Katja Schicht: ALEXANDER VON HUMBOLDT, EIN PIONIER DER KLIMAFORSCHUNG

Alexander von Humboldt war der Erste, der jahrelang systematisch Messwerte aus verschiedenen Regionen der Erde sammelte, bearbeitete, miteinander verglich und auswertete. Er konnte dadurch das Klima statistisch bestimmen und in seinem Lebenswerk Kosmos, dessen fünf Bände ab 1845 erschienen, eine umfassende Klimadefinition vorstellen. Bereits 1844 hatte er in seiner Abhandlung zu den Gebirgsketten in Zentralasien festgestellt, dass der Mensch das Klima »durch das Fällen der Wälder, durch die Veränderung der Vertheilung der Gewässer und durch die Entwicklung großer Dampf- und Gasmassen an den Mittelpunkten der Industrie«[1] beeinflusse. Ein Jahr später wies er im ersten Band des Kosmos erneut auf die »Vermengung [der Atmosphäre] mit mehr oder minder schädlichen gasförmigen Exhalationen«[2] hin. Mit seinen Beschreibungen des Klimas in den von ihm bereisten Regionen, seiner bereits 1817 erschienenen Abhandlung über die Isothermen und der von ihm konstruierten Jahresisothermenkarte gilt er als Begründer der modernen vergleichenden Klimatologie.[3] Dabei hat Humboldt nie eine meteorologische oder klimatologische Ausbildung genossen, sondern war auf dem Gebiet ein Autodidakt. So gibt es auch keine monografische Gesamtdarstellung zum Klima von ihm;[4] statt dessen publizierte er seine Erkenntnisse in Zeitschriften und Zeitungen oder einzelnen Buchkapiteln.

Thomas Nehrlich und Michael Strobl haben nun erstmals zwanzig für die Wirkungsgeschichte Humboldts relevante Fassungen seiner zahlreichen klimatologischen und meteorologischen Publikationen aus den Jahren 1795 bis 1847 in deutscher Sprache[5] in einem Band zusammengestellt (Thomas Nehrlich/Michael Strobl (Hg.): Alexander von Humboldt: Ueber die Hauptursachen der Temperatur-Verschiedenheit auf dem Erdkörper. Schriften zum Klima, mit einem Geleitwort von Stefan Brönnimann und Martin Claussen, Hannover: Wehrhahn 2023). Mit ihrer Edition wollen die Herausgeber u.a. klären, was »Humboldt bereits über die Physik und Chemie der Atmosphäre und das Klima« wusste und »wie aktuell […] Humboldts Gedanken und Forschungsansatz heute« (9f.) sind. Der Band solle jedoch »keine umfassende wissenschaftshistorische Würdigung« sein, wie es im Geleitwort heißt, sondern »lediglich auf Humboldts zahlreiche, auch für die moderne Klimawissenschaft nach wie vor erkenntnisreiche Abhandlungen aufmerksam machen« (26). Alle klimatologischen und meteorologischen Forschungsleistungen und Erkenntnisse von Humboldt in einem Band zusammenzutragen, ist denn auch das primäre Verdienst dieser Ausgabe.

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Die bisherigen Überblicksdarstellungen der Humboldt-Forschung beschränkten sich vor allem auf Humboldts isotherme Linien und seine Jahresisothermenkarte, seinen Beitrag zur Errichtung des Preußischen Meteorologischen Instituts in Berlin im Jahr 1847 (die erste eigenständig arbeitende meteorologische Einrichtung in Deutschland) oder den Vergleich seines Klimabegriffs mit zeitgenössischen Darstellungen.[6] Demgegenüber dokumentiert diese Ausgabe erstmals die Anfänge der modernen Klimatologie in einem wissenschaftshistorisch verlässlichen Verzeichnis.

Entlang der ausgewählten Texte werden im Geleitwort Humboldts Forschungsleistungen auf dem Gebiet der Klimatologie und Meteorologie gewürdigt: Das betrifft die »Beschaffenheit des Luftkreises« (10–11), »Vertikale Veränderungen der Atmosphäre« (13–14), »Pflanzengeographie« (14–15), »Physik der Erde« (16–17), »All- und tiefbewegte Strömungen« (17–20), »Verschiedenheit der Klimate« (20–21) und »Atmosphärische Erscheinungen« (23–25). Dass es in der Humboldt-Forschung der letzten Jahre bedauerlicherweise nur wenige neuere Untersuchungen zu seinen Klimastudien gibt, verdeutlicht eine kurze Übersicht mit Quellen zur »Aktualität von Humboldts Klimaforschung« (27–28).

