Bevor Wolodymyr Selenskyj vor einem Jahr Präsident der Ukraine wurde, war er dies schon einmal gewesen, und zwar in seiner Rolle in der erfolgreichen Fernsehserie Sluha narodu (Diener des Volkes). Hier zeichnet sich nicht nur ein neues Verhältnis von digitaler Wirklichkeit und politischer Öffentlichkeit ab, sondern auch eine neue Form des Populismus, die nicht auf nationalistische Diskurse und reaktionäre Denkmuster baut, sondern antistaatliche und neoliberale Affekte miteinander verbindet.
1.
Am 21. April 2019 wurde der Komiker und Schauspieler Wolodymyr Selenskyj mit einer überwältigenden Mehrheit von 73 Prozent der Stimmen in einer Stichwahl gegen den bisherigen Amtsinhaber Petro Poroschenko zum Präsidenten der Ukraine gewählt. Bei den anschließenden Parlamentswahlen im Juli gewann seine nach der bekannten Fernsehserie benannte Partei »Sluha narodu« die absolute Mehrheit. Dieser doppelte Wahlsieg war in mehrfacher Hinsicht eine Sensation. Zwar hat es in der Geschichte immer wieder Schauspieler und auch Komiker gegeben, die eine politische Karriere gemacht haben. Und auch, dass künstlerische Werke mit ihren Weltentwürfen die gesellschaftliche Wirklichkeit vorweggenommen, gar geprägt haben, soll vorgekommen sein. Gerade Online- und Fernsehserien der Gegenwart ziehen ihre Popularität daraus, dass sie in einer immer unübersichtlicher werdenden globalisierten Welt tiefe Einblicke in die angeblich wahren Zusammenhänge von deren Verfasstheit und Funktionsweisen versprechen, heißen sie nun Homeland, Borgen oder Chernobyl. Dass aber der Name einer Fernsehserie einer Partei zum Durchbruch verhilft und deren Protagonist allein wegen seiner Rolle darin vom Publikum zum Präsidenten gewählt wird, war neu.
Auch politisch galt Selenskyjs Sieg als Sensation, trat er doch gegen Petro Poroschenko an, jenen Präsidenten, mit dem sich die Hoffnung auf eine endgültige Loslösung des Landes vom sowjetischen Erbe und vom übermächtigen Nachbarn Russland und auf die Hinwendung zu den ›europäischen Werten‹ von Freiheit und Demokratie verband. Poroschenko war vier Jahre zuvor in der später so genannten Revolution der Würde an die Macht gekommen, nachdem der Amtsinhaber Wiktor Janukowytsch und dessen Regierung gewaltsam aus dem Amt gejagt worden waren. Unmittelbarer Anlass war im November 2013 die unerwartete Weigerung Janukowytschs gewesen, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, doch schon zuvor war er aufgrund der um sich greifenden Korruption äußerst unbeliebt. So weiteten sich die Proteste im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt Kiew im Laufe der eisigen Winterwochen immer weiter aus, bis es Mitte Februar 2014 zur Eskalation mit über hundert Toten kam, ehe Janukowytsch die Flucht ergriff. Moskau, das seine geopolitischen Interessen gefährdet sah, intervenierte daraufhin zunächst ohne Hoheitszeichen und Blutvergießen in der Krim, ehe es dann mit inoffiziellen Söldnern, Freiwilligen und schwerem Kriegsgerät die im Osten des Landes von Separatisten proklamierten Volksrepubliken Luhansk und Donezk unterstützte.
