Johanna Abel: Calderóns allegorische Statuen. ZUR AKTUALITÄT VON WERNER KRAUSS

Abb. 1. Das Grab von Werner Krauss, Dorotheenstädtischer Friedhof, Sept. 2020, Foto: Dirk Naguschewski

Der rote Ziegelquader zur Markierung eines Ehrengrabs  am Grab des Romanisten Werner Krauss (1900–1976) auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin wurde schon vor einigen Jahren entfernt. Nur der Grabstein und einige Koniferen trotzen der fortschreitenden Verwahrlosung. Hier, wo so viele Künstler*innen und Intellektuelle begraben sind, werden andere Tote lebendiger gehalten. Sollte die Erinnerung an einen der letzten »großen Romanisten«[1] und den »einzige[n] politischen Philologen, der diese Bezeichnung im 20. Jahrhundert wirklich verdiente«,[2] tatsächlich so klanglos verhallen?

Der aus Stuttgart gebürtige Werner Krauss studierte Anfang der 1920er Jahre in München und Berlin Romanistik. In dieser Zeit verbrachte er auch einige Jahre in Madrid, wo er Anschluss an die literarischen und intellektuellen Zirkel der Zeit fand und sich dem anarchistischen Flügel der Republikaner anschloss. 1926 musste er Spanien verlassen, nachdem er wegen seiner Kontakte zu Anarchisten denunziert und verhaftet worden war. Zurück in Deutschland, nahm er sein Studium mit Schwerpunkt Hispanistik und Kunstgeschichte in München wieder auf und wurde 1929 bei Karl Vossler promoviert. Ab 1931 war er Assistent von Erich Auerbach in Marburg, wo er sich 1932 habilitierte und nach Auerbachs Vertreibung durch die Nationalsozialisten auch dessen Stellvertretung übernahm. Nach seiner Einberufung als Soldat in die Dolmetscher-Lehrkompagnie für Spanisch und Französisch kam er 1940 nach Berlin, wo er sich in der antifaschistischen Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack (Rote Kapelle) engagierte. Im Zuge einer Gruppenaktion zur politischen Aufklärung wurde er 1942 verhaftet und zum Tode verurteilt. Sein Todesurteil wurde jedoch auf Intervention namhafter Kollegen wie Hans-Georg Gadamer und Ernst Robert Curtius in eine fünfjährige Haftstrafe umgewandelt. Mit Ende des NS-Regimes kehrte Krauss zurück nach Marburg und folgte 1947 einem Ruf an die Universität Leipzig. Seit 1955 baute er als Mitglied der Ost-Berliner Akademie der Wissenschaften eine Arbeitsgruppe zur Geschichte der französischen und deutschen Aufklärung auf und war dort von 1958 bis zu seiner Emeritierung Professor.

Das Leben von Werner Krauss war also von abrupten Wendungen geprägt. Seine Hafterfahrungen, zuerst im falangistischen Spanien 1926 und dann ab 1942 im Strafgefängnis Plötzensee, das er im Unterschied zu 50 hingerichteten Angehörigen der Roten Kapelle überlebte,[3] schlugen sich auch in seinen Studien nieder.[4] Seine wohl wichtigsten Bücher, eine Studie zu Graciáns Lebenslehre (1947) und der dokumentarische Roman PLN – Die Passionen der halykonischen Seele (1948)[5] wurden beide unter prekärsten Bedingungen während der politischen Haft verfasst. Das in diesem Zusammenhang oft aufgerufene Bild des ›Schreibens mit gefesselten Händen‹ verleitet in der Darstellung der Person Werner Krauss zu einer zweifachen Dramatisierung: entweder als Held des Widerstands in der Todeszelle oder als Sonderling mit einem Hang zum existentiellen Rausch. Der Zugang zu seinen wissenschaftlichen Forschungen wird dadurch zuweilen eher verstellt.