Den Hauptteil des Bandes bildet die Edition von Humboldts klimatologischen und meteorologischen Schriften. Basierend auf den Sämtlichen Schriften der Berner Ausgabe, die den Anspruch erhebt, das gesamte publizistische Werk veröffentlicht zu haben,[7] wurden die zwanzig von den Herausgebern ausgewählten Texte »erneut textkritisch durchgesehen« (446) und originalgetreu ediert. Orthografie und Interpunktion entsprechen dabei den historischen Originalbeiträgen, ein Emendationsverzeichnis ergänzt die Auswahl. Im Quellenverzeichnis wird zur Konkordanz mit der Berner Ausgabe die entsprechende Nummer des Textes aufgeführt, unter der Humboldts Beiträge dort zu finden sind. Darüber hinaus führt es zeitgenössische Separatdrucke und postume Veröffentlichungen an, soweit sie den Herausgebern bekannt sind, und demonstriert dadurch auf beeindruckende Weise die »komplexen Abhängigkeitsverhältnisse von Erstdruck, Nachdrucken, Übersetzungen und Humboldts Buchwerken« (448). Nicht zuletzt belegt es die hohe internationale Verbreitung einiger klimatologischer Schriften Humboldts.

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Der Band endet mit einem Nachwort von Michael Strobl über Humboldts Klimaforschung (391–433).[8] Ein weiteres Mal stellt er anhand der ausgewählten Texte Humboldts Forschungsschwerpunkte ausführlich dar und analysiert ergänzend dazu Humboldts bedeutende »Buchwerke«, in denen dessen »innovative Beiträge zur Klima-Forschung« zu finden sind (415). Strobl betont, dass Humboldt zwar einer der Ersten gewesen sei, der »menschliche Eingriffe in Ökosysteme, insbesondere Entwaldungen, grundsätzlich als kritisch und gefährlich einstuft«, er habe aber keinen globalen anthropogenen Klimawandel vorausgesehen (422).

Ob Humboldt der erste Forscher war, der den Einfluss des Menschen bzw. menschlichen Handelns auf das Klima erkannt habe, ist bis heute umstritten. Sicher ist, dass er mit seinen statistischen klimatologischen Bestimmungen als Vordenker unseres heutigen Klimaverständnisses zu betrachten ist. Im Zentrum seines Denkens stand die Wechselwirkung zwischen Klima, Mensch und Umwelt. Demgegenüber sei die heutige Klimadefinition, so Strobl, »geophysikalisch deutlich enger gefasst« (423). Entgegen der bisherigen Annahme, dass Humboldt seinen Klimabegriff erstmalig 1831 in seinen Fragmens de géologie et de climatologie asiatiques[9] formulierte, diesen dann 1843 in unverändertem Wortlaut in Asie centrale[10] und nur leicht verändert 1845 im ersten Band des Kosmos publizierte, argumentiert Strobl weiter, dass Humboldts Klimadefinition »eine längere Entwicklungsgeschichte durchlaufen [habe] als gemeinhin in der Forschung bekannt (oder nachgewiesen)« (425). Die im Band edierten klimatologischen und meteorologischen Texte zeigen demnach erstmals auf, dass Humboldts Definition »nicht der singuläre Wurf des späten Kosmos ist, sondern über einen langen Zeitraum in steter Beschäftigung mit vielen Einzelfragen entstanden ist« (425). Die vorgelegte textkritische Edition könnte also der Diskussion um Humboldts Stellung als Vordenker eines globalen, vom Menschen verursachten Klimawandels durchaus neue Impulse geben.

Als letztes bedeutendes »Buchwerk« führt Strobl Humboldts Kleinere Schriften (1853) an, in die dieser drei klimatologische Schriften aufnahm, »von denen [er] glaube [sich] schmeicheln zu dürfen, daß sie von ›Fachgelehrten‹ noch jetzt einiger Aufmerksamkeit gewürdigt werden, indem sie, von Anderen erweitert durch eine glücklichere Entwickelung der Ideen an Fruchtbarkeit gewonnen haben«.[11] Zu diesen Texten gehören u.a. die Abhandlung über die Zusammensetzung der Atmosphäre und seine frühe Isothermenabhandlung.[12] Ein zweiter Band der Kleineren Schriften konnte von Humboldt nicht mehr fertiggestellt werden. Strobl weist aber darauf hin, dass sich im Briefwechsel mit seinem Verleger Johann Friedrich Cotta entsprechende Editionspläne finden. Diese werden heute in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz aufbewahrt (427). In der Biblioteka Jagiellońska in Kraków, wohin Bestände der Staatsbibliothek während des Zweiten Weltkriegs ausgelagert worden waren, liegen Druckfahnen der Aufsätze »Ueber die Haupt-Ursachen der Temperatur-Verschiedenheit auf dem Erdkörper« (1827) und »Ueber die Meeresströmungen im allgemeinen« (1837), die für diesen zweiten Band vorgesehen waren. Zusammen mit dem Artikel »Von der in verschiedenen Theilen der heißen Zone am Spiegel des Meeres Statt findenden Temperatur« wurden sie nun in dem vorliegenden Band aufgenommen.[13]