In der Folge wurde die mit großen Hoffnungen und viel Euphorie begleitete Reformagenda, die eine rasche Annäherung an die EU und Durchsetzung rechtstaatlicher Standards versprach, mehr und mehr von dem militärischen Konflikt im Donbass überschattet, der schon mehr als 13.000 Tote gefordert hat. Zwar wurde von den Regierungen unter Poroschenko auch angesichts des massiven Drucks durch die Geldgeber EU und IWF eine Reihe an Reformen auf den Weg gebracht, doch am Einfluss der mächtigen Oligarchen änderte sich wenig. Infolge der forcierten Dezentralisierung der politischen Zuständigkeiten konnten sie ihre regionale Macht teils sogar noch ausbauen. Krieg und Korruption führten dazu, dass die Liberalisierung des Markts eine weitere Verarmung großer Gesellschaftsteile und eine millionenfache Arbeitsmigration sowohl nach Russland als auch in die EU mit sich brachte. Im Kampf gegen die Klientelwirtschaft stellten sich trotz der Schaffung einer Antikorruptionsbehörde keine durchschlagenden Erfolge ein.
Umso wichtiger wurde in den Jahren 2014 bis 2018 die nationale Symbolpolitik, in der alles Russische oder Sowjetische als totalitäres Übel geächtet wurde. Die umstrittenen Gesetze zur Dekommunisierung zielten auf eine Verbannung der sowjetischen Hinterlassenschaften aus dem öffentlichen Raum, während gleichzeitig Filme und Fernsehprogramme aus Russland mit Sendeverboten belegt wurden. Der Flugverkehr ins und aus dem Nachbarland wurde eingestellt und die Orthodoxe Kirche der Ukraine vom Moskauer Patriarchat losgelöst.[1] Eine weitgehende sprachliche Ukrainisierung des Staatsapparats und des Bildungssystems gehörte ebenso zu dieser Politik wie die Heroisierung der Kämpfer der »Antiterroristischen Operation« im Osten des Landes. So wurde aus dem emanzipatorischen Patriotismus des Euromaidan, wie Kateryna Mishchenko schreibt, eine reaktionäre »Gegenrevolution«, in der das nationalistische Ressentiment immer größere Ausmaße annahm.[2]
Seinen Höhepunkt erlebte dieser Nationalismus im Präsidentschaftswahlkampf Anfang 2019, als Poroschenko sich mit der Parole »Armee, Sprache, Glaube« (»Armija, Mowa, Wira«) als einziger Retter und Verteidiger der Ukraine gegen den russischen Feind inszenierte. Zugespitzt formuliert: Im Fall der Ukraine setzte sich aus all den identitären Kategorien des Nationalismus, die Populisten im Westen gemeinhin gegen Globalisierung, politisches Establishment und internationales Kapital in Anschlag bringen, genau jene Rhetorik zusammen, mit der die Regierung Poroschenko ihre Westorientierung und Anbindung an die Europäische Union begründete und Versäumnisse beim Aufbau des Rechtsstaats zu überspielen versuchte.[3]
Es ist diese nationalistische Rhetorik, gegen die der aus dem russischsprachigen Süden des Landes kommende Wolodymyr Selenskyj, der erst in der Neujahrsnacht 2019 offiziell seine Kandidatur bekannt gegeben hatte, sich sensationell durchsetzen konnte: ohne politisches Programm, ohne demagogische Reden gegen den russischen Aggressor, aber auch fast gänzlich ohne öffentliche Wahlkampfauftritte, Pressekonferenzen oder Interviews. Stattdessen bot er einen smarten Internetauftritt in modischem Design, der auf jegliche nationalistische, religiöse, militaristische oder sonst wie ausgrenzende Rhetorik verzichtete und das diffuse Versprechen enthielt, im Dienste des Volkes alles irgendwie anders und besser zu machen. Seine einzige Qualifikation für das Amt des Präsidenten bestand darin, ein erfolgreicher Schauspieler in einer beliebten Fernsehserie zu sein.
2.
