite, Manuskript, Bremen/Konstanz 2017, S. 3.
[2] Cornelia Koppetsch, Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte, Frankfurt / New York 2013, S. 9.
[3] Nancy Fraser, »Rethinking Recognition«, in: New Left Review 3 (2000), S. 107–120. Den Hinweis verdanke ich Albert Dikovich.
[4] Erik Baker und Naomi Oreskes, »It’s No Game: Post-Truth and the Obligations of Science Studies«, in: Social Epistemology Review and Reply Collective 6, no. 8 (2017), S. 1–10.
[5] Ebd., S. 1.
[6] David Roberts, »Donald Trump and the rise of tribal epistemology. Journalism cannot be neutral toward a threat to the conditions that make it possible«, in: Vox, 19. Mai 2017.
Albrecht Koschorke ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Der Text geht zurück auf seinen Vortrag bei der Jahrestagung des ZfL, »Diversität darstellen« (11./12.1.2018), und ist erschienen in dem vom Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlage von Integration« herausgegebenen Heft »Themen Thesen Texte« 07/18, S. 9-11. Die ›feindliche Übernahme‹ von Positionen der Postmoderne durch die neue
Rechte und das Dilemma, in das eine sich als linksemanzipatorisch
verstehende Wahrheitskritik dadurch gerät, wird Gegenstand einer von
Albrecht Koschorke mitveranstalteten Tagung am Berliner Haus der Kulturen
der Welt sein: »Concerning Matters and Truths. Postmodernism’s Shift
and the Left-Right-Divide«, 4. bis 6. Oktober 2018.
Auf dem ZfL BLOG dokumentieren wir in loser Folge die Beiträge der Jahrestagung. Bislang erschienen sind die »Einleitung« zur Tagung von Mona Körte, Georg Toepfer und Stefan Willer, »Ordnung des Diversen. Typeneinteilungen um 1900« von Jutta Müller-Tamm und David Kaldeweys »›In the Name of Diversity.‹ Zur Neuformierung studentischen Protests an amerikanischen Universitäten«.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Albrecht Koschorke: Auf der anderen Seite des Grabens, in: ZfL BLOG, 30.8.2018, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2018/08/30/albrecht-koschorke-auf-der-anderen-seite-des-grabens/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20180830-01