Strobl gibt im Nachwort auch einen kurzen Überblick über die wissenschaftliche Beschäftigung mit Humboldts Klima-Schriften. Er schlägt dafür den Bogen von der Forschung der Akademie der Wissenschaften der DDR, in der Humboldts naturwissenschaftliche Beiträge ausführlich beleuchtet wurden, über die Naturschutzbewegung der 1990er Jahre, die Humboldt als ökologischen Denker avant la lettre sah, bis hin zu gegenwärtigen Forschungsprojekten wie denen von Philipp Lehmann am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und von Birgit Schneider an der Universität Potsdam. Auch die Kunst des späten 18. und 19. Jahrhunderts habe auf »klimatologische zeitgenössische Forschung oder Phänomene« reagiert (431).

Mit dem Hinweis auf Humboldts Einführung der »Klimadatenvisualisierung mittels isothermer Linien« – heute noch eine gängige Methode in der Klimageografie – und der bis heute gültigen Klimadefinition, die alles Leben und alle Ökosysteme einbezieht und darauf hinweist, dass der »Mensch Teil des Systems und Teil der Prozesse ist« (433), schließt Strobl sein Nachwort und stellt am Ende zu Recht fest, dass »Humboldts Klimatologie als umfassende ökologische Wissenschaft heute wieder aus vielen Perspektiven und für viele Disziplinen anschlussfähig ist« (433).

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Die Gestaltung des Bandes von Nehrlich und Strobl ist zweifelsohne ansprechend: Das Buchcover ziert ein französisches Marmorpapier in hellblau und hellgrün, der vordere und hintere Vorsatz zeigt jeweils eine bedeutende klimatologische Grafik Humboldts, ein rotes Lesebändchen unterstreicht die Gediegenheit. Nicht nur die Humboldt-Forschung, auch Klimaforscher*innen oder Klima-Interessierte werden den Band gern in die Hand nehmen, auch wenn keine neueren Forschungsergebnisse präsentiert werden. Formal aber schwächelt er mitunter. So finden sich im Geleit- und Nachwort einige vermeidbare Rechtschreibfehler, die Überschriften der Texte im Emendationsverzeichnis wurden zudem fehlerhaft formatiert. Eine Überprüfung der Seitenangaben im Quellenverzeichnis hat ergeben, dass die Angaben im Text 19 und 20 nicht mit ihrer jeweiligen Entsprechung im ersten Band des Kosmos (1845) übereinstimmen. Es ist nicht erkennbar, welche Ausgabe für den Nachweis genutzt wurde.

Dennoch ist der Band eine lesenswerte Auskoppelung von Humboldts Sämtlichen Schriften der Berner Ausgabe. Deutlich kann damit gezeigt werden, wie sich Humboldts klimatologische und meteorologische Schriften über ein halbes Jahrhundert erstrecken und zur Formulierung seines Klimabegriffs beigetragen haben.

Die Editionswissenschaftlerin Katja Schicht arbeitet im ZfL-Projekt »Kommentierte Edition des Briefwechsels zwischen Ernst und Friedrich Georg Jünger (1908–1977)«. Ihre Dissertation »Alexander von Humboldts Klimatologie in der Zirkulation von Wissen. Historisch-kritische Edition der Berliner Briefe (1830–1859) und ihre Kontexte« erschien 2023.

[1] Alexander von Humboldt: Central-Asien. Untersuchungen über die Gebirgsketten und die vergleichende Klimatologie, aus dem Französischen übersetzt und durch Zusätze vermehrt, hg. von Wilhelm Mahlmann, Bd. 2, T. 3, Berlin: Klemann 1844, S. 214.

[2] Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Bd. 1., Stuttgart/Tübingen: Cotta 1845, S. 340.