Wolodymyr Selenskyjs Karriere begann mit der von ihm mitgegründeten Kabarettshow 95-j Kwartal in den turbulenten 1990er Jahren, als die geltende gesellschaftspolitische Ordnung zusammenbrach. Die ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas brachten radikale neoliberale Reformen auf den Weg, aber die Etablierung stabiler Demokratien und einer sozial verträglichen Marktwirtschaft gelang bestenfalls in Ansätzen. Für die meisten Menschen bedeutete der Umbruch einen teils massiven ökonomischen und sozialen Abstieg. In dieser Situation erlebten die sogenannten Klubs der Lustigen und Schlagfertigen (Kluby weselych i nachodtschiwych, KWN) – ursprünglich studentische Kabarettwettbewerbe, die in der Sowjetunion seit den 1960er Jahren im Fernsehen ausgestrahlt wurden und eine wichtige Ventilfunktion innerhalb der spätsozialistischen Gesellschaft hatten – eine erneute Blütezeit. Im ersten postsowjetischen Jahrzehnt stellten sie für viele ein vertrautes Medium dar, das ihnen half, über all die Frustrationen angesichts der neuen Zeit hinwegzukommen.
Das Kabarett von 95-j Kwartal hatte 1998 seine internationale Premiere auf dem KWN-Festival im südrussischen Sotschi. Danach wurde die Show in der Ukraine und im ganzen russischsprachigen Raum schnell populär. Die von demselben Team betriebene Produktionsfirma Kwartal 95 etablierte sich erfolgreich mit der Produktion von Konzerten, Fernsehshows, Serien und Filmen für verschiedene staatliche und private Sender in Russland und der Ukraine. Selenskyj hatte in vielen dieser Produktionen die Hauptrolle, oft war er zudem als Drehbuchautor und Produzent tätig. Seine ungemeine Beliebtheit verdankt er aber seiner Hauptrolle in der inzwischen auch international bekannten Fernsehserie Diener des Volkes. Die erste Staffel wurde erstmals im November 2015, zwei Jahre nach Beginn des Euromaidans, ausgestrahlt, und pünktlich zur Parlamentswahl 2019 lief die dritte und bislang letzte Staffel.[4]
Kennzeichnend für die Politserie sind die vielen Sitcom-, Comedy- und Slapstick-Elemente. Im Mittelpunkt steht der von Selenskyj gespielte Lehrer Wassil Holoborodko. Er unterrichtet Geschichte in einer Oberklasse, wird allerdings ständig von der Schuldirektorin schikaniert, die Mathematik wichtiger findet als die Beschäftigung mit der Vergangenheit. Als eines Tages ausgerechnet seine Klasse erneut zu einer unsinnigen Übung abgezogen wird, rastet er aus und überzieht in einer eineinhalb Minuten langen Schimpftirade seine Vorgesetzten, sämtliche Politiker und die korrupten Eliten mit allen nur möglichen Beleidigungen, von denen »Päderast« die mit Abstand häufigste ist.[5]
Dieser Wutausbruch des Lehrers wurde von einem Schüler heimlich gefilmt und als Video ins Internet gestellt. Umgehend haben nicht nur sämtliche Schüler und deren Eltern das Video gesehen und gelikt, sondern auch alle Lehrerinnen und Lehrer der Schule. Sie alle teilen seine Kritik. Innerhalb kurzer Zeit hat das Video Millionen von Klicks, woraufhin die Schüler*innen ein Crowdfunding für Holoborodko starten und ihn dazu überreden, für die Präsidentschaft zu kandieren. Gesagt, getan, und dank eines Helfershelfers der Oligarchen (und zukünftigen Ministerpräsidenten), der seinen Wahlkampf perfekt inszeniert, wird Holoborodko tatsächlich zum Präsidenten gewählt.
