Abstand kann schwer zu ertragen sein, vor allem dann, wenn er unfreiwillig eingehalten werden muss. Sollten Abstandsregeln und Masken in näherer Zukunft fallen, gibt es trotzdem gute Gründe, immer wieder auf Distanz zu seinen Nächsten zu gehen. Das lässt sich zum Beispiel nachlesen bei Nietzsche. Unter dem Titel »Von der Nächstenliebe« fällt Zarathustra ein wenig schmeichelhaftes Urteil über jene Motive, die die Menschen zueinander treiben:
»Der Eine geht zum Nächsten, weil er sich sucht, und der Andre, weil er sich verlieren möchte. Eure schlechte Liebe zu euch selber macht euch aus der Einsamkeit ein Gefängniss.
Die Ferneren sind es, welche eure Liebe zum Nächsten bezahlen; und schon wenn ihr zu fünfen mit einander seid, muss immer ein sechster sterben.«[1]
Zarathustras Vorwurf lautet, dass Menschen ihresgleichen deshalb aufsuchen, weil sie selbstverliebt sind oder das Alleinsein nicht ertragen. Was misanthropisch klingen mag, ist bei Nietzsche der Versuch, sich von der Tradition und der unmöglichen Forderung nach christlicher Nächstenliebe zu emanzipieren.[2] Denn die Nächstenliebe soll sich – so verstand sie zumindest Søren Kierkegaard – unterschiedslos auf den Anderen als Gleichen richten. Vor allem aber soll sie keine Rücksicht auf persönliche Vorlieben nehmen, zu denen neben dem Begehren (bzw. der »Minne«) auch die Freundschaft zählt. Nächstenliebe heiße »Selbstverleugnung«[3] – nicht nur in Gedanken, sondern auch im Handeln. Begegnungen und Reflexionen auf sichere Distanz haben für Kierkegaard deshalb nichts mit Nächstenliebe zu tun:
»[A]uf Abstand ist der Nächste eine Einbildung, er, der ja nur da ist, wenn er nahe ist, der erste beste Mensch, unbedingt jeder Mensch. […] Auf Abstand kennt jeder den Nächsten, und doch ist es eine Unmöglichkeit, ihn auf Abstand zu erblicken«.[4]
Kierkegaards Theorie der Nächstenliebe ist eine Apologetik der unzensierten, kontingenten Nähe – und ein Angriff auf alle möglichen Formen des Abstands, die er ausführlich charakterisiert:
»Auf Abstand eines Wortgefechts vom Handeln, auf Abstand eines hochherzigen Entschlusses vom Handeln, auf Abstand eines feierlichen Gelöbnisses, auf Abstand der Reue vom Handeln versteht jeder Mensch das Höchste. Innerhalb der Sicherheit des unveränderten Zustandes nach alter Gewohnheit verstehen, daß eine Veränderung gemacht werden sollte, das kann jeder, denn dies Verständnis geschieht auf Abstand, ist nicht Unverändertheit ein ungeheurer Abstand von der Veränderung? Ach, in der Welt wiederholt sich ständig die geschäftige Frage, was dieser könne und was jener könne und was jener nicht könne: die Ewigkeit, die vom Höchsten spricht, nimmt ganz ruhig an, daß jeder Mensch es könne, und fragt deshalb nur, ob er es getan habe.«[5]
Nietzsche und Kierkegaard unterscheiden sich also in ihrer jeweiligen Bewertung des Abstands. Das lässt sich aber nicht so aufschlüsseln, dass es Kierkegaard um die tätige Veränderung der Welt im Umgang mit anderen ginge und Nietzsche um die ruhige, ungestörte Kontemplation. Im Gegenteil versucht Nietzsche einen Keil zwischen seine Leserinnen und Leser und die geschäftige, scheinheilige Welt zu treiben und die Menschen so zu einem tätigen Schaffen zu ermutigen. Der einsame Nietzsche (resp. Zarathustra), dem »[n]icht einmal die Gnade bedeutender Gegner […] gegeben« war,[6] imaginiert den Freund als »Fernen«: »Nicht den Nächsten lehre ich euch, sondern den Freund. Der Freund sei euch das Fest der Erde und das Vorgefühl des Übermenschen.«[7] Der Freund lässt sich in Zarathustras Darstellung nicht zur Spiegelung der eigenen Vorurteile oder eingebildeten Vorzüge missbrauchen. Die Begegnung mit dem Freund ist – anders als diejenige mit dem Nächsten – kein direkter Weg zur Selbstbestätigung. Sie stellt vor die Herausforderung, sich statt mit der erfüllenden, selbstvergessenen Gegenwart mit der reflektierten Gestaltung der Zukunft zu befassen. Anders als Kierkegaard, der davon ausgeht, dass »jeder Mensch« auf Distanz notwendige Veränderungen erkennen kann, setzt Zarathustra früher an, indem er die Distanznahme als Voraussetzung für zukunftsorientierte Erkenntnis deutet. Auch Zarathustras Beschreibung der Nächstenliebe steht damit im Kontext des Tätigseins. Etwas zu schaffen, setzt ein »Ziel«[8] voraus und die Bereitschaft, die quälende »Vereinsamung«[9] des Schaffenden zu ertragen.