[3] Vgl. Karl-Heinz Bernhardt: »Alexander von Humboldts Beitrag zur Entwicklung und Institutionalisierung von Meteorologie und Klimatologie im 19. Jahrhundert«, in: Alexander von Humboldt in Berlin. Sein Einfluß auf die Entwicklung der Wissenschaften. Beiträge zu einem Symposium, hg. von Jürgen Hamel, Eberhard Knobloch und Herbert Pieper, Augsburg: Rauner 2002, S. 204.

[4] Nach Heinrich Wilhelm Dove war die meteorologische Gesamtdarstellung für den fünften Band des Kosmos vorgesehen. Humboldt verstarb aber vor der Veröffentlichung des Bandes, sein Sekretär Karl Eduard Buschmann vollendete den Band durch Hinzufügen eines Nachwortes und eines umfangreichen Registers.

[5] Humboldts Schriften zum Klima sind auf Deutsch oder auf Französisch erschienen. Die Texte 18, The Temperature of Rain-Drops, und 19, On Climates Suitable for the Production of Wine, wurden in unselbstständiger Form nur auf Englisch publiziert. Die beiden deutschen Fassungen wurden dem Kosmos entnommen.

[6] Vgl. u.a. Karl-Heinz Bernhardt: »Alexander von Humboldts Auffassung vom Klima und seine Rolle bei der Gründung des Preußischen Meteorologischen Institutes«, in: Alexander-von-Humboldt-Ehrung in der DDR. Festakt und Wissenschaftliche Konferenz aus Anlaß des 125. Todestages Alexander von Humboldts. 3. und 4. Mai 1984 in Berlin, bearbeitet von Dr. Heinz Heikenroth und Dr. Inga Deters, Berlin: Akademie-Verlag 1986, S. 83–91; Karl Schneider-Carius: »Alexander von Humboldt in seinen Beziehungen zur Meteorologie und Klimatologie«, in: Johannes F. Gellert (Hg.): Alexander von Humboldt. Vorträge und Aufsätze anlässlich der 100. Wiederkehr seines Todestages am 6. Mai 1859, Berlin 1960, S. 17–24; Josef Staszewski: »Alexander von Humboldts Gedanke der isothermen Linien. Beitrag zum Alexander-von-Humboldt-Jahr 1959«, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Mathematisch-Naturwissenschaftliche Reihe VIII.4/5 (1958/1959), S. 509–517; Hans-Günther Körber: »Bemerkungen über die Erstveröffentlichung der schematischen Jahresisothermenkarte Alexander von Humboldts«, in: Forschungen und Fortschritte 33.12 (1959), S. 355–358.

[7] Alexander von Humboldt: Sämtliche Schriften. Berner Ausgabe, hg. von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich, 10 Bde., München: dtv 2019, und www.humboldt.unibe.ch/text.

[8] Das Nachwort ist zuerst als »Transversalkommentar ›Umwelt und Klima‹« im Band X der Berner Ausgabe erschienen und wurde für den vorliegenden Band überarbeitet und aktualisiert, wie die erste Fußnote im Nachwort informiert.

[9] Alexander von Humboldt: Fragmens de géologie et de climatologie asiatiques, T. 2, Paris: Gide 1831, S. 404.

[10] Alexander von Humboldt: Asie centrale: Recherches sur les chaines de montagnes et la climatologie, T. 3, Paris: Gide 1843, S. 107–108. Im Jahr 1844 übersetzte der Meteorologe Wilhelm Mahlmann den Titel Asie centrale ins Deutsche, vgl. Humboldt: Central-Asien (Anm. 1), S. 76.

[11] Alexander von Humboldt: Kleinere Schriften. Geognostische und physikalische Erinnerungen. Mit einem Atlas, enthaltend Umrisse von Vulkanen aus den Cordilleren von Quito und Mexico, Bd. 1, Stuttgart/Tübingen: Cotta 1853, S. 1.

[12] Alexander von Humboldt: »Untersuchungen über die eudiometrischen Mittel über das Verhältniß der wesentlichen Bestandtheile der Atmosphäre von A. v. Humboldt und J. L. Gay-Lussac«, in: ders.: Kleinere Schriften (Anm. 11), S. 315–370; ders.: »Ueber die isothermen Linien«, in: ebd., S. 206–314.

[13] In der Berner Ausgabe finden sich die Aufsätze verstreut in Band IV und V.

 

VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Katja Schicht: Alexander von Humboldt, ein Pionier der Klimaforschung, in: ZfL Blog, 13.8.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/08/13/katja-schicht-alexander-von-humboldt-ein-pionier-der-klimaforschung/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/202400813-01