Was in den kommenden Folgen und Staffeln gezeigt wird, ist ein durch und durch korruptes, von einflussreichen Oligarchen beherrschtes politisches System, in dem alle käuflich sind und nur Geld, Einfluss und Statussymbole zählen. Das eigene Parlament wird als gewissenloser, geldgieriger und streitlustiger Haufen dargestellt, Fernsehjournalisten und Reporterinnen manipulieren die Wirklichkeit und Politiker erfinden notfalls sogar einen Meteoriteneinschlag, um das Volk von Aufruhr abzuhalten oder aber zu einem neuen Maidan anzustacheln. Jeder Straßenprotest, jede Unmutsäußerung der Bevölkerung ist immer schon eine von Oligarchen mit Hilfe der Presse inszenierte Aktion. Selbst die ebenfalls klischeehaft überzeichneten politischen Abgesandten anderer Staaten oder internationaler Institutionen handeln nur aus Eigennutz. Da Holoborodko in dieser politischen Welt der Manipulation und Bestechlichkeit niemandem vertraut, rekrutiert er nach und nach alte Freunde und Bekannte: Seine Ex-Frau wird Finanzministerin, ein vor allem durch Drogenhandel reich gewordener Schulkumpel und Frauenheld wird Außenminister und ein armenischer Studienkollege mit schlechtem Russisch bekommt die Leitung des Geheimdiensts zugesprochen.
Anfangs stolpern der naive Geschichtslehrer und sein unerfahrenes Team von einer Falle in die nächste, doch immer öfter gelingt es ihnen, Habgier und Verlogenheit bloßzustellen und den dunklen Hintermännern die Macht zu entreißen. Alle Klischees vom Parlament und Staat als Marionetten der Oligarchen, wie man sie aus rechten Verschwörungstheorien oder sowjetischen Kapitalismusdarstellungen kennt, werden hier bedient. Doch gleichzeitig werden Stereotypen, tradierte Bilder und Normen unterlaufen, gebrochen und in ihr Gegenteil verkehrt.
Beispielhaft lässt sich das am Vorspann der Serie sehen, der Holoborodkos morgendliche Fahrt zum Präsidialamt mit dem Fahrrad zeigt. Dazu werden Postkartenansichten von Kiew bei strahlendem Sonnenschein gezeigt: eine gut ausgebaute Fahrradinfrastruktur, Alt- und Industriebauten, das Dnjepr-Ufer, symbolträchtige Denkmäler der postsowjetischen Ukraine, viele neue Bürotürme, freundlich winkende Kiewerinnen und Kiewer. Am Amtssitz angekommen, löst der Präsident in einer linkischen, stark an Rowan Atkinsons Sonderling Mr. Bean erinnernden Geste die Fahrradklammer von seiner Hose. Eine idyllische und gleichzeitig ziemlich irreale Traumwelt, wenn man Kiew kennt. Dazu erklingt der eingängige Titelsong von Dmytro Schurow, unterlegt mit Gitarrenakkorden, Schlaginstrument und Fahrradklingel:
Я люблю свою страну.
Ich liebe mein Land.
Люблю свою жену.
Liebe meine Frau.
Люблю свою собаку.
Liebe meinen Hund.
Я всего на свете член.
Ich bin Mitglied von allem Möglichen auf der Welt.
Почти что супермен.
Fast ein Superman.
Но редко лезу в драку.
Ich fange selten einen Streit an.
Знает весь двор, мой приговор:
Der ganze Hof kennt mein Urteil:
»Слуга народа«.
»Diener des Volkes«.
У меня почти всё есть.
Ich habe fast alles.
Достоинство и честь и даже крики »браво«.
Würde und Ehre und sogar »Bravo«-Rufe.
Персональный самолёт, мне выделил народ.
Ein Privatflugzeug hat mir das Volk zugeteilt.
А что? Имею право.
Was denn? Ich habe ein Recht darauf.
На животу (вот тут) набью тату:
Auf den Bauch (genau hier) lasse ich mir ein Tattoo machen:
»Слуга народа«.
»Diener des Volkes«.
Bereits der Parallelismus in den ersten drei Zeilen offenbart nicht nur eine sehr maskuline Sicht auf die Welt (im Russischen sind alle drei Objekte feminin), sondern auch die ironische Fallhöhe, wenn das Land über die Ehefrau auf den Hund kommt. Das »Mitglied« bzw. »Glied« von allem Möglichen in der vierten Zeile ist im Russischen mehrdeutig. Als Phallus wie auch als Teil eines Ganzen im Reim mit Superman, der die Schlägerei meidet, wirkt die Charakterisierung fast grotesk, und das »Urteil« des ganzen Hinterhofs bleibt unbestimmt: Ist »Diener des Volkes« Spott gegen einen Angsthasen, der die Auseinandersetzung fürchtet, oder eher eine Anerkennung seiner unstrittigen Autorität, die keine physische Gewalt nötig hat?
