Eine kürzlich erschienene Studie von Marc David Baer über den weitgehend vergessenen Schriftsteller Hugo Marcus (1880–1966) widmet sich dessen vielfältigen, scheinbar widersprüchlichen Identitäten: deutsch, erst jüdisch, dann muslimisch, homosexuell.[1] Es besteht kein Zweifel daran, dass sich in Hugo Marcus’ Biographie Welten kreuzten, die nicht unbedingt dazu bestimmt waren. Doch obwohl er in vielerlei Hinsicht eine erstaunliche Persönlichkeit war, passte er perfekt in seine Zeit: er war das ›Produkt‹ einer besonderen Epoche im späten 19., frühen 20. Jahrhundert in Deutschland und der Schweiz, geprägt durch das intellektuelle Klima der Weimarer Republik, in der die Frage der homosexuellen Emanzipation ebenso im Raum stand wie die Vision eines im Dialog mit Europa stehenden rationalen Islam.[2]
›Schwul‹
Für den Historiker Robert Beachy ist Deutschland, insbesondere Berlin im späten 19. Jahrhundert, der Geburtsort der »modernen Identität« des Homosexuellen.[3] Zwar war der § 175 des deutschen Strafgesetzbuches, der »widernatürliche Unzucht« unter Strafe stellt – d.h. sexuelle Beziehungen zwischen Menschen und Tieren oder zwischen Männern (aber nicht zwischen Frauen) – noch in Kraft. Doch das Kaiserreich und mehr noch die Weimarer Republik waren Orte intensiver Neuaushandlungen sexueller Identitäten, zwischen der ersten Homosexuellenbewegung, einer Explosion des gleichgeschlechtlichen Soziallebens in Bars, Wäldern und Parks und der Herausbildung eines wissenschaftlichen Nachdenkens über Homosexualitäten. Im Umfeld des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK, gegründet 1897) und besonders des von Magnus Hirschfeld geleiteten Instituts für Sexualwissenschaft (gegründet 1919) ging es darum, dank der Erklärung von Homosexualität durch ›natürliche‹ Ursachen ihre Entkriminalisierung und die Abschaffung des § 175 zu erreichen. (Tatsächlich wurden alle Artikel des deutschen Strafgesetzbuches, die homosexuelle Beziehungen unter Strafe stellten, erst 1994 vollständig abgeschafft.)
In jener Zeit ging es der Homosexuellenbewegung um eine Balance zwischen radikalen Ansätzen und dem aktivistischen Bedürfnis, sich zu zeigen, ohne die Öffentlichkeit zu sehr zu irritieren. Die erste Homosexuellenbewegung sprach lieber von Männerfreundschaften, die durchaus hoch angesehen waren, oder von Homoerotik, weniger gern von Homosexualität. Die Bezeichnung ›schwul‹ wurde von den meisten Männern der Hirschfeld-Generation abgelehnt. Auch Hugo Marcus verwendete im Gegensatz zu seinem Freund Kurt Hiller das Wort nicht zur Selbstbeschreibung, obwohl er sich sein ganzes Leben lang für die Rechte der Homosexuellen einsetzte. Um die Jahrhundertwende standen seine Schriften zur Männerfreundschaft und Spiritualität im Kontext einer fortschreitenden Etablierung des Islam in Deutschland.[4] Diese wurde von Intellektuellen vorangetrieben, die nicht nur Texte in Umlauf brachten, sondern gerade in Berlin auch Kulturzentren gründeten.[5]
Nachdem Marcus das Gymnasium in Posen (dem heutigen Poznań) abgeschlossen hatte, kam er 1898 nach Berlin und schloss sich dem WhK an, wo er sich für die Abschaffung des § 175 einsetzte. Fast täglich arbeitete er an Texten, die von »exaltierten Männerfreundschaften« erzählen, in seiner Novelle Das Frühlingsglück (1900) etwa wird die Überlegenheit homoerotischer gegenüber heterosexuellen Beziehungen behauptet. Seine Dissertation Die Philosophie des Monopluralismus (1907) fand nicht nur Zustimmung, Gerdien Jonker zitiert einige wenig schmeichelhafte Rezensionen.[6] Viele seiner Schriften wurden aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht.
