Oliver Grill: WETTERGESPRÄCHE. Sentimentalische Betrachtungen zu einem Sprachspiel

›Haben Sie heute schon über das Wetter geredet? Gestern oder vorgestern vielleicht? Und was wollten Sie damit sagen?‹ – Würden wir so auf der Straße angesprochen, wären wir vermutlich einigermaßen irritiert. Nicht nur wüssten wir das nicht so genau anzugeben, sondern wären auch von der Frage überrumpelt. Ein unbehagliches Schweigen weckte den Wunsch, eine Bemerkung über das Wetter zu machen, aber das ginge in dem Fall ja nicht. Und dann ist da noch der Trivialitätsverdacht: der Verdacht, im fraglichen Moment nichts anderes zu sagen gehabt zu haben; der Verdacht, eine Person zu sein, die redet, obwohl sie nichts zu sagen hat. Ernstlich fürchten muss man solche Fragen natürlich nicht. Aber interessant sind sie doch. Was und wie wir kommunizieren, wenn wir über das Wetter sprechen, scheint ebenso offen, wie die Frage, was dieser Kommunikationsakt über uns aussagt.[1]

Um dem Sprachspiel namens Wettergespräch nachzugehen, lohnt der Blick in den Fundus der Literatur- und Geistesgeschichte. Dort sind unterschiedliche Antwortmöglichkeiten eingelagert, oft in Gestalt von Aperçus, die es zugleich charakterisieren und konterkarieren. Eine dieser Antworten findet sich bei dem Erfinder des Sprachspiels, bei Ludwig Wittgenstein, der über Moores Paradox – den Satz: ›Es regnet, aber ich glaube es nicht‹ – nachdenkt:

Sage ich ›Es regnet‹, so will ich im allgemeinen nicht, daß man antworte: ›Also so scheint es dir‹. ›Wir reden vom Wetter‹, könnte ich sagen, ›nicht von mir‹.[2] 

Das wäre eine ebenso schlichte wie elegante Lösung des Problems: ›Man‹ redet übers Wetter, weil man eine objektive Aussage darüber treffen möchte. Ein Glaube, ein subjektives Empfinden oder Wahrnehmen ist nicht Teil der Botschaft. Darum die zur Paradoxierung reizende Grammatik des referenzlosen Satzsubjekts: Es regnet. Doch stimmt das? Tragen wir uns wirklich so gerne Wetterberichte vor? Geht es um meteorologische Befunde oder vielleicht doch ums Befinden?  Zumindest die aus der Zeit gefallenen Melancholiker müssten auf diesen Einwand bestehen, ist das Wetter doch ihr tägliches Ach und Weh. Georg Büchner etwa schreibt Folgendes an seinen Bruder:

Ich bin ganz vergnügt in mir selbst, ausgenommen, wenn wir Landregen oder Nordwestwind haben, wo ich freilich einer von denjenigen werde, die Abends vor dem Bettgehn, wenn sie den Strumpf vom Fuß haben, im Stande sind, sich an ihre Stubentür zu hängen, weil es ihnen der Mühe zuviel ist, den anderen ebenfalls auszuziehen …[3]

Diese Form der Bezugnahme ist, auch wenn sie hier von einem ironischen Augenzwinkern begleitet wird, das Gegenteil der Wittgenstein’schen Lösung. Bei Büchner gilt: ›Wir reden vom Wetter, also von mir.‹ Er benennt damit die selbstgrüblerisch verregnete Gesprächsvariante derjenigen, die öfter als nicht mit nur einem Strumpf am Fuß an der Bettkante des Lebens verharren – keine wohlbeschirmte Meteorologie, sondern ein ungeschütztes Seelenbekenntnis. Aber auch sonnigere Gemüter sprechen sich im Wetter aus. Selbst die Nachrichtensprecher*innen der ARD lächeln leise, wenn sie, egal was Welterschütterndes sonst geschah, mit dem Verweis auf das Wetter von morgen zum gemütlichen Teil des Abends überleiten.