Auch die letzte Strophe schafft keine Klarheit. Würde, Ehre und Bravo-Rufe klingen noch unverfänglich, doch ein vom Volk zugeteiltes Privatflugzeug ist entweder ein Euphemismus für illegale Bereicherung auf Kosten der Steuerzahler*innen oder aber zeugt von einem dubiosen Rechtsverständnis, wobei die Rückfrage »Was denn?« diese Zweifel auch markiert. Das geplante Tattoo setzt dann diese doppelsinnigen, leicht neurotischen Anspielungen fort: Zwar sind Tätowierungen heutzutage auch ein erotisch-attraktives Distinktionsmerkmal des eigenen Körpers, doch sind sie zuvorderst Brandmarken, die nicht einfach abgelegt werden können, und verweisen im (post-)sowjetischen Kontext zugleich auf das Verbrechermilieu, wo »Diebe im Gesetz« ihre Zugehörigkeiten und Hierarchien durch Tattoos kennzeichnen: Der »Diener des Volkes« wird damit auch mit Kriminellen aus Berufung assoziiert. Der Karriere des sympathischen Sauber- und Supermanns Holoborodko ist so von Anfang an eine ambivalente Bedeutung eingeschrieben. Er mag auf dem Fahrrad so dynamisch und aufrichtig wirken wie er will, verborgen unter seinem dunkelblauen Anzug trägt er das Mal einer anderen, möglicherweise verwerflichen, verworfenen Welt.
3.
Wenn also der Präsident der Diener ist, wer ist dann das Volk? Gibt es im Song des Vorspanns noch uneindeutige Hinweise, wer damit gemeint sein könnte, so taucht das Volk in der Serie eigentlich nur als manipulierte Masse der Protestierenden auf. Sei es beim Euromaidan oder vorm Regierungssitz, jede größere Menschenansammlung ist bestellt und bezahlt. Handelt es sich um einzelne Straßenbauarbeiterinnen, Taxifahrer oder Verkäuferinnen, dann schimpfen sie ähnlich wie noch der Lehrer Holoborodko auf die da oben, solange sie keine Chance haben, selber von der Korruption zu profitieren.
Pars pro toto für dieses Bild des Volkes steht in der Serie Holoborodkos Kleinfamilie, die vorm Fernseher sitzt, auf die Oberen schimpft, aber im Alltag kein Stück besser ist als diese: in Gestalt seiner fleißigen und fürsorglichen Mutter, die ständig Essen zubereitet und teure Kleider liebt, seines gewitzten und korrupten Vaters, der gerne Bier trinkt und kitschige Wohnungseinrichtungsgegenstände mag, seiner zanksüchtigen und sich ewig benachteiligt fühlenden Schwester, die tollpatschig, intrigant und geldgierig ist, sowie deren Tochter, die jedem Trend hinterherrennt und statt zu studieren lieber im Bordell schnelles Geld verdient. Seine ehrgeizige Ex-Frau fällt auf der Suche nach dem perfekten Gatten auf lauter Angeber und Heiratsschwindler rein, und der gemeinsame Sohn wird in einem fort verwöhnt, ruhen auf ihm doch alle Zukunftshoffnungen.