Die Vorstellung einer Selbsterkenntnis abseits der »Heerde«[10] mag in den letzten Monaten für Privilegierte einen neuen ästhetischen Reiz gewonnen haben. Sie ist heute aber mit völlig anderen Bedingungen verbunden als im 19. Jahrhundert. Das hängt mit der Entwicklung der »Informationsgesellschaft« zusammen, die schon Vilém Flusser als »jene Daseinsform« beschrieben hat, »in der sich das existentielle Interesse auf den Informationsaustausch mit anderen konzentriert«.[11] Austausch verlangt nun nicht mehr Kopräsenz im selben Raum, sondern eine funktionierende »Telematik«, »eine Technik zum selbstbewegten Näherrücken von Entferntem«.[12] In den Monaten der Pandemie lassen sich eindrückliche telematische Erfahrungen machen. Sie bestätigen Flussers Einsicht, dass räumliche Isolation nicht unbedingt mit sozialem Abstand verbunden ist:
»Nähe ist danach nicht Funktion irgendeiner räumlichen und zeitlichen Entfernung, sondern Funktion der Zahl und Intensität der Beziehungen, die den einen mit dem anderen verbinden. Je stärker ich mit einem anderen verbunden bin, desto näher steht er mir, und desto näher stehe ich ihm, gleichgültig, welche raum-zeitlichen Einheiten uns voneinander trennen mögen.«[13]
Die Telematik begreift Flusser als eine Technik, »die eine Abschaffung des Selbst zugunsten der intersubjektiven Verwirklichung automatisch herstellt«.[14] Er kritisiert zunächst den Schaltplan der »Verbündelung« einer »totalitären Gesellschaft«, bei der wenige Sender an einzelne »verantwortungslose und unmündige Empfänger« senden.[15] Als Alternative präsentiert er dann die Idee der »Vernetzung«, die der gegenseitigen Verwirklichung der Sender und Empfänger zuarbeitet. Vernetzung schafft neue Formen der Nähe und der moralischen Verantwortung, wie sie vielleicht in kollaborativen Schreibprojekten oder in sozialen Medien teilweise realisiert werden können (zumindest dann, wenn man die Monopolstellung einiger weniger Unternehmen in diesen Prozessen außer Acht lässt).[16] Flusser selbst sieht eine Korrespondenz zwischen seinen Überlegungen und dem »Judenchristentum mit seiner Forderung der Nächstenliebe«:[17]
»Die hier gemeinte Informationsgesellschaft wäre ein intersubjektives Netz, worin sich Kerben und Ausbuchtungen befinden, innerhalb welcher einander Nahestehende sich miteinander verwirklichen.«[18]
Diese Vorstellung intersubjektiver Verwirklichung ist ein zweischneidiges Schwert. Nochmals deutlicher wird das, wenn man sie vor dem Hintergrund der entgegengesetzten Positionen von Kierkegaard und Nietzsche betrachtet. Intersubjektive Verwirklichung im Netz kann nämlich genauso gut in repetitiven Kommunikationsschleifen mit Ähnlichdenkenden realisiert werden (eher eine Form der Selbstliebe) wie im fokussierten Austausch über wissenschaftliche oder politische Fragen, der von der distanzierten, konzentrierten Atmosphäre einer Videokonferenz vielleicht sogar profitiert (womöglich eine Form der »Fernsten-Liebe«[19]). Fällt die räumliche Komponente als Richtwert für Nähe und Distanz weg, müssen neue Kriterien gefunden werden, um Abstände in sozialen Netzen zu erkennen, herzustellen oder zu unterlaufen. Paradoxerweise könnte in Zukunft die Verweigerung der kommunikativen Interaktion über das Netz zugunsten der Begegnung mit fremd gewordenen Anderen im geteilten Raum näher an Nietzsches Idee der »Fernsten-Liebe« heranrücken als der Video-Call in einer internationalen, aber homogenen Community.