Hugo Marcus hatte, wie auch Kurt Hiller, zwischen 1903 und 1906 die Vorlesungen Georg Simmels an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin besucht. Marc David Baer sieht den Einfluss Simmels auf seine Studenten offenbar vor allem in seinen progressiven, antibürgerlichen, pazifistischen, ja feministischen Stellungnahmen. Marcus teilte Simmels Überlegungen zur peripheren, aber heuristisch bedeutsamen Position, die durch den Blick des »Fremden« auf seine Aufnahmegesellschaft erzeugt wird, und insbesondere zur Stellung der Juden innerhalb der deutschen Gesellschaft. Der Religionsphilosoph Abraham Rubin geht davon aus, dass Marcus ebenso wie Simmel die strukturelle Position der Juden in ihrer jeweiligen Gesellschaft als Ort einer eigenen Wissensproduktion verstand, die für die Marginalität des Fremden wesentlich sei.[7] Auch vergleicht er die in Simmels Text Der Fremde entwickelte Auffassung des Fremden mit den Überlegungen, die Marcus 1929 in einem Vortrag in der Wilmersdorfer Moschee in Berlin vorstellte, deren Geschäftsführer er von 1923 bis 1938 war. Zwölf Jahre nach Hirschfeld und fünf Jahre vor Hiller geboren, war Hugo Marcus – Dichter, Philosoph und Aktivist – ein Mann seiner Zeit, der Teil an den Kämpfen für die sexuelle Gleichberechtigung und der Ausformung einer »modernen Identität« hatte, auch wenn er im Gegensatz zu Hiller und Hirschfeld weder Revolutionär, Sozialist noch Sozialdemokrat war, sondern ein Liberaler.
Hamid Marcus
Während Marcus das Judentum nur selten direkt beim Namen nennt, schrieb er viel über den Islam, hauptsächlich in der Moslemischen Revue und der Islamic Review. Marcus gehörte der »Lahore-Ahmadiyya-Bewegung zur Verbreitung islamischen Wissens« an, die 1923 in Berlin die erste Moschee in Deutschland errichtete. Seine Nähe zu muslimischen Studenten, die er als Tutor betreute, führte ihn zur Konversion. Für eine Neuinterpretation des Denkens von u.a. Goethe, Nietzsche, Kant und Spinoza bezog er den Islam mit ein. Seine Konversion zum Islam stellte indessen keinen Akt der radikalen Abkehr von seiner jüdischen und deutschen Identität dar, sondern ist vielmehr als Kontinuität zu verstehen. In seinem unveröffentlichten, 1951 geschriebenen Text Warum ich Moslem wurde beschreibt er den Islam als eine fortschrittliche Religion, die den Gläubigen große Freiheit lässt.
Marcus verortete seine Idee eines deutschen Islam im 18. Jahrhundert der Aufklärung. Für ihn verfolgen Islam und Demokratie ein gemeinsames Projekt der Toleranz und der geistigen Freiheit. Indem er sich von Goethes Denken inspirieren ließ und eine Vision des Islam vertrat, die auf den Werten der Freiheit und Autonomie, aber auch wissenschaftlicher Rationalität beruht, gelang es ihm, eine Kontinuität zwischen seinem deutsch-jüdischen Erbe und dem Islam herzustellen. Der Goethe des West-östlichen Divans ist für Marcus der beste Muslim seiner Zeit:
»Wenn Islam bedeutet, sich dem Willen Gottes zu ergeben, dann leben und sterben wir alle im Islam«.[8]
Die Schweiz
Nach einer Inhaftierung in Sachsenhausen 1938, über die relativ wenig bekannt ist, ging Marcus 1939 ins Exil in die Schweiz, die in seinen Augen »unter dem Banner der Menschlichkeit und nicht im Zeichen des Schwertes« stand. Zunächst führte es ihn in die französischsprachige Schweiz, dann in die Nähe von Basel. Marcus spürte den Verbindungen zwischen Calvins religiöser Vision und der Vision des Korans nach, insbesondere in Bezug auf Fragen der moralischen Strenge und einer sozialen Ordnung nach religiösen Grundsätzen. Diese Verbindungen hatte Marcus bereits früher in Form einer »deutsch-islamistischen« Synthese zwischen dem Weimarer Deutschland und dem Islam hergestellt, einem Projekt zur massiven Islamisierung Deutschlands, das er mit den Ähnlichkeiten zwischen deutschen Werten, deutschen Denkern (vor allem Nietzsche und Goethe) und den Werten des Islams rechtfertigte.
In der Schweiz veröffentlichte Marcus sowohl in der Moslemischen Revue, als auch regelmäßig in der Zürcher Homosexuellenzeitschrift Der Kreis, die vielerorts nur unter dem Ladentisch gehandelt werden konnte. Seine Geschichten über Männerfreundschaften mit gelegentlichen Bezügen zum Islam veröffentlichte er dort unter dem Pseudonym Hans Alienus. Allerdings herrschte in dieser Zeitschrift ein anderer Geist als in den Kreisen um Hirschfeld, sie setzte sich viel radikaler für die Rechte von Homosexuellen ein und distanzierte sich vom ›Dritten Geschlecht‹ und den ›Uraniern‹ des WhK. Da Marcus’ »Männerfreundschaften« nicht zu dieser redaktionellen Linie passten, wurden seine Texte nach 1956 nicht mehr veröffentlicht.