WEGE ZU KRAUSS

Einer von Krauss’ Schülern und langjährigen Mitarbeitern, Karlheinz Barck, war bis zu seinem Tod im Jahr 2012 am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) tätig. Barck widmete sich ausgiebig dem romanistischen Erbe des Exilbürgers Krauss und dessen Entdeckung und Anerkennung als Theoretiker.[6] Als Enfant terrible der DDR-Romanistik habe Barck ein Sensorium für alles Widerständige entwickelt, erzählte mir ein Kollege, der viel mit ihm zusammengearbeitet hat und mir die Lektüre von Krauss’ Studie Calderón als religiöser Dichter von 1931 als von Barck hochgeschätzt empfahl.[7] Mich trieb daraufhin vor allem die Frage um, wie ein religiöser Dichter des spanischen Barock, Pedro Calderón de la Barca (1600–1681), mit Krauss’ politischer Philologie zusammengeht. Was könnte das Widerständige an einem Jesuitengelehrten sein, der als Hofdramatiker auf politische Affektlenkung im Dienste der absolutistischen Katholikendynastie Spaniens spezialisiert war? Kraussʼ Calderón-Lektüre gibt hierzu viele Denkanstöße.

Calderón als religiöser Dichter ist einer von Krauss’ interessantesten Aufsätzen der frühen Jahre, von denen »einige zur Zeit ihres Erscheinens wissenschaftlich bahnbrechend waren«, wie Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Porträt von Werner Krauss in Das Leben und Sterben der großen Romanisten konstatiert.[8] Krauss selbst zeigt sich in einem Brief an Karl Vossler weniger überzeugt: »Den mitgehenden Aufsatz schicke ich Ihnen mit nicht ganz beruhigtem Gewissen. Was mir eigentlich vorschwebte zu zeigen, nämlich das Calderón nicht ein Ende ist, sondern ein Weg, das liegt in den unausgesprochenen Parenthesen ziemlich hoffnungslos verschüttet.«[9] Erwartbar wäre gewesen, in Calderón das Ende des mittelalterlich geprägten Kosmos zu sehen, des imperialen ›Goldenen Zeitalters‹ Spaniens (ca. 1550 bis 1680), in dem es im barocken Schauspiel zu Exzessen der illusionistischen Überwältigung und Massenspektakeln des Glaubens kam. Doch für Krauss ist Calderón vielmehr ein Weg, der direkt in die Dialektik der Aufklärung führt. Das Rettbare, das auf die Praxis des konkreten Handelns Beziehbare muss bei Calderón das Widerständige sein, das auch Carlo Barck an Krauss’ Studie faszinierte.

Mit ironischen Untertönen beginnt Krauss seinen Aufsatz damit, wie aus deutscher Sicht die »Flamme des romantischen Enthusiasmus« das spanische Drama »eher verzehrt als erhellt« habe (238). So bemerkt er zum Einfluss Calderóns auf Lessing, Schiller, Goethe und Schlegel, dass erst nach dem Ende der romantischen Bewegung auch ihre »exotischen Idole« versanken (239). Lediglich als Oberflächenreiz wahrgenommen, sei die »theatralische Dichtung der Spanier« zwar immer wieder »als vergangene Rüstungen und exotische Trachten« gegen die »›kalte Einförmigkeit‹« und »›einschläfernde Wohlanständigkeit‹ der französischen Tragödien ins Feld geführt worden«. Die Grenze der in Deutschland gängigen Calderón-Auffassung zeige sich jedoch schon bei der Betrachtung der religiösen Phänomene. Im Gegensatz dazu argumentiert Krauss:

»Der spanische Dichter entfaltete die letzte und glänzendste Offenbarung jener vorromantischen Kunst, welche ein melancholisches Abendlicht auf die Wüste der Aufklärung warf«. (238)

Was mag in der Frühen Neuzeit kulturell unwiederbringlich verloren gegangen sein, dass es nach der Aufklärung selbst vom Idealismus der romantischen Bewegung nicht dauerhaft wiederbelebt werden konnte, möchte man sofort fragen. Und warum ist diese »letzte Kunst« imstande, die Melancholie eines Wissenschaftlers und Widerstandsaktivisten des 20. Jahrhunderts zu provozieren, aus dessen politischer Spanienbindung man noch dazu einen starken Antiklerikalismus ableiten darf?