Wie sich die postpandemische Kommunikation auch gestalten mag, sie birgt dieselben Herausforderungen des unmöglichen Alleinseins unter Anderen, die insbesondere Schreibende und Literaturschaffende immer schon gekannt haben:
»Er hatte das nicht vorgehabt, aber dann begriff Ed, dass das Schweigen innerster Bestandteil seiner Flucht war, inzwischen nannte er es so. Er musste einfach für sich bleiben, aber er wusste auch, dass er jetzt nicht allein sein durfte … Im Geiste hatte er es versehentlich umgekehrt formuliert und doch genau so gemeint: Ich möchte einen Platz auf der Welt, der mich aus allem heraushält. Später war er den Strand entlanggegangen und hatte den Satz aufs Meer hinaus gesprochen, wie eine Bitte, aber die Wellen waren zu hoch, das Meer zu laut, und der Wind schob ihm die Worte in den Mund zurück.«[20]
Diese Passage aus Lutz Seilers Roman Kruso erinnert an die Ambivalenz einer Handlung, die den Mitgliedern einer Kommunikationsgesellschaft besonders schwer fallen mag, weil sie eine Unterbrechung schafft und damit selbst einen Abstand eröffnet – und die am besten in räumlicher Nähe zu hören ist: zu schweigen.
Die Literaturwissenschaftlerin Hanna Hamel leitet das Projekt »Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur«. Sie ist Mitveranstalterin der diesjährigen ZfL-Literaturtage im Literaturhaus Berlin, die unter dem Titel »Abstand« stehen.
[1] Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, KSA Bd. 4, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/New York 1999, S. 78.
[2] Vgl. zur Theoriegeschichte des Nächsten und der Nächstenliebe Kenneth Reinhard: »Neighbor«, in: Barbara Cassin (Hg.): Dictionary of Untranslatables. A Philosophical Lexicon, übers. von Steven Rendall u.a., Princeton/Oxford 2014, S. 706–712.
[3] Sören Kierkegaard: Der Liebe Tun. Etliche christliche Erwägungen in Form von Reden, Simmerath 2003, S. 95.
[4] Ebd., S. 90.
[5] Ebd., S. 89f.
[6] Stefan Zweig: Der Kampf mit dem Dämon. Hölderlin, Kleist, Nietzsche, Leipzig 1925, S. 235.
[7] Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 78.
[8] Ebd., S. 76.
[9] Ebd., S. 83.
[10] Ebd., S. 80.
[11] Vilém Flusser: »Verbündelung oder Vernetzung«, in: ders.: Medienkultur, hg. von Stefan Bollmann, Frankfurt a.M. 42005, S. 143–149, hier S. 143.
[12] Ebd., S. 145.
[13] Ebd., S. 146.
[14] Ebd.
[15] Ebd., S. 148.
[16] Vgl. Pola Groß/Hanna Hamel: »Neue Nachbarschaften? Stil und Social Media in der Gegenwartsliteratur«, ZfL Blog, 18.3.2020.
[17] Flusser: »Verbündelung oder Vernetzung«, S. 147.
[18] Ebd.
[19] Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 77.
[20] Lutz Seiler: Kruso, Berlin 2015, S. 109.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Hanna Hamel: Sensibel auf Abstand, in: ZfL BLOG, 21.5.2021, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2021/05/21/hanna-hamel-sensibel-auf-abstand/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20210521-01