Dabei wird die Präsidentenfamilie als durchaus sympathisch und fürsorglich gezeichnet, obwohl sie nach Holoborodkos Wahl nichts Besseres zu tun hat, als so schnell wie möglich maximalen Profit aus ihrem neuen Status zu ziehen. Erst nach und nach gelingt es dem Präsidenten, seiner Familie diese verwerflichen Züge der Korruption auszutreiben, wobei hier die Verfehlungen der Angehörigen, im Unterschied zu denen der großen Fische aus Politik und Wirtschaft, als verständliche, naive Grenzüberschreitungen der Zukurzgekommenen dargestellt werden. Zugespitzt formuliert: Was im Bereich der großen Politik als grundsätzlich ›unnatürliche‹ Männerwelt der Macht- und Geldgier – eben der »Päderasten« – charakterisiert wird, erscheint im ›natürlichen‹ Umfeld der erweiterten Kleinfamilie als verführerische Gefahr für ein heterosexuelles Privatidyll. Der Diener des Volkes ist derjenige, der den korrumpierten Reichtum der Herrschenden bekämpft, um die ›normalen‹ Menschen jenseits von Staat, Kirche und Militär wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Die perfekte Herrschaftsform ist die der familiären Fürsorge anstelle bürokratischer, korrupter, staatlicher Strukturen.
Nun verweist historisch gesehen der Begriff des Dieners ja auf ein aristokratisches Herrschaftsverhältnis, das seit der Französischen Revolution nicht mehr nur ständisch und religiös, sondern auch ökonomisch oder national begründet wird. Nicht mehr nur Gott, Kaiser und Adel wird gedient, sondern auch Vaterland und Arbeitgebern. Politisch wurde bereits in der Aufklärung das Volk gelegentlich als der neue Herr bezeichnet, dem die von ihm gewählten Repräsentanten zu dienen hätten, etwa bei Edmund Burke. Tony Blair hat dann mit Verweis auf Burke die Parole »The Servant of the People« für New Labour berühmt gemacht, als er nach seinem ersten Wahlsieg 1997 in Großbritannien die geplanten Reformen zur Modernisierung des ineffektiven Sozialstaates als Dienst am ganzen Volk anpries. Die Fernsehserie nimmt dieses wirtschaftsliberale Versprechen gewissermaßen auf, münzt es aber auf den oligarchischen Staat der Ukraine um.
Dieser antistaatliche Affekt wird noch dadurch verstärkt, dass Selenskyj einen Geschichtslehrer spielt, der angefangen bei Plutarch und Machiavelli bis hin zu Lincoln und Al Capone mit Staats- und Mafiatheorien bestens vertraut ist und in seinen nächtlichen Albträumen regelmäßig von Gewaltherrschaften heimgesucht wird. Dazu gehört auch das russische Staatswesen von seinen Anfängen unter Iwan dem Schrecklichen bis zur Gegenwart. Ob Autokratie oder Demokratie, Tyrannei oder Oligarchie, immer erweisen sich die historischen Alternativen im Traum als blutige Irrwege.
Wir haben hier also einen antistaatlichen Populismus, der an den Repräsentanten des politischen Establishments kein gutes Haar lässt, dem die Kleinfamilie als höchste Form der Gemeinschaft gilt, der sich aber zugleich dezidiert modern, individualistisch und weltoffen gibt, ohne jeglichen identitären Nationalismus oder religiösen Fundamentalismus.[6] Im Namen der Geschichte wird ein allein auf individueller Verantwortung und persönlicher Verbindlichkeit beruhender Gerechtigkeitsbegriff propagiert, wobei soziale Probleme, Fragen der Ökonomie, der Rechtsstaatlichkeit oder gar des Krieges nicht vorkommen.[7] Und wenn doch, werden sie lediglich als Effekte von korrupten Intrigen und oligarchischen Schattenregimen dargestellt. Alle Komplexität einer globalisierten Welt wird auf die simple Logik einer von einzelnen Drahtziehern und Glücksrittern beherrschten Wirklichkeit reduziert.
4.