MATERIALITÄT UND HUMANISMUS

Zwei Gedanken lassen sich dazu aus seinem Artikel filtern, die sich an aktuell stark diskutierte Probleme anschließen lassen. Zum einen geht es um Materialität, zum anderen um humanistische Anliegen, die sich in den Kulturtechniken einer Religionskultur wie der des spanischen Katholizismus des 17. Jahrhunderts auffinden und aktualisieren lassen, etwa im Bilderhandeln oder im Umgang mit Schuldempfinden. Es spricht für Krauss’ weitreichendes Verständnis religiöser Phänomene, dass er an ihnen Dinge wie Präsenz, Immersion und Liminalität auf den Punkt bringen konnte, die heute in Strömungen wie dem Spekulativem Realismus oder dem New Materialism zurückkehren und neu verhandelt werden.[10]

Dass sich seine Leitgedanken dabei oft in sporadisch zwischen die Zeilen eingestreuten Sinnbildern manifestieren, führt Gumbrecht auf »die Stärke seiner Bildwelt als Kehrseite seiner begrifflichen Schwäche« zurück.[11] So könnten seine plötzlich aufblitzenden Einsichten und Thesen den Leser überraschen und sein Denken verändern.[12] Ob es sich hierbei tatsächlich um eine »Schwäche« oder nicht eher um eine methodische Entscheidung handelt, sei einmal dahingestellt. Sicher ist aber, dass es zu Krauss’ Selbstverständnis und Weltzugriff gehörte, auf die »Bildkraft der Szene« zu achten,[13] in der sich Wirklichkeit ereignet. Ein nüchterner Satz aus seinen tagebuchartigen Notizen klingt in diesem Zusammenhang wie ein Vermächtnis:

»Übrig bleiben nur einige treffende Bilder.«[14]

Eines dieser treffenden Bilder sind die allegorischen Statuen. Zu finden sind sie in einer Bemerkung zum Verhältnis zwischen Calderón und Goethe, dem der spanische Dichter Krauss zufolge fremd geblieben sei. Der große Abstand zu Calderón habe Goethe aber ein Augenmaß für den Menschen hinter der Dichtung gegeben:

»Er erriet den drängenden und flüchtigen Geist, der bald das Gepränge des Ornaments mit einem äolischen Seufzer erlöste, bald die schwingenden Töne in allegorische Statuen verwandelte.« (238)

Hinter diesem bildstarken Satz verbirgt sich eine wichtige Schlüsselerkenntnis zur Performativität der spanischen Barockdramatik. Krauss’ materialreiche und architektonisch geprägte Calderón-Charakterisierung verbindet skulpturale Ornamente und plastische Ostentation mit sinnästhetischer Auflösung und lässt die poetische Allegorese mit dreidimensionalen Bildnissen aus Holz oder Stein verschmelzen. Hier zeigt sich ein bemerkenswertes Gespür für die intermedialen Fiktionen, die Calderón in seiner Dramaturgie perfektionierte. Denn wofür stehen die allegorischen Statuen? Im engeren Sinne meint Krauss damit die Handlungsfiguren der Calderón’schen Geistlichen Spiele, die in der Personenliste seiner Dramentexte als Allegorien bezeichnet werden. Zu den Allegoriefiguren aus Calderóns berühmtestem religiösen Schauspiel Das große Welttheater (El Gran Teatro del Mundo, 1641) gehören der Autor (Schöpfer), die Welt, der Reiche, der Arme, die Schönheit, ein Kind und das Gesetz der Gnade (La Ley de Gracia) als Versinnbildlichung der eucharistischen Erlösungsökonomie.