Damit ist die Amplitude nachgezeichnet, wohin das Wettergespräch referentiell ausschlagen kann. Wo aber liegt sein arithmetisches Mittel? Was ist mit der nichtssagenden Mittelmäßigkeit, die wir mit ihm assoziieren? Auch hierzu bietet die Literatur Antworten. Für Flaubert ist das Wetter (oder die Zeit) der ewig herhaltende Gegenstand notorischer Nörgelei: »Temps: Éternel sujet de conversation. Toujours s’en plaindre«.[4] Walter Benjamin spricht dagegen von der »innigsten Verbindung von  Wetter und Langeweile« und findet es symptomatisch für die Moderne, dass die ehemals »geheimnisvollste Wirkung, die auf die Menschen vom Wetter ausgeht, der Kanevas ihres leersten Geschwätzes hat werden müssen«.[5] ›Es regnet‹ wäre also zu übersetzen mit ›Es langweilt‹. Diese Langeweile aber geht über den Ennui der Melancholiker hinaus. Nicht nur ist das Wetter-Es grammatisch referenzlos, sondern der ganze Kommunikationsakt ist für Benjamin so beschaffen. Das Wettergespräch gilt ihm als Ausdruck einer superlativischen Leere (»leerstes Geschwätz«), als hohles Echo der entzauberten Welt. Vom Wetter zu reden mag nichtssagend sein, aber es ist auf bezeichnende Weise nichtssagend.

Dass man die leere Mitte des Wettergesprächs nicht nur mit einer negativen, sondern auch mit einer positiven Ladung versehen kann, liegt im Wesen der Sache. Denn wer sie einnimmt, vollzieht einen diplomatischen Akt der kommunikativen Neutralitätsbewahrung mit der Absicht, darüber hinauszukommen. So jedenfalls lässt sich Friedrich Schleiermacher verstehen, wenn er das Wettergespräch als beispielhaft für einen »Nullwerth« der Sprache ansieht:

Einen Nullwerth hat was weder Interesse hat als That noch Bedeutung für die Sprache. Es wird geredet weil die Sprache sich nur in der Continuität der Wiederholung erhält. […] Wettergespräche. Allein dies Null ist nicht das absolute Nichts, sondern nur das minimum. Denn es entwickelt sich an demselben das bedeutende.[6]

Eine Null, aber kein absolutes Nichts; eine Differenz, die (noch) keine ist; ein schwebender Geist über dem Wasser … Wohin dieser unruhig vibrierende Nullwert ausschlägt, hängt nach Schleiermacher davon ab, welche Bedeutungen sich an ihm entwickeln. So fangen Romane an. Und wenn bemerkenswerterweise nichts daraus hervorgeht? Wenn mit dem Wetter alles, wie das griechische metéōros besagt, in der Schwebe bleibt? Geistlos und unverbindlich? Dann wäre doch immerhin das Weitersprechen gewährleistet und also die »Continuität« der Möglichkeitsbedingung von Bedeutung gewahrt. Solange wir übers Wetter reden, halten wir den Kontakt aufrecht, der die Voraussetzung dafür ist, dass wir uns etwas zu sagen haben könnten. Das Wettergespräch ist so gesehen Möglichkeitssinn und diskrete Form der zwischenmenschlichen Zugewandtheit zugleich. Darin liegt der a priori positive Gehalt seiner leeren Mitte.

Für Roland Barthes ist Letzteres die bei weitem wichtigste Eigenschaft. Zwar betont auch er die phatische Funktion des Wettergesprächs und die diplomatische Neutralität, die damit einhergeht. Doch im Kern ist es für ihn der Inbegriff liebender Zuneigung:

Observer en commun le temps qu’il fait = ce tout est égal du parler / ne pas parler de l’amour. Des affections absolues […] peuvent ainsi, ont pu se mouvoir, vivre, respirer dans l’insignifiance douce des propos: le Temps qu’il fait exprime alors un en deçà du langage (du discours) qui est l’enjeu même de l’amour: douleur qu’il y a à ne plus pouvoir jamais parler du Temps qu’il fait avec l’être aimé. Voir la première neige et ne pouvoir la lui dire, la garder pour soi.[7]

Wenn wir also gar nichts anderes als unsere Neigung zueinander ausdrücken wollen, wenn diese Zugeneigtheit selber und der Wunsch, sie zu erhalten, das Bedeutende und Bedeutendste überhaupt sind, dann reden wir über das Wetter – egal ob das Wetter als Gegenstand in unseren Gesprächen vorkommt oder nicht. Das Tout est égal der reinen Zuneigung fragt letztlich auch danach nicht. ›Wir reden von Dir und mir‹, könnte ich sagen, ›nicht vom Wetter‹. Doch schon diese Entgegnung wäre diskursiv. Wer so auf die Frage nach der Bedeutung von Wettergesprächen antwortet, gefährdet die meteorische Schwebelage, die Barthes meint, mit jedem Wort.