Seine letzten Lebensjahre verbrachte Hugo Marcus einsam in der Schweiz. Als er 1966 starb, war es um ihn still geworden. Da es in dem Land keine Ahmadiyya-Gemeinde gab, wurde er ohne religiöse Zeremonie bestattet.
Übersetzung: Dirk Naguschewski
Die Historikerin Sarah Kiani ist Maître-assistante in Gender Studies an der Maison d’Analyse des Processus Sociaux (MAPS) der Universität Neuchâtel und assoziierte Forscherin am Centre Marc Bloch in Berlin.
Der Text geht zurück auf Sarah Kianis Beitrag »Les multiples visages d’Hugo Marcus« in dem von Denis Thouard herausgegebenen Band »Les enfants de Simmel« (Belval: les éditions Circé 2024). Das Buch wird am 10.12.2024 unter Beteiligung von Sarah Kiani und Denis Thouard im ZfL bei der Veranstaltung »Nach Simmel, mit Simmel« präsentiert.
Die Übersetzung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der éditions Circé.
[1] Marc David Baer hat die erste umfangreiche historische Studie zu Hugo Marcus veröffentlicht. Für ihn ist Marcus ein Prisma, durch das sich die Verbindungen des Islam zum Nationalsozialismus, zum Judentum und zur Homosexualität denken lassen: German, Jew, Muslim, Gay. The Life and Times of Hugo Marcus, New York 2020. Vgl. außerdem Marc David Baer: »Muslim Encounters with Nazism and the Holocaust: The Ahmadi of Berlin and Jewish Convert to Islam Hugo Marcus«, in: American Historical Review 120.1 (2015), S. 140–171 (zur Konvertierung vgl. insb. S. 140 ff.); ders.: »Protestant Islam in Weimar Germany: Hugo Marcus and ›the message of the holy prophet Muhammad to Europe‹«, in: New German Critique 44.2, 131 (2017), S. 163–200, hier S. 164.
[2] Zu den erwähnten Texten von Hugo Marcus gehören: Hugo Marcus: Das Frühlingsglück. Die Geschichte einer ersten Liebe, Dresden/Leipzig 1900; Hugo Marcus: »The Message of the Holy Prophet Muhammad to Europe« (drei Teile), in: The Islamic Review 20 (1932), June–July, S. 222–239; August, S. 268–279; September, S. 281–286. Marcus’ Schriften über den Islam sind größtenteils in der Islamic Review erschienen, einer Ahmadiyya-Zeitschrift, deren Archiv online zugänglich ist. Seine Hommage an die Schweiz, »Switzerland and its relation to Islam«, erschien in: The Islamic Review 37.6 (June 1949), S. 26–28. Seine Erinnerungen an Simmel finden sich in: Kurt Gassen/Michael Landmann (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958, Berlin 1958, S. 273–276; dort erinnert er sich unter anderem an einen Vortrag Simmels über japanische Kunst vor der Gesellschaft für ästhetische Forschung.
[3] In seiner klassischen Studie über die erste Homosexuellenbewegung im kaiserlichen Deutschland und in der Weimarer Republik definiert Robert Beachy Deutschland und insbesondere Berlin als Ort der Erfindung einer homosexuellen Identität, vgl. Robert Beachy: Gay Berlin, Birthplace of a Modern Identity, New York 2014; zur ersten Homosexuellenbewegung in Deutschland und zum esoterischen Denken der Homophilie vgl. auch Adrian Daub: »From Maximin to Stonewall: Sexuality and the Afterlives of the George Circle«, in: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory 87.1 (2012), S. 19–34 (zu den Schriften von Marcus vgl. insb. S. 30).
[4] Gerdien Jonker nennt es eine »Theologie der Männerfreundschaft«, in: Gerdien Jonker: On the Margins. Jews and Muslims in Interwar Berlin, Leiden 2020, S. 34; vgl. besonders das Kapitel »The Sting of Desire: Hugo Marcus’s Theology of Male Friendship«, S. 129–151.
[5] Nile Green spricht von Bemühungen, aus dem Deutschen »a new Islamic language« zu machen, zit. nach Marc David Baer: German, Jew, Muslim, Gay (Anm. 1), S. 63.
[6] Vgl. Jonker: On the Margins (Anm. 4), S. 151.
[7] Abraham Rubin: »Hugo Hamid Marcus (1880–1966): The Muslim Convert as German Jew«, in: Jewish Quarterly Review 109.4 (2019), S. 598–630, hier wird auch Warum ich Moslem wurde zitiert, S. 608.
[8] Zit. nach Hugo Marcus: »Message of the Prophet to Europe « (Anm 2), S. 285.
VORGESCHLAGENE ZITIERWEISE: Sarah Kiani: Die vielen Gesichter des Hugo Marcus, in: ZfL Blog, 9.12.2024, [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2024/12/09/sarah-kiani-die-vielen-gesichter-des-hugo-marcus/].
DOI: https://doi.org/10.13151/zfl-blog/20241209-01