Calderóns Figuren sind verkörperte Abstrakta, die sich über die Bühne bewegen wie lebendige Statuen. Kinästhetisch und ikonologisch orientieren sie sich an der Sakralkunst der Spätrenaissance und finden im Barock zu ihren prachtvollsten Inszenierungen. Durch den »Lebenszusammenhang hohen malerischen Schaffens«, in dem Theater und bildende Künste während des Goldenen Zeitalters in Spanien standen, zeichneten sich laut Ernst Robert Curtius die Figuren durch eine »farbige, schaubare Fülle« aus.[15] Diese verlieh ihnen die skulpturale Qualität von tableaux vivants und eine statuenhafte Schwere. Da sie überirdische Phänomene und religiöse Glaubenswahrheiten repräsentierten, ermöglichten sie besonders im Sakraltheater, dem Fronleichnamsspiel auto sacramental, eine Schau ins Jenseits. Damit stehen Calderóns allegorische Statuen zeichentheoretisch für ein erweitertes Verständnis von Realität, in dem die unsichtbare Welt des Abwesenden über die materielle Präsenz von Medien anwesend gemacht wird.

Aus der Sicht heutiger Theorieansätze geht es bei den allegorischen Statuen also um das menschliche Begehren nach Gegenwärtigkeit, nach unmittelbarer Erfahrung des Übersinnlichen. Dass der Intermedialität dabei eine entscheidende Rolle zukommt, spitzt Krauss in seinem Bild treffend zu. Dem entspricht eine Erkenntnis der Bildanthropologie, wonach Kulturen Verlebendigungsgeschichten entwickeln, in denen mithilfe unterschiedlichster Bildnisse auf vielfältige Weise Präsenz erzeugt wird.[16] Präsenz ist dabei die sinnlich erfahrbare Unmittelbarkeit und Intensität des Dargestellten.[17]

Im Blickwinkel der historischen Aufführungspraxis geht es um barocke Darstellungsverfahren im Theater, die religiöse Phänomene erfahrbar werden lassen und regelrechte Epiphaniemomente auslösen.[18] Krauss kommentiert dies wie folgt:

»Tatsächlich hat sich Calderón nicht gescheut, auch die Durchbrechung des Naturgeschehens durch Werke des Glaubens in seinen Schauspielen darzustellen. Doch ist die bewirkende Kraft dann stets eine Kraft aus dem Inneren. Das Jenseits greift nicht mehr wie in den mittelalterlichen Mysterien und Mirakelspielen auf die Bühne des Lebens über.« (244f.)

Dem ist allerdings insofern zu widersprechen, als sich Calderón gerade in seinen Sakramentsspielen, bei denen es sich im weitesten Sinne um Nachfolger der Mysterienspiele handelt, besonders auf die Inszenierung göttlicher Kräfte spezialisiert hatte und diese mit allen Mitteln der mechanischen und visuellen Künste verfeinerte. Bevorzugt inszenierte er materielle Transfigurationen auf der Bühne. Mit Theatermaschinerien (tramoyas) wurden Schwellenmomente zwischen irdischer und transzendenter Sphäre dramaturgisch umgesetzt. Seien es Wunder oder Verklärungshandlungen, die Durchbrechung der physikalischen Gesetze erfolgte oft als Verwandlung von Objekten und Bildrequisiten in Heiligenskulpturen, Kultgegenstände oder auch Schauspieler. Damit ging es Calderón um die Erzeugung von intermedialen Zwischenbildern im Grenzbereich von innerer und äußerer Realität. Durch gezielte Blick- und Affektlenkung und die gegenreformatorische Einübung einer visionären Schaufrömmigkeit war das frühneuzeitliche Publikum zudem geschult im sogenannten eucharistischen Blick‹,[19] der es permanent in einer epiphanischen Erwartungshaltung hielt: das plötzliche Erscheinen unerwarteter Bildsequenzen war Programm.