Im Frühjahr 2019 hatte dieses von Wolodymyr Selenskyj personifizierte Weltbild in einem von Krieg, Korruption und nationalistischen Identitätskämpfen verzehrten Land eine enorme Anziehungskraft, obwohl man wusste, dass der ausstrahlende Fernsehsender einem mächtigen Oligarchen im Exil gehörte, Schauspieler keine per se besseren Menschen und Fernsehserien kein Parteiprogramm sind.[8] So brachte der politische Neuanfang zunächst viele unbekannte, politisch unerfahrene Männer und Frauen ins Parlament und an die Macht, meist selbständige Unternehmer, Rechtsanwältinnen, aufstrebende Mittelständler. Die als wichtigstes Ziel angekündigten Friedensverhandlungen mit den abtrünnigen ›Volksrepubliken‹ und ihrem Unterstützer Russland gestalteten sich schwierig, zu stark war der Widerstand in den eigenen Reihen, die in jedem Zugeständnis einen Landesverrat witterten. Zwar erreichte man kleine Erleichterungen für die Bevölkerung in dem Konfliktgebiet und mehrere Gefangenenaustausche, doch größere Kompromisslösungen scheinen auch ein Jahr nach der Amtsübernahme weder im Parlament noch auf der Straße durchsetzbar zu sein. Ungeachtet des Regierungswechsels dominiert der ukrainische Nationalismus weiterhin den öffentlichen Diskurs. Sogar öffentlich Russisch zu sprechen, traut sich der Präsident seit seiner Wahl nur noch in Ausnahmefällen.
Auch an der engen und undurchsichtigen Verflechtung von Staat, Wirtschaft, Politik und Militär hat sich seit der Amtsübernahme kaum etwas verändert, nur der Stil hat sich gewandelt. Statt im Namen der heiligen Nation geschehen Innovationen nun im Dienst zukünftiger Generationen, statt identitärer Symbolpolitik strebt man pragmatische Kompromisse an, statt heroischer Vaterlandsverteidigung ist nun der »Staat im Smartphone« das Ideal.[9] Die ohnehin schon angespannte Wirtschaftslage hat sich durch die Corona-Epidemie noch verschlechtert. Doch diese mangelnden Erfolge schaden Selenskyjs Popularität offenbar nur wenig. Zwar würde er heute keine Dreiviertelmehrheit mehr bekommen, aber im Vergleich zu seinen Vorgängern und Konkurrent*innen erzielt er bei Umfragen immer noch hohe Zustimmungswerte. Es scheint, als werde von ihm gar nicht ernsthaft erwartet, dass er die in der TV-Serie als korrupt, manipulierbar, ineffektiv und überflüssig charakterisierte parlamentarische Demokratie grundlegend verändern könne. Dem Volk reicht es, dass der Diener keine neue Revolution oder gar einen Krieg ausruft und weitgehend auf nationalistische Parolen wie »Ruhm der Ukraine! Den Helden Ruhm!« verzichtet. Man kennt die großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen, von denen Marx irgendwo spricht, als Farce bereits aus der erfolgreichen Fernsehserie. Als Tragödie möchte man die Geschichte sich in der Wirklichkeit lieber nicht noch einmal ereignen sehen.
Der Slawist Matthias Schwartz ist Co-Leiter des Programmbereichs »Weltliteratur« am ZfL, gemeinsam mit Roman Dubasevych gab er den Band »Sirenen des Krieges. Diskursive und affektive Dimensionen des Ukraine-Konflikts« (Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2020) heraus. Sein Text beruht auf einem Vortrag, den er im Rahmen der Ringvorlesung »›The Nation Strikes Back‹? New and Old Nationalisms in Eastern Europe« am 13. November 2019 am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin gehalten hat.
[1] Neben der Ende 2018 aus der Vereinigung zweier Kirchen hervorgegangenen Orthodoxen Kirche der Ukraine gibt es noch die kleinere, weiterhin dem Moskauer Patriarchat unterstellte Ukrainisch-Orthodoxe Kirche, die vor allem in den eher russischsprachigen Regionen des Landes verbreitet ist.
[2] Vgl. Kateryna Mishchenkos Beitrag in dem Band Sirenen des Krieges. Diskursive und affektive Dimensionen des Ukraine-Konflikts, hg. von Roman Dubasevych und Matthias Schwartz, Berlin 2020, S. 293–304, hier S. 299.