Auf diese Liebeserklärung ans private Wettergespräch folgt eine Notiz, in der Barthes schreibt, das Wetter diene auch als politisches Alibi. Die Politik bemühe das Wetter gerne dann, wenn sie an sich vorhersehbare Katastrophen, etwa Missernten, nicht verhindert habe. Das Wetter existiere so gesehen immer nachträglich, als Diskurs der Nicht-Verantwortlichkeit.[8] Barthes hat diese Notiz später wieder gestrichen, vermutlich war die Diskrepanz zur vorherigen Überlegung zu groß. Heute müsste er sie noch aus anderen Gründen durchstreichen. Denn das Haltbarkeitsdatum des Wetter-Alibis ist im Anthropozän längst überschritten. Die Nicht-Verantwortlichkeit manifestiert sich als Ergebnis unverantwortlichen politischen und ökonomischen Handelns im Wetter selber, wodurch es zu keiner Ausrede mehr taugt. Um die Ausrede ist es nicht weiter schade. Um die Unschuld des Wettergesprächs schon.

Der Literaturwissenschaftler Oliver Grill ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.

[1] Dieser Text entstand Anfang November 2021 während meines Gastaufenthaltes am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) in Berlin. Grund des Aufenthalts war ein Gespräch mit Hanna Hamel über ihr Buch Übergängliche Natur. Kant, Herder, Goethe und die Gegenwart des Klimas für den Podcast des ZfL. Zur gleichen Zeit fanden im schottischen Glasgow Demonstrationen von Klima-Aktivist*innen und auch der UN-Klimagipfel statt. Dieser Koinzidenz verdankt sich der vorliegende Beitrag.

[2] Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 7: Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie. Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie, hg. von G.E.M. Anscombe, G.H. von Wright und Heikki Nyman, Frankfurt a.M. 1980, S. 141 [I, §750].

[3] Brief an Wilhelm Büchner vom 2.9.1836, in: Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente, hg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann, 2 Bde, Frankfurt a.M. 2006, Bd. 2, S. 448.

[4] Gustave Flaubert: Bouvard et Pécuchet. Avec des fragments du ›second volume‹, dont le Dictionnaire des idées reçues, hg. von Stéphanie Dord-Crouslé, Paris 1999, S. 449.

[5] Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, in: ders.: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bde. V.1–2, hg. von Rolf Tiedemann, hier Bd. V.1, Frankfurt a.M. 1982, S. 156f. [D I, 3].

[6] Friedrich Schleiermacher: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, in: ders.: Kritische Gesamtausgabe, im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen hg. von Günter Meckenstock u.a. 2. Abt., Bd. 4, hg. von Wolfgang Virmond, Berlin/Boston 2014, S. 123.

[7] Roland Barthes: La préparation du roman. I et II. Notes de cours et de séminaires au Collège de France 1978–1979 et 1979–1980. Texte établi, annoté et présenté par Nathalie Léger, Paris 2003, S. 72. »Gemeinsam das Wetter beobachten = völlige Gleichgültigkeit dessen, wovon die Liebe spricht / nicht spricht. Unbedingte Zuneigungen […] können so, konnten so sich ergehen, leben, atmen in der süßen Bedeutungslosigkeit des Redens: Das Wetter bringt also ein Diesseits der Sprache (des Diskurses) zum Ausdruck, ebendasjenige, um das es in der Liebe geht: Schmerz, den es bereitet, niemals mehr mit dem geliebten Wesen über das Wetter sprechen zu können. Den ersten Schnee sehen und nicht mit ihm darüber sprechen können, ihn für sich behalten müssen.« Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 1978–1979 und 1979–1980, aus dem Französischen von Horst Brühmann, hg. von Éric Marty, Frankfurt a.M. 2008, S. 83.

[8] Barthes: La préparation du roman (Anm. 7), S. 72.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Oliver Grill: Wettergespräche. Sentimentalische Betrachtungen zu einem Sprachspiel, in: ZfL BLOG, 8.11.2021, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2021/11/08/oliver-grill-wettergespraeche-sentimentalische-betrachtungen-zu-einem-sprachspiel/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20211108-01