Aus der Perspektive des digitalen Zeitalters ging es Calderón bereits im 17. Jahrhundert um die Herstellung von künstlich erzeugten 3D-Umgebungen. Mit den intermedialen Zwischenbildern des spanischen Sakraltheaters können also ältere Modelle von virtueller Realität gedacht werden. Während sich heutige ästhetisch-technologische Unternehmungen mit der Erschaffung von Hologrammen[20] und erweiterten Realitäten (enhanced reality) befassen, könnte man Calderóns allegorische Statuen als vormoderne Hologramme begreifen – Bilder im Raum zwischen Bühne und Publikum, die ohne visuelle Lichtprojektionen und bewegte Bilder auf Leinwänden oder Datenbrillen auskommen mussten. Allein durch wörtliche Rede konnten sie nicht erzeugt werden. Ohne ihre Verkörperung in Medienwechseln, die der Grenzauflösung zwischen den Wahrnehmungsordnungen dienten, wurden sie nicht als gegenwärtig greifbar gemacht. Hätte Krauss hier keine Statuen erwähnt, wären bei der Betrachtung des spanischen Geistlichen Spiels die wichtigen materiellen Implikationen der Verwandlungsnarrative völlig untergegangen.[21] Dass neue Impulse für die Calderón-Forschung also vor allem aus einer posthermeneutischen Richtung kommen könnten, die über ein gesteigertes Verständnis der Materialkultur religiöser Phänomene befördert wird, nimmt Krauss hier gewisserweise vorweg. Calderón bleibt mit seinem Wundertheater damit für die Gegenwart spannender denn je, denn es liefert historisches Anschauungsmaterial für einen epistemologisch anderen Zugriff auf Realität und Transzendenz.

UNSICHTBARKEIT UND POSITIVE WENDUNG

Das Widerständige an Calderóns ästhetischem Modell deutet Krauss auch in einem späteren Marburger Aufsatz an: »Die Dinge müssen zur Sichtbarkeit gezwungen werden«, schreibt er im Zusammenhang »der Kritik der offiziellen Politik der Verherrlichung des Todes« und eines »Kult[es] der Jugend« im faschistischen Spanien, Italien und Deutschland und bezeichnet diese Jugend als den »Todfeind alles Unsichtbaren«.[22] Eine der von Krauss’ im Brief an Vossler erwähnten Parenthesen seiner Studie könnte demnach lauten, die Wüste der Aufklärung habe die vielfältigsten Unsichtbarkeiten geschluckt.

In Calderóns Theater bleibt die menschliche Seele zwar nicht völlig unsichtbar, aber sie wird behutsam hinter allegorischer Schleiern und Masken verborgen. Calderón dramatisiert sie im Streitgespräch mit ihren seelischen Teilaspekten, um sie durchscheinende Konturen gewinnen zu lassen. Krauss leitet aus dieser barocken Seelenkunde ein lebensbejahendes Psychogramm ab und betont die positive Dominante des religiösen Dichters.

Und so fördert die Relektüre noch einen zweiten Aspekt zutage: Religion kommt bei Calderón als »Stoff zum Handeln« zum Tragen und nicht als »Gesinnungsglaube des romantischen Katholizismus, der noch die entscheidenden Züge seiner protestantischen Herkunft bewahrt« (238). Dementsprechend schreibt Krauss über Calderón: »Der Zögling der Jesuiten fand in der Willensfreiheit und in der Werkgläubigkeit die Bausteine seiner geistigen Welt. […] Alles Mirakulöse liegt für Calderón in dieser wunderbaren Fähigkeit des Willens zur religiösen Selbstbestimmung und Selbstverankerung« (239). Krauss geht es bei der Betrachtung Calderóns innerhalb des Systems katholischer Religiosität also um den Versuch einer »Selbstbefreiung« (243). Bemerkenswert ist dabei, dass Krauss gerade aus Sicht einer politischen Philologie bei seiner Bewertung der »besonderen Wachstumsbedingungen« (237) der religiösen Dramatik Spaniens unbeeindruckt an allen primitivistischen Zerrbildern der iberischen Halbinsel vorbeimanövriert, die durch das ›schwarze Spanien‹, die Inquisition und eine nordwesteuropäisch-reformatorische Perspektive geprägt sind. Obwohl ihn besonders die »Rüstungen für die Ewigkeit« interessieren, die Calderón der »spanischen Seele nach dem Zusammenbruch ihrer weltlichen Macht« (241) mit auf den Weg gegeben hat, sind es doch die zeitlosen »geistigen Aufgaben des Menschen«, die Krauss’ stärkste Reaktion auf Calderón hervorrufen.