[3] Dieser ukrainische Nationalismus hat zu vielen Kontroversen geführt. Nicht nur sein sprach- und identitätspolitischer Rigorismus, der die Bevölkerung des vornehmlich russischsprachigen Südostens nur teilweise erreicht bzw. ausschließt, auch sein unklares Verhältnis zum Antisemitismus und zur Kollaboration ukrainischer Nationalisten mit den Nationalsozialisten brachten ihm viel Kritik ein. Vgl. die Beiträge von Andrij Portnov und Wilfried Jilge in dem Band Gefährdete Nachbarschaften – Ukraine, Russland, Europäische Union, hg. von Katharina Raabe, Göttingen 2015.
[4] Auf Russisch lautet der Originaltitel der Serie »Sluga naroda«. Die Serie wurde wie alle Produktionen von Kwartal 95 u.a. aus kommerziellen Gründen von Anfang an auf Russisch produziert. Das hat auch dazu geführt, dass ein Film zur Serie 2016 erst ins Ukrainische synchronisiert werden musste, um überhaupt in den Kinos des Landes gezeigt werden zu können.
[5] »Päderast« ist im Russischen ein gängiges Schimpfwort für Homosexuelle. Es gibt in der Serie durchaus einen homophoben Subtext, doch bleibt dieser ambivalent, da dem Format entsprechend auch viele andere nationale, Gender- und Klassenstereotype ironisch zitiert werden.
[6] Damit lässt sich dieser antistaatliche Populismus nicht mit gängigen Populismus-Definitionen fassen, die – wie zuletzt Caspar Hirschi: Politik der reaktionären Gegenmoral. Zum populistischen Konfliktverhalten, in: Merkur 5 (2020), S. 5-21 – den »reaktionären Habitus« der Populisten, ihren »Nationalchauvinismus«, »ihre Überhöhung ›abendländischer‹ Werte gegen den urbanen Multikulturalismus, ihre Ausgrenzung von Ausländern gegen die Willkommenskultur und ihre verbalen Grenzüberschreitungen gegen die Gebote des diskriminierungsfreien Sprechens« zu den wesentlichen Merkmalen zählen (S. 7).
[7] Insofern ist der Begriff des Volkes hier auch ein ganz anderer als in den sozialistischen Volksrepubliken, wo es immer um das auch ökonomisch, sozial und kulturell definierte Kollektiv ging, in dem Klassen- und Nationalitätszugehörigkeiten tendenziell aufgehoben sind.
[8] Obwohl sowohl der Schauspieler Selenskyj als auch der ihn fördernde Oligarch Ihor Kolomojskyj jüdischer Herkunft sind, spielt Antisemitismus bislang in der öffentlichen Debatte in der Ukraine kaum eine Rolle. Eine einseitige Lobbypolitik zum Nutzen von Kolomojskyj konnte Selenskyj entgegen aller Unkenrufe bislang nicht nachgewiesen werden.
[9] Bereits in seiner Rede zur Inauguration am 20. Mai 2019 forderte Selenskyj, den Personenkult in den Amtsstuben zu beenden. Statt Präsidentenporträts solle man die Fotos der eigenen Kinder aufhängen und sich bei jeder Entscheidung fragen, ob man sie vor ihnen verantworten könne. Ansonsten glänzt Selenskyjs Team mit dem Versprechen einer schönen neuen Welt der digitalen Medien, die intelligente Apps und interaktive Tools zur Überwindung aller Übel der analogen Staatsbürokratie versprechen. »Staat im Smartphone« lautet der entsprechende Slogan. Zum einjährigen Jubiläum seiner Amtszeit vgl. das Dossier Ein Jahr Selenskyj.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Matthias Schwartz: Der »Diener des Volkes«. Wolodymyr Selenskyjs Präsidentschaft in der Ukraine, in: ZfL BLOG, 29.5.2020, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2020/05/29/matthias-schwartz-der-diener-des-volkes-wolodymyr-selenskyjs-praesidentschaft-in-der-ukraine/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20200529-01