Aufgrund seiner umfassenden kulturgeschichtlichen Kenntnisse verweigert sich Krauss schon zu Beginn seiner romanistischen Laufbahn einem antikatholischen Affekt, der sich klassischerweise an der gegenreformatorischen Bilderverehrung sowie an der Sündenökonomie und ihrer Ohnmachtsmentalität entzündet. Stattdessen versteht er den spanischen Ordensstreit (zwischen Dominikanern und Jesuiten, zwischen Prädestinationslehre und Willensfreiheit) als »geistlichen Geburtshelfer« einer »neuen Arbeitsmoral« der Moderne (243). In der »strengsten Kirchenlehre« der Jesuiten verortet er einen Wegbereiter für ein »neue[s] Humanitätsideal des Rationalismus« (245) und gliedert die Jesuiten sogleich nonchalant mit Jansenisten und Calvinisten in eine mehrkonfessionelle Verflechtungsgeschichte ein. Dabei unterscheidet er präzise zwischen den Begriffen Sünde, Sühne und Reue, wobei er aus Calderóns religiöser Weltauffassung gerade die Reue als einziges produktives Handlungsgebot des Menschen in Verantwortung für sich selbst herausliest:

»Die Reue ist die Grundform aller Calderónschen Glaubenshandlungen. […] Die Reue richtet sich mit zwingender Ausschließlichkeit auf die schlimme Tat; je stärker sie empfunden wird, desto mehr verengt sich ihr Umkreis, desto eindeutiger umschreibt sie den Ort des Verbrechens, auf dem die Widergutmachung allein erfolgen kann.« (245) 

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Reue und dem menschlichen Umgang mit dem Verbrechen stellte also schon früh eine wichtige Koordinate des Krauss’schen Denkens zwischen den beiden Leitmotiven der Wandlungen und des Mythos dar, deren theoriegeschichtliche Aufarbeitung noch aussteht.[23] Das Verbrechen als feste Größe in seinem frühen Denken widerspricht darüber hinaus auch dem Klischee, dass Krauss sich die enorme existentielle Spannung seines Lebens aus einer Art Sehnsucht nach krimineller Energie selbst eingehandelt habe, wie eine durch noch fehlende Daten zu den Grauzonen seiner Biographie unausgewogene Interpretation in den Raum stellte.[24] Es dürfte sich daher beim Verbrechen weder »um eine Altersfaszination« noch um eine »Übung in riskant-alternativem Denken« handeln,[25] sondern lediglich um einen roten Faden in den Schriften Werner Krauss’, dem an der dialektischen Herleitung der modernen Psyche aus den alten Modellen gelegen war. So schließt Krauss seinen Aufsatz mit der Einsicht, dass es Calderón in seiner Darstellungsweise immer darum ging, »im Verbrecher den Menschen [zu] verherrlichen, der es trotz aller niederziehenden Gewalten schließlich doch noch zuwege bringt, die Zügel seines Schicksals zu ergreifen« (246).

Dieses »fast unbegrenzte Vertrauen in die Macht der menschlichen Persönlichkeit« (ebd.) ist die Haltung zur positiven Wendung, die Krauss mit Calderón als Weg eröffnen wollte, ein Denkweg durch die Aufklärung zu einer politisch verstandenen Philologie.

Befestigung

Vor fast 30 Jahren wurde Werner Krauss in den Schriften Karlheinz Barcks zum Wiedergänger, als sich in den frühen 1990er Jahren Bahn brach, was nie wirklich ganz verschwunden war:

»Viel zu spät, aber gleichwohl zwingend angesichts der Wiederkehr des Verdrängten in den Gestalten verzweifelter Gewalt auf unseren Straßen und in unseren Städten, beginnen wir Erfahrungen des antifaschistischen Widerstands freizulegen und auf neue Weise zu vergegenwärtigen, denen machtpolitisches Kalkül im Kalten Krieg und in der Zeit der Konfrontation der Systeme mit der Glaubwürdigkeit auch den Boden der Wirkung und der Befestigung im Citoyen-Bewusstsein der Nachgeborenen entzogen hat.«[26]

Abb. 2. Grabstein Werner Krauss, Dorotheenstädtischer Friedhof, Sept. 2020, Foto: Dirk Naguschewski

Heute lässt sich deshalb erneut fragen, ob der Ehrengrabstatus nach 26 Jahren aufgrund bürokratischer Geschicke verloren gegangen ist, oder ob die fehlende Befestigung im »Citoyen-Bewusstsein« immer noch auf politischem Kalkül beruht. Krauss, der jegliche Märtyrerhaltung strikt ablehnte,[27] hatte es geschafft am Leben zu bleiben. Seine Überlebensstrategie war aufgegangen, weil er sich allen Versuchen der Heroisierung oder Vereinnahmung zu entziehen wusste. Könnte diese »Pflicht zur Selbstbehauptung«[28] wieder mit einem Stein befestigt werden, dann widerspräche das sicher nicht der Krauss’schen Überlebenskunst.

Die Romanistin Johanna Abel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZfL mit ihrem von der DFG geförderten Projekt »Kulturen des Wunders. Prozessionstheater und Bilderkult als globale Vernetzungsphänomene der Frühen Neuzeit«.

[1] Hans Ulrich Gumbrecht: Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. Karl Vossler, Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, Erich Auerbach, Werner Krauss, München/Wien 2002.

[2] Karlheinz Barck/Martin Treml: »Politische Philologie«, in: Lendemains 124 (2006), S. 109–110, hier S. 109.

[3] www.gedenkstaette-ploetzensee.de/hinrichtungen-in-ploetzensee/die-rote-kapelle.

[4] Vgl. Barck/Treml: »Politische Philologie« (Anm. 2),  S. 109.

[5] Stefan Hermlin zufolge »eines der ganz wenigen, wenn nicht das einzige Buch von Rang, das aus der inneren Emigration in Deutschland kam«, und dessen darin gezeichnetes Porträt der Berliner Widerstandsgruppe für Karlheinz Barck »als ein gleichrangiges dem in Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands gezeichneten an die Seite zu stellen ist«. Vgl. Karlheinz Barck: »Werner Krauss vor dem Reichskriegsgericht«, in: Lendemains 69/70 (1993), S. 137–150, hier S. 138.

[6] Vgl. Barck/Treml: »Politische Philologie« (Anm. 2), S. 110.

[7] Werner Krauss: »Calderón als religiöser Dichter«, in: Das wissenschaftliche Werk / Werner Krauss, Bd. 3 (= Spanische, italienische und französische Literatur im Zeitalter des Absolutismus, hg. v. Peter Jehle), hg. im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Manfred Naumann, Berlin 1997, S. 237–249. Im Folgenden im Text zitiert unter Angabe der Seitenzahl.

[8] Hans Ulrich Gumbrecht: »›Die enorme Spannung meines Lebens‹. Das Werk und die Tode von Werner Krauss«, in: Gumbrecht: Vom Leben und Sterben der großen Romanisten (Anm. 1), S. 175–208, hier S. 179.

[9] Werner Krauss an Karl Vossler, in: Peter Jehle: »Calderón als religiöser Dichter. Entstehung und Überlieferung«, in: Das wissenschaftliche Werk / Werner Krauss, Bd. 3 (Anm. 7), S. 582–583, hier S. 582.

[10] Vgl. zum Spekulativen Realismus Quentin Meillassoux: Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz, Zürich 2008; Niklaus Largier: Spekulative Sinnlichkeit, Zürich 2018; Alex Dubilet: The self-emptying subject. Kenosis and immanence, medieval to modern, New York 2018; Timothy Morton: Realist magic: objects, ontology, causality, Ann Arbor 2013.

[11] Gumbrecht: Vom Leben und Sterben der großen Romanisten (Anm. 1), S. 193.

[12] Vgl. ebd., S. 179.

[13] Werner Krauss: Vor gefallenem Vorhang. Aufzeichnungen eines Kronzeugen des Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1995, S. 197.

[14] Ebd., S. 19.

[15] Ernst Robert Curtius: »Calderón und die Malerei«, in: Romanische Forschungen 50.2 (1936), S. 89–136, hier S. 135, 136.

[16] Vgl. hierzu: Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001; ders.: »Iconic Presence. Images in Religious Traditions«, in: Material Religion. The Journal of Objects, Art and Belief 12 (2016), S. 235–237; ders./Victor Stoichita: An interview with Hans Belting, in: Balzan Papers 3 (2020), S. 95–104.

[17] Vgl. hierzu Christian Kiening (Hg.): Mediale Gegenwärtigkeit, Zürich 2007; Niklaus Largier: »Präsenzeffekte: Die Animation der Sinne und die Phänomenologie der Versuchung«, in: Poetica 37.3–4 (2005), S. 393–412.

[18] Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004, S. 133.

[19] Vgl. zum eucharistischen Blick‹ im spanischen Kontext Felipe Pereda: Las imágenes de la discordia. Política y poética de la imagen sagrada en la España del cuatrocientos, Madrid 2007, S. 122; zum sacramental gaze u.a. Thomas Lentes: »›As far as the eye can see …‹: Rituals of Gazing in the Late Middle Ages«, in: Jeffrey F. Hamburger/Anne-Marie Bouché (Hg.): The Mind’s Eye. Art and Theological Argument in the Middle Ages, Princeton 2006, S. 360–373.

[20] Vgl. zu neueren Praktiken im öffentlichen Raum Seraphine Meya: »Hologram Protest«, in: Nomoi. Manifestation and Iconology of Law, 31.12.2015.

[21] Vgl. hierzu das von der International Balzan Foundation geförderte Forschungsprojekt »Ikonische Präsenz. Die Evidenz von Bildern in den Religionen« (2015–2019). In diesem Kontext entstanden: Johanna Abel: »Schatten und Kopie im Sakraltheater. Der ›auto sacramental‹ als ikonologisches Reflexionsmedium«, in: HeLix. Dossiers zur romanischen Literaturwissenschaft 12.1 (= Auto Sacramental: Aktuelle Forschungsbeiträge zum Fronleichnamsspiel in Spanien und Hispanoamerika (2019), hg. v. Marina Ortrud M. Hertrampf), S. 98–106.

[22] Werner Krauss: »Das Ende der Generationengemeinschaft«, in: ders.: Das wissenschaftliche Werk, hg. von Manfred Naumann u. Werner Bahner, Bd. 1, Berlin 1987, S. 405, 408.

[23] Vgl. Martin Treml: »Werner Krauss’ ÜberLebenskunst dokumentiert«, in: Lendemains 124 (2006), S. 123–127, hier S. 125.

[24] Vgl. Gumbrecht: Vom Leben und Sterben der großen Romanisten (Anm. 1), S. 185.

[25] Ebd., S. 192.

[26] Karlheinz Barck: »Werner Krauss vor dem Reichskriegsgericht«, in: Lendemains 69/70 (1993), S. 137–150, hier S. 137.

[27] Ebd., S. 142.

[28] Ebd.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Johanna Abel: Calderóns allegorische Statuen. Zur Aktualität von Werner Krauss, in: ZfL BLOG, 17.11.2021, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2021/11/17/johanna-abel-calderons-allegorische-statuen-zur-aktualitaet-von-werner-krauss/